Das Interview in voller Länge:
Daniel Heinrich: Die OECD hat eine Studie zur Situation der Bildung in Deutschland herausgegeben. Nur vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts gibt der Staat in Deutschland für Bildung aus. Das ist weniger als der OECD-Durchschnitt. Trotzdem herrschte in Berlin bei der Vorstellung der Studie eitel Sonnenschein.
Am Telefon ist Marlis Tepe, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Frau Tepe, die Jugendarbeitslosigkeit ist unten, der Übergang von Ausbildung in Beruf klappt gut. Im Bildungsministerium kann man sich doch jetzt eigentlich zurücklehnen, oder?
"In fast allen Bundesländern fehlt es an Grundschullehrern"
Marlis Tepe: Nein, das kann man nicht. In der Studie ist ja gesagt worden, dass die Grundschullehrerinnen schlechter bezahlt werden als im Durchschnitt, und das trifft bei uns auf eine große Realität, denn in fast allen Bundesländern fehlt es an Grundschullehrern, nicht nur in einem Land, sondern in nahezu allen, und das ist ein großes Drama für die Erziehung, weil es kommt ja auf den Anfang an und da gut qualifizierte Lehrkräfte zu haben, ist schon notwendig.
Heinrich: Wenn wir uns mal ein bisschen die Zahlen angucken: In Deutschland gibt der Staat vier Prozent des BIP in Bildung aus. Die Ausgaben für Studenten, die sind seit 2008 runter vor dem Hintergrund der Integration zum Beispiel von Flüchtlingen. Wie ist denn das zu erklären, dass man da so wenig investiert?
"Mehr Geld für Bildung ermöglichen"
Tepe: Die Länder sprechen uns gegenüber immer von der Schuldenbremse. Aufgrund der Schuldenbremse, die ja in allen Bundesländern oder in vielen Bundesländern jetzt auch in die Landesverfassung geschrieben ist, fehlt es ihnen an Geld. Sie haben einen Stellenabbau-Pfad begonnen, um 2020 dann die Schuldenbremse einhalten zu können. Das macht sich jetzt sehr negativ bemerkbar.
Heinrich: Aber das kann es ja nicht gewesen sein, oder? Da muss sich doch was ändern?
Tepe: Ja, da muss sich was ändern. Wir wollen gerne, dass die Bundesregierung mehr Geld für Bildung ermöglichen kann. Das kann sie über die Lockerung des Koopperationsverbotes. Das kann sie natürlich auch, indem sie den Ländern über dem Bund-Länder-Ausgleich mehr Geld zur Verfügung stellt - über das, was jetzt ja gerade ansteht: die Erbschaftssteuer -, damit sie mehr für Bildung tun können.
Heinrich: In Deutschland ist Bildung immer noch abhängig von der Herkunft. Warum ändert sich denn nichts daran seit Jahren?
"Diese Kinder sind im Grunde genommen mehrfach diskriminiert"
Tepe: Das ist sicherlich ein sehr, sehr langsamer Prozess. Ich vermute, dass wir nach der Pisa-Studie uns hier sehr stark auf Mathematik und Deutsch fokussiert haben. Und das, was Kinder benötigen, die eine anregungsarme Herkunft haben, deren Eltern wenig Geld haben, vielleicht auch wenig Zeit haben für die Kinder, um diese Kinder zu unterstützen, braucht man eine sehr anregungsreiche Bildung. Und gerade was diese Kinder nicht kennen, Bücher lesen, Kultur pflegen, Theater spielen, sich selber erproben, mutiger werden, dafür ist immer weniger Zeit übrig geblieben.
In den letzten zehn Jahren konnte ich, was meine Herkunftsschule betrifft, an der ich selber zuletzt gearbeitet habe, feststellen, dass wir diese ganzen Arbeitsgemeinschaften, die auch diese Kinder besonders fördern, nicht mehr anbieten konnten. Ich glaube, das ist was Wesentliches. Es ist was Wesentliches, Klassen kleiner zu gestalten und selber als Schule ins Leitbild zu übernehmen, als Ministerium ins Leitbild zu übernehmen, in die Lehrerausbildung ins Leitbild zu übernehmen, daran zu arbeiten, dass für die Kinder, die im Grunde genommen zum Teil ja mehrfach diskriminiert sind, also Kinder, die aus armen Verhältnissen kommen, die häufig aus alleinerziehenden Situationen kommen, und wenn dann noch dazu kommt Kinder mit Migrationshintergrund, die auch arm sind und deren Eltern oder Großeltern vielleicht sogar Analphabeten waren, dann haben wir hier eine Gemengelage, in der besonders viel Aufmerksamkeit nötig ist.
Tepe: Schlechte Räume wirken sich negativ auf das Schul-Klima aus
Und wir plädieren ja für multiprofessionelle Teams in den Klassen und wir plädieren vor allen Dingen für mehr Zeit und Raum. Wir brauchen Zeit, um mit den Eltern zu sprechen, wir brauchen Zeit, um miteinander über die Kinder in den Schulklassen zu sprechen, auch mit den psychologischen Beraterinnen und Beratern. Oder man muss sich ja im Stadtteil dann auch oft vernetzen, wenn es Hilfeplanung für Schülerinnen und Schüler gibt. Und ich habe in letzter Zeit mehrfach Schulen besucht und gesehen, wie dramatisch negativ sich schlechte Räume auf das Klima in einer Schule auswirken. Wenn die Fensterbänke runtergerissen sind, wenn die Toiletten stinken, dann fühlt sich niemand wohl.
Ich war gleichwohl dann auch in einer Schule im gleichen Bundesland, Nordrhein-Westfalen, wo die Schule sich entschieden hatte, die schönste Toilette zu machen, die es gibt. Das hört sich banal an, aber es war eine so saubere Mädchen- und Jungentoilette, die hatte aber einen Vorraum, in dem eine Betreuung saß mit einem Glaskasten. Das sind so Kleinigkeiten, die unheimlich wichtig sind.
"Der Druck von den Eltern ist vielleicht nicht groß genug"
Heinrich: Warum kommt da aus der Politik nichts?
Tepe: Ja, weil der Druck nicht groß genug ist vielleicht von den Eltern?
Heinrich: Wie könnte man den erhöhen, den Druck?
Tepe: Wir wollen gerne mit Eltern und Schülerschaft und den Lehrkräften zusammen ins Gespräch gehen, um dann deutlich zu machen, wie soll Schule sein, damit jedes Kind gut vorankommt. Und wenn man dann überlegt, was brauchen wir dafür in der Qualifizierung der Lehrkräfte zusätzlich, kleinere Klassen zusätzlich, damit die Schülerinnen und Schüler auch zu Wort kommen können, andere Räume, damit sie auch differenziert arbeiten können, das wollen wir gerne mit Eltern und Schülern zusammen der Politik vortragen. Und dann müssen sie doch irgendwann aufwachen und dürfen nicht unsere Schülerinnen und Schüler so vernachlässigen.
Heinrich: Das sagt Marlis Tepe, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. Vielen Dank, Frau Tepe.
Tepe: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.