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Schule in Coronazeiten
"Für den hybriden Unterricht ist Deutschland noch nicht vorbereitet“

Die Folgen des ersten Lockdowns seien für einzelne Schüler wirklich dramatisch, sagte der Bildungsforscher Andreas Schleicher im Dlf. Bei der Digitalisierung sei noch viel zu tun, sowohl bei der Ausstattung als auch beim Personal. Den Präsenzunterricht hält er vor allem aus sozialen Gründen für alternativlos.

Andreas Schleicher im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
Maskenpflicht in der Schule
Der Bildungsforscher Andreas Schleicher hält den Präsenzunterricht in Deutschland auch in Zeiten von Corona für alternativlos (imago / MedienServiceMüller)
Über die Situation an den Schulen unter Corona-Pandemie-Bedingungen wird in Deutschland zurzeit viel diskutiert. Lehrergewerkschaften und Berufsverbände fordern einen besseren Schutz der Lehrkräfte – etwa durch hybriden Unterricht (die Kombination von Präsenz- und Fernunterricht). Auch die Bundeselternschaft macht sich Sorgen um die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler, berichtet Dlf-Hauptstadtkorrespondentin Claudia von Laak.
Zwei Hände in blauen Handschuhen ziehen vor rotem Hintergrund eine Spritze auf.
COVID-19 - Wettlauf um den Impfstoff
Im Wettlauf um die Entwicklung eines Corona-Impfstoffs haben das deutsche Unternehmen Biontech und sein Partner, der US-Pharmakonzern Pfizer, ein vielversprechendes Zwischenergebnis gemeldet. Auch andere Projekte sind schon sehr weit.
Etwas anders sieht das Andreas Schleicher, Bildungsforscher und Direktor für Bildung bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Er hält es für elementar, dass die Schulen geöffnet bleiben. Die Verknüpfung von Bildung und Gesundheitsvorsorge wird in Deutschland aus seiner Sicht vorbildlich umgesetzt. Das Thema Digitalisierung allerdings nicht. Er macht darauf aufmerksam, dass sich die sozialen Disparitäten bei Schülerinnen und Schülern in Deutschland durch den ersten Lockdown noch deutlich verstärkt hätten.
Eine Lehrerin mit Mund- und Nasenschutz steht in einer Grundschule. Foto: Sebastian Gollnow/dpa | Verwendung weltweit
Schulen in der Coronakrise - "Wechselunterricht ist verantwortungsvoll"
Der Gesundheitsschutz komme derzeit an den Schulen zu kurz, kritisierte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe im Dlf. Sie plädierte für den vom Robert-Koch-Institut ab einer Inzidenz von 50 empfohlenen Wechselunterricht.
Jörg Münchenberg: Herr Schleicher, wie nehmen Sie denn die aktuelle Debatte hierzulande über die Anti-Corona-Maßnahmen an den Schulen wahr? Wird da ein Risiko unterschätzt?
Andreas Schleicher: Ich glaube nicht. In der großen Zahl der Schulen ist ein Regelunterricht weiterhin möglich. Und ich glaube, es ist auch sehr wichtig, dass junge Menschen die Chance haben, am Unterricht teilzunehmen. Dort wo der Unterricht nicht möglich ist, da muss man andere Maßnahmen treffen. Das wird ja auch getan. Aber ich denke, das betrifft eine relativ gesehen kleine Zahl von Schulen.
"Die Bildung der Jüngsten muss die Priorität sein"
Münchenberg: Würden Sie so weit gehen und sagen, da ist auch ein bisschen Alarmismus dabei? Die Rede ist jetzt von 300.000 Schülern, die nicht an Corona erkrankt sind oder positiv getestet worden sind, sondern die sich quasi in Quarantäne befinden, bei einer Gesamtschülerzahl von über elf Millionen.
Schleicher: Ja, genau! Ich denke, das ist ein relativ kleiner Teil der Schüler, wo man Vorsichtsmaßnahmen treffen muss, und ich denke, die Quarantäne-Maßnahmen dort sind dann auch richtig. Aber der große Teil der Schüler, der kann weiterhin am Unterricht teilnehmen, und ich glaube, das ist unglaublich wichtig. Es kann ja nicht sein, dass die Restaurants offen sind und die Schulen geschlossen. Ich denke, da muss man die Risiken abwägen, und ich glaube, die Bildung der Jüngsten, das ist unsere Zukunft. Das muss die Priorität sein und das kann es auch. Ich denke, das Risiko, das Infektionsrisiko in den Schulen ist, relativ gesehen, relativ klein bei den Kindern.
Vorbild bei der Verknüpfung von Gesundheitsvorsorge und Bildung
Münchenberg: Es gab jetzt auch umfangreiche Tests über das Ansteckungspotenzial etwa in den Kitas und da haben die Studien ergeben, das ist äußerst gering. An den Schulen wird ja auch viel gelüftet, es gibt vielerorts eine Maskenpflicht. Warum macht das bei den Lehrerverbänden keinen Eindruck, um es mal so zu formulieren?
Schleicher: Ich denke, das sind die Zahlen, daran muss man sich orientieren. Vor allen Dingen muss man ja auch sehen, was passiert denn, wenn die Schulen geschlossen sind. Wo sind die Schüler dann? – Ich denke, die Schule bietet noch einen Rahmen, wo man das alles vernünftig organisieren kann, und das wird, glaube ich, auch in der überwiegenden Zahl der Schulen wirklich gut umgesetzt. Da ist Deutschland wirklich ein Vorbild auch international, um die Gesundheitsversorgung und die Bildung vernünftig miteinander zu verkoppeln. Auch die überwiegende Zahl der Lehrkräfte macht da ja mit. Ich denke, die Krankmeldungen in Deutschland sind auch relativ gering dort. Ich glaube, da ziehen eigentlich alle zum Teil an einem Strang und das ist, glaube ich, wichtig.
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Münchenberg: Auf der anderen Seite: Gerade die Lehrerverbände kritisieren ja die Maßnahmen und sagen, wir wollen eigentlich strengere Auflagen. Würden Sie sich manchmal von den Verbänden vielleicht auch eine konstruktivere Haltung wünschen?
Schleicher: Noch einmal: Ich glaube, die überwiegende Zahl der Lehrer ist wirklich ganz konstruktiv da engagiert, auch unter schwierigen Umständen. Man muss ja auch sagen: Die Alternative, die Digitalisierung, der hybride Unterricht, da ist Deutschland einfach noch nicht richtig vorbereitet. Da hat die Krise Deutschland kalt erwischt. Da ist unglaublich viel Nachholbedarf und auf diese Alternativen kann man sich zurzeit noch nicht verlassen. An der Lösung dieser Aufgaben arbeiten viele Lehrer wirklich ganz toll mit.
Deutschland bei der Digitalisierung weiterhin im unteren Drittel
Münchenberg: Auf der anderen Seite haben Sie gesagt, weil Sie gerade die digitale Ausstattung der Schulen ansprechen, dass Deutschland im Augenblick ganz gut durch die Krise fährt, auch mit dem Umgang an den Schulen. Aber was Digitalisierung angeht, da sind andere ja deutlich besser aufgestellt.
Schleicher: Absolut! Ich denke, das fängt bei der technischen Ausstattung an, aber auch bei der Vorbereitung des Personals. Da ist Deutschland weiterhin im unteren Drittel. Da ist unglaublich viel zu tun. Das ist aber auch nicht nur eine Aufgabe für Corona, sondern auch für die Zukunft. Die Digitalisierung bietet uns ja Möglichkeiten, wirklich auch ganz anders zu lernen. Lernen ist kein Ort, Lernen ist eine Aktivität und die Digitalisierung kann das in vielerlei Hinsicht unterstützen, und ich denke, da ist noch sehr viel zu tun. Bei der technischen Ausstattung hat der Digitalpakt jetzt einen ersten Anfang gemacht, aber da braucht man wirklich gute Plattformen, da braucht man Unterrichtsmaterialien, die auch wirklich in die Lehrpläne voll integriert sind. Da sind die Schüler schon sehr viel weiter als die Schulen.
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"Die Folgen sind für die einzelnen Schüler wirklich dramatisch"
Münchenberg: Herr Schleicher, Sie haben dafür plädiert, die Schulen weiter offen zu halten. Welche Erkenntnisse gibt es denn jetzt aus Sicht der OECD über die Folgen des ersten Lockdowns im Frühjahr, bei dem ja auch in Deutschland die Schulen und die Kitas für mehrere Wochen geschlossen worden sind?
Schleicher: Die Folgen sind für die einzelnen Schüler wirklich dramatisch. Natürlich Schüler, die gelernt haben zu lernen, die auch die Unterstützung aus dem häuslichen Umfeld haben, guten Zugang zur Technologie; für die war das irgendwo noch machbar. Aber es gibt sehr, sehr viele Schüler in Deutschland, die diese Voraussetzungen nicht hatten und die abgehängt wurden. Die sozialen Disparitäten sind durch diesen ersten Lockdown enorm verstärkt worden. Das gilt nicht nur für Deutschland, aber das gilt auch für Deutschland, und deswegen ist es ja gerade so wichtig, diesen Fehler nicht noch mal zu machen.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Soziale und ökonomische Kosten des ersten Lockdowns
Münchenberg: Haben Sie da genauere Zahlen?
Schleicher: Ja! Sie können davon ausgehen, dass der erste Lockdown bei den Schülern vielleicht zum Lebenseinkommensverlust von drei Prozent führen wird. Für Deutschland kostet das Hunderte von Milliarden Euro, die an Wirtschaftskraft dort verloren gehen werden, weil Schüler, die weniger lernen, im Leben später weniger produktiv sind, und das sind nur die ökonomischen Kosten. Ich denke auch an die sozialen Kosten. Schule ist ja nicht nur Transaktion von Wissen, was man irgendwo digital machen kann, sondern da geht es in erster Linie um Beziehungsarbeit zwischen Lehrkräften, zwischen Schülern, unter den Schülern. Wenn das verloren geht, dann hat das enorme persönliche, aber auch gesellschaftliche Kosten.
"Die sozialen Disparitäten werden sich sehr schwer ausgleichen lassen"
Münchenberg: Das heißt, dieser Lockdown wird sich letztlich auch bei den Pisa-Vergleichen deutlich niederschlagen?
Schleicher: Ich denke vor allen Dingen in noch größeren Disparitäten. Das ist für Deutschland die große Herausforderung. Die sozialen Disparitäten in den Bildungsleistungen bleiben weiterhin groß und das hat sich da sicherlich noch mal negativ ausgewirkt. Das wird sich auch sehr schwer ausgleichen lassen. Das sehen wir auch sonst dort, wo Lernen ausfällt. Kompensation ist sehr, sehr schwierig. Allein jetzt im Home-Unterricht, das bringt, relativ gesehen, sehr wenig. Das haben wir auch im ersten Lockdown sehr deutlich gesehen.
Und vor allen Dingen, ich denke, das Wichtigste ist: Im ersten Lockdown waren ja die Zahlen noch gar nicht da. Da wussten wir wenig über das Ansteckungsrisiko. Das ist jetzt wesentlich besser etabliert und ich denke, es ist einfach möglich, den Präsenzunterricht zu machen, zumindest in der großen Zahl der Schulen, und ich denke, das ist doch eigentlich das Ermutigende.
Münchenberg: Auf der anderen Seite argumentiert ja gerade der Lehrerverband, die ja auch die Erfahrungen haben konkret mit den Schülern, die sagen, der hybride Unterricht, die Trennung zwischen Online- und Präsenz-Unterricht, die würde eigentlich ganz gut funktionieren. Was für Erkenntnisse haben Sie da?
Schleicher: Das sehe ich anders. Ich glaube wirklich, das wird ein relativ kleiner Teil. Und wie gesagt: Der hybride Unterricht funktioniert gut bei Schülern, die die Voraussetzungen haben. Die können selbstständig ihre Bildungsziele setzen, die können im Grunde auch sich darauf verlassen, dass sie irgendwo ein unterstützendes Umfeld haben zuhause. Da funktioniert der hybride Unterricht, aber das ist nicht überall der Fall. Gerade bei den Kindern aus sozial ungünstigem Umfeld, da funktioniert das nicht oder nur sehr unzureichend. Da sind eigentlich die Zahlen eher enttäuschend.
"Man muss flexibel und offen sein"
Münchenberg: Die Frage ist ja, Herr Schleicher, ob die Politik standhaft bleibt, wenn jetzt der Druck von der Lehrerschaft, aber auch von den Gewerkschaften weiter wächst.
Schleicher: Ja! Ich denke, es ist auch eine Frage, wie sich das Infektionsrisiko weiterentwickelt. Ich denke, da muss man flexibel und offen sein. Ich glaube, das ist wirklich die Frage der Stunde, inwieweit das Schulsystem wirklich flexibel auf die gegebenen Umstände vor Ort reagieren kann. Das ist eine Frage, die muss oft wirklich in der Schule im Kontext, im lokalen Kontext entschieden werden, und ich denke, die Priorität von Bildung, das hat die Politik gut aufgegriffen. Das gilt ja nicht nur für Deutschland und Frankreich, wo das Infektionsrisiko noch deutlich höher ist. Auch die Zahlen sind dort wirklich eine ganz andere Dimension. Die Schulen bleiben weiterhin offen. Das hat man aus dem ersten Lockdown hier gelernt.
Münchenberg: Herr Schleicher, ganz kurz noch. Verlängerung der Weihnachtsferien, aus Ihrer Sicht akzeptabel?
Schleicher: Das kann man machen. Aber wie gesagt: Auch dann muss man sehen, da fällt Lernen weiter aus. Und ich denke, man muss sich wirklich darum kümmern, wie unterstützt man die Kinder, die keine Alternativangebote haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.