Die Corona-Pandemie wird Auswirkungen bis ins kommende Schuljahr haben – darin sind sich alle Experten einig. "Wohl selten war die Vorbereitung des kommenden Schuljahres so wichtig wie jetzt", meint Bildungsreferent Martin Pfafferott von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).
Welche Szenarien für den Schulunterricht nach den Sommerferien gibt es?
Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung hat eine Expertenkommission Empfehlungen erarbeitet. Demnach sind drei Szenarien für die Schulen nach den Sommerferien denkbar, die je nach Infektionsgeschehen im Laufe des nächsten Schuljahres auch wechseln könnten. Darauf sollten Schulen, Eltern und Schülerinnen und Schüler vorbereitet sein, so die Experten.
1. Rückkehr in den Präsenzunterricht
Die Bildungsministerien aller Bundesländer streben so schnell wie möglich die Wiederaufnahme des schulischen Regelbetriebs an. Das hat die Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossen. Schülerinnen und Schüler hätten ein Recht auf Bildung, und dieses Recht könnte am besten in einem möglichst normalen Schulbetrieb umgesetzt werden, teilte KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD) mit.
Auch die Expertenkommission der FES sieht die Rückkehr in den Präsenzunterricht als ein mögliches Szenario, betont allerdings, die Schulen sollten nicht von einer Wiederkehr des gewohnten Regelbetriebs ausgehen. Denn sie geht ausdrücklich davon aus, dass Kinder ansteckend sein können. Zwar soll auf eine Klassenaufteilung und auf Abstandhalten verzichtet werden, wenn bei geringer Infektionstätigkeit eine effektive Kontaktverfolgung möglich ist. Voraussetzung sei aber die Bildung fester Lerngruppen, die sich auch in den Pausen nicht mischen sollten. Dieses Vorgehen erscheine in erster Linie für die Primarstufe geeignet, so die Kommission. In den Sekundarstufen sollte es dann gelten, wenn "weitestgehend feste Lerngruppen" gebildet werden können.
Mehrere medizinische Fachgesellschaften hatten in einer gemeinsamen Stellungnahme ebenfalls gefordert, Kindergärten und Grundschulen zeitnah wieder zu öffnen – ohne Einschränkungen wie Kleinstgruppenbildung, Abstandswahrung oder Maskentragen. Entscheidender als die individuelle Gruppengröße sei die Frage der nachhaltigen Konstanz der jeweiligen Gruppe und Vermeidung von Durchmischungen. Die Mediziner weisen explizit darauf hin, dass zahlreiche Erkenntnisse gegen ein erhöhtes Ansteckungsrisiko durch Kinder sprächen.
Sachsen geht diesen Weg bereits. In Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt sollen alle Grundschüler ab dem 8. Juni wieder täglich im Klassenverband unterrichtet werden, in Nordrhein-Westfalen ab 15. Juni, in Baden-Württemberg spätestens ab Ende Juni. Die Landesregierung in Stuttgart stützt sich bei ihrer Entscheidung auf erste Ergebnisse einer Untersuchung der Universitätskliniken Heidelberg, Freiburg und Tübingen, wonach Kinder unter zehn Jahren kein besonderes Infektionsrisiko haben.
2. Mischung aus Präsenzunterricht und Fernunterricht
Viele Fachleute und Politiker sind der Ansicht, dass regulärer Präsenzunterricht für einen längeren Zeitraum nicht möglich sein wird, weil die Ansteckungsgefahr bei Kindern nicht klar ist und gleichzeitig die Übertragung des Coronavirus durch Aerosole im Klassenzimmer ein Problem sein kann. Präsenzunterricht ist demnach nur in kleinen Gruppen und unter Wahrung der Abstandsregeln möglich. Das bedeutet gleichzeitig, dass nicht alle Schüler jeden Tag in die Schule gehen können und daher Homeschooling und E-Learning zweites Standbein des Unterrichtskonzeptes sein müssen. Bis zu den Sommerferien ist diese Mischform in den meisten Bundesländern die gängige - mit allen Schwächen, die der digitale Fernunterricht vielerorts noch hat. Sollte dieses Szenario längerfristig oder auch je nach Infektionsgeschehen immer mal wieder nötig sein, sind digitale Lernkonzepte und entsprechende technische Infrastruktur gefragt.
Für das Verhältnis von Präsenz- und Fernunterricht sollte laut FES-Expertenkommission gelten: "Mit steigendem Alter der Schülerinnen und Schüler nimmt der Präsenzunterricht ab und der Fernunterricht zu."
3. Fernunterricht als Regelfall
Wenn etwa wegen hoher Infektionstätigkeit oder drohender Überlastung der Intensivstationen eine Reduktion der Neuinfektionszahlen angestrebt ist, sollte in den Schulen abhängig vom bundesweiten und regionalen Infektionsgeschehen kein Präsenzunterricht stattfinden, empfiehlt die FES-Kommission. Kontinuierlicher Fernunterricht zum Beispiel mit digitaler Anwesenheitspflicht auf Basis eines Stundenplans sei dann besonders wichtig.
Möglich ist zudem, dass einzelne Schulen wegen Coronafällen vorübergehend schließen müssen. Auch dann müsste kurzfristig wieder komplett auf Homeschooling umgestellt werden und auch dafür braucht es ein Konzept und die nötigen digitalen Mittel.
Eine bundesweite Vorgehensweise zur Nutzung von Online-Tools sowie zur Umsetzung digitaler Unterrichtskonzepte gebe es nicht, bemängelt der Branchenverband Bitkom. Vereinzelt böten erste Bundesländer Online-Unterrichtsangebote an oder unterstützten den Einsatz digitaler Lerninhalte.
Viel hängt aber offenbar vom Engagement einzelner Lehrer oder Eltern ab. "Schulen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben, können digitales Lernen leichter ermöglichen. Andere – und das sind nicht wenige – betreten Neuland", schreiben die Fachleute der FES-Kommission.
Der SPD-Politiker und Epidemiologe Karl Lauterbach beklagt auf Twitter schon seit Wochen, dass zu wenig getan werde, um digitalen Unterricht und hochwertiges Homeschooling vorzubereiten. Noch immer gebe es viele Schulen, die bloß auf das Ende der Pandemie und das Signal "alles wie früher" warteten - das aber nicht kommen werde. Dabei gehe wertvolle Zeit verloren. Die Sommerferien müssten genutzt werden, um die Technik und modernes Unterrichtsmaterial vorzubereiten, fordert er. Lehrer müssten in der Zeit in der nötigen digitalen Technik geschult werden. Allen Familien mit Kindern müsse schnelle Netzgeschwindigkeit und Hardware garantiert werden.
Mit dieser Forderung steht er nicht alleine da. Auch der Bundeselternrat verlangt Fortbildungen der Lehrer in den Sommerferien. Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied in der Lehrergewerkschaft GEW, weist jedoch darauf hin, dass es derzeit keine nützlichen Fortbildungsangebote gebe. Von verpflichtenden 0815-Angeboten in den Sommerferien halte sie nichts, betonte sie im Dlf. Der erste Schritt müsse sein zu klären, wie das Online-Lernen für die Schüler überhaupt aussehen soll und welche Tools dafür sinnvoll seien. Erst dann könnten sinnvolle Fortbildungsangebote folgen.
Damit Schülerinnen und Schüler zu Hause Aufgaben digital empfangen und erledigen und dabei trotzdem mit ihren Lehrern und Mitschülern kommunizieren und interagieren können, ist eine Art virtuelles Klassenzimmer nötig. Moodle, Padlet, Microsoft Teams, Google Classroom - an kommerziellen und nicht-kommerziellen digitalen Lernplattformen, die solche virtuellen Räume für Schulklassen anbieten, mangelt es nicht. Doch sich einen Überblick über Vor- und Nachteile zu verschaffen und das Passende zu finden, ist nicht leicht. Schulen müssen sowohl technische und datenschutzrechtliche Voraussetzungen für die Nutzung digitaler Plattformen erfüllen als auch didaktische Konzepte haben, um die Plattformen sinnvoll einsetzen zu können. Dennoch betont die Expertenkommisson der FES, die Gestaltung und Begleitung des Fernunterrichts sei originäre Aufgabe der Schule sowie der Lehrerinnen und Lehrer. Das folge aus dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag.
Das Hasso-Plattner-Institut (HPI) hat angeboten, seine mit Geld vom Bundesbildungsministerium geförderte Schul-Cloud in allen Bundesländern zu nutzen – als eine einheitliche Lösung. Die Schul-Cloud des HPI war ursprünglich dafür entwickelt worden, den Unterricht mit interaktiven Medien und Lernmethoden zu bereichern. Schulen in drei Bundesländern nutzen sie. In der Coronakrise hat das HPI das Konzept erweitert, um Fernunterricht zu ermöglichen. Eine vom saarländischen Datenschutzbeauftragen gemeldete Datenschutzlücke hat das HPI nach eigenen Angaben inzwischen geschlossen.
Doch viele Bundesländer wollen nicht auf das Angebot des HPI zurückgreifen und setzen lieber auf eigene Lösungen - die aber vielerorts noch nicht einsetzbar sind oder nicht zufriedenstellend funktionieren. Nordrhein-Westfalen etwa verweist darauf, dass es mit Logineo eine landeseigene Plattform für digitales Arbeiten und sicheres Kommunizieren entwickelt habe. Vor dem Einsatz von Logineo schrecken wiederum viele Lehrer aus datenrechtlichen Gründen zurück: Wer auf seinem privaten Rechner mit Logineo arbeiten muss oder möchte, müsse die Einhaltung hoher Sicherheitsstandards zusichern, sonst hafte er für etwaige Schäden, kritisiert der Verband Lehrer NRW.
Laut einer Umfrage der Lehrergewerkschaft GEW kurz vor der Corona-Pandemie nutzen Lehrerinnen und Lehrer in mehr als 90 Prozent aller Fälle ihre privaten Geräte für für dienstliche Zwecke, also auch für die Kommunikation mit den Kollegen, mit der Schulleitung und für administrative Aufgaben. "Nur jede vierte Lehrkraft sieht sich durch den Arbeitgeber, also durch die Länder, zum Datenschutz und zum Umgang mit dem Datenschutz ausreichend unterstützt", sagte Ansgar Klinger von der GEW im Dlf. Während der Coronakrise habe sich das Problem durch die Nutzung von Apps und von Plattformen nochmal gesteigert. Klinger fordert zudem die Kultusbehörden auf, Hinweise und Orientierung bei der Auswahl geeigneter E-Learning-Angebote zu geben. "Man könnte beispielsweise auch einmal über eine Bund-Länder-Arbeitsstelle nachdenken, die solche Apps prüft und entsprechend zulässt."
Kinder, die sich zu Hause virtuelle Klassenräume einloggen sollen, brauchen dafür die entsprechende technische Ausstattung - Laptops, Tablets, Smartphones. Doch nicht alle Kinder verfügen über solche Geräte und können auch damit umgehen. Wie Daten des sozioökonomischen Panels zeigten, sei in bildungsfernen Haushalten oft die Ausstattung schlechter, es gebe für Kinder seltener Zugang zu einem ruhigen Arbeitsplatz, einem eigenen Zimmer oder Schreibtisch, erklärte Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft im Dlf. Auch der Zugang zu digitalen Endgeräten sei dort oft nicht möglich. Ausschlaggebend für den Lernerfolg im Homeschooling sei außerdem der Bildungsgrad der Eltern, so Plünnecke weiter: "Wir sehen große Unterschiede bei der digitalen Kompetenz, also bei der Frage, ob Eltern ihren Kindern entsprechende Lernmöglichkeiten im Internet eröffnen können."
Es besteht deshalb die Gefahr, dass die Coronakrise die Ungleichheit von Bildungschancen fördert. Auch
OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher sagte im im Dlf
, der Umgang mit dieser Ungleichheit sei mit die größte Herausforderung, vor der die deutschen Schulen derzeit stünden.
Ein Schritt zu mehr Chancengleichheit könnten beispielsweise Leihgeräte sein, die über den Digitalpakt Schule finanziert werden können, schlägt Axel Plünnecke vor. Der wurde gerade um 500 Millionen Euro aufgestockt und soll Schulträger damit jetzt auch - anders als ursprünglich vorgesehen - in die Lage versetzen, Klassensätze von Laptops oder Tablets anzuschaffen, die dann nach Bedarf ausgegeben werden sollen. Die Schulen selbst sollen laut Bundesbildungsministerin Anja Karlizcek (CDU) die Kriterien und die Verteilung der Geräte an die Schülerinnen und Schüler festelegen. Das Problem, dass viele Lehrer und auch Schüler gar nicht ausreichend mit dem richtigen Umgang mit den digitalen Geräten und Angeboten vertraut sind, löst das allerdings noch nicht.