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Schuldspruch in Abwesenheit

Kaum ein Gerichtsverfahren in Deutschland erregte so viel Aufsehen wie der Prozess gegen die Begründer der RAF, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Bevor am 28. April 1977 das Urteil gesprochen wurde, hatten die Verteidiger mehrfach gewechselt, ein Richter den Vorsitz wegen Befangenheit niedergelegt, und die Angeklagten waren über weite Strecken vom Verfahren ausgeschlossen worden.

Von Oliver Tolmein |
    "Im längsten bundesdeutschen Nachkriegsprozess sind heute am 192. Verhandlungstag die Urteile im Stammheimer Prozess gegen die drei wichtigsten Köpfe des harten Kerns der Roten Armee Fraktion verkündet worden. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe sind heute …"

    Dreimal Lebenslang, das Urteil, das am 28. April 1977 gesprochen wurde überraschte damals niemanden, und es beeindruckte auch nicht. In dem Verfahren ging es um etliche Taten, vor allem um die Sprengstoffanschläge der Roten Armee Fraktion aus dem Mai 1972, die beispielsweise auf das Hauptquartier der US-Armee in Heidelberg und eine US-Kaserne in Frankfurt, aber auch auf das Gebäude des Springer-Verlages in Hamburg verübt worden waren. Das erste große Verfahren gegen Angehörige der RAF hat seine eher traurige Berühmtheit nicht wegen des Schuldspruchs erlangt, sondern weil es den Rechtsstaat im Ausnahmezustand zeigte. Vor Beginn des Verfahrens und in seinem Verlauf war die Strafprozessordnung erheblich verändert worden, um einen straffen Ablauf des Verfahrens sicherzustellen. Der "Spiegel" bilanzierte damals:

    "Jeder Angeklagte darf sich künftig nur noch maximal drei Verteidiger auswählen; mehrere Beschuldigte dürfen sich nicht mehr gemeinschaftlich verteidigen lassen: Verteidiger können jederzeit vom Verfahren ausgeschlossen, ihr Briefwechsel mit inhaftierten Mandanten überwacht werden. Beschränkt wurde das Erklärungsrecht des Verteidigers im Prozess, die Stellung der Staatsanwaltschaft verstärkt: es darf in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt und in bestimmten Fällen auch ohne Haftgrund verhaftet werden."

    In Abwesenheit der Angeklagten wurde nicht nur verhandelt, auch die Verkündung des Urteils fand, ein Novum in der bundesdeutschen Justizgeschichte, ohne sie statt. Baader, Ensslin und Raspe befanden sich seit knapp einem Monat im Hungerstreik und waren von der Verhandlung ausgeschlossen worden. Ihre Wahlverteidiger waren daher auch nicht im Gerichtssaal erschienen. Sie hatten tags zuvor in ein Hotel geladen, um dort ihre Sicht des Verfahrens zu erläutern.

    "Otto Schily, der Verteidiger von Gudrun Ensslin, hat den Vergleich mit der Nazi-Zeit gebracht, er hat gesagt, wenn heute jemand vor Gericht stünde, dem man vorwirft, er habe einen Anschlag auf das Reichssicherheitshauptamt gemacht, also auf die SS-Zentrale des Dritten Reiches, dem würde man doch, auch wenn dort Menschen zu Tode gekommen wären, zubilligen, dass er aus politischer Motivation gehandelt habe. Und eine solche politische Motivation nehmen die Verteidiger auch für die Angeklagten in Anspruch. Es sei der Kampf gegen den Völkermord der Amerikaner in Vietnam gewesen, politische Verbrechen zwar, aber gegen einen Völkermord."

    1977 war der Vietnamkrieg längst beendet, und die RAF und ihre Taten waren zum Thema der Innenpolitik zusammengeschrumpft. Mit neuen Attentaten, denen kurz vor der Urteilsverkündung der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei seiner Begleiter, Wolfgang Göbel und Georg Wurster, zum Opfer gefallen waren, sollte die Freilassung der inhaftierten RAF-Mitglieder erreicht werden. Ein wichtiges Thema in der öffentlichen Diskussion waren kurz vor Verfahrensende bekannt gewordene Abhörmaßnahmen gegen die Wahlverteidiger, für die es keine gesetzliche Grundlage gab. Die Bilanz des Verfahrens fiel in der Öffentlichkeit unterschiedlich aus. Charakteristisch für vorsichtige Bedenken ist der Kommentar, der nach Prozessende in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht wurde.

    "Der Nachweis der Täterschaft ist so sicher geführt worden, wie es eben möglich ist. Aber ein Nachweis unserer Justiz, einen solchen Prozess vollends einwandfrei zu führen, steht noch aus. Allerdings auch ein Nachweis der Fähigkeit unserer Gesellschaft, die Justiz bei der Bewältigung des Terrors nicht allein zu lassen."

    Gegen das Urteil legten die Verteidiger Revision ein. Noch bevor der Bundesgerichtshof verhandeln und entscheiden konnte, versuchte die RAF im Deutschen Herbst ihre letzte große Freipressungsaktion, die Geiselnahme erst des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, dann die Entführung der Lufthansamaschine "Landshut. Die "Landshut" wurde von der GSG 9 befreit, Schleyer von der RAF ermordet, die drei Angeklagten wurden tot in ihren Zellen aufgefunden. Die lebenslange Freiheitsstrafe gegen die Gründer der RAF wurde daher niemals rechtskräftig.