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"Erziehung findet im Elternhaus nicht mehr statt"

Die Lehrer einer Gemeinschaftsschule in Saarbrücken haben einen Hilferuf an die Politiker des Saarlandes geschickt. Die Lehrkräfte seien an den Grenzen ihrer Belastbarkeit angelangt. Das Verhalten der Schüler gegenüber Autoritäten sei geprägt durch Respekt- und Disziplinlosigkeit, sagte Schulleiterin Pia Götten im Dlf. "Wir brauchen mehr Unterstützung."

Pia Götten im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Eine Schülerin zeigt während des Unterrichts einer Mitschülerin ihr Klappmesser
    Jeder vierte, fünfte Lehrer wurde laut verschiedener Studien schon einmal von seinen Schülern attackiert (dpa / Oliver Berg)
    Christoph Heinemann: Wer behauptet, Deutschland sei ein reiches Land, hat lange keine Schule mehr besucht. Nicht nur die Bausubstanz ist häufig unzumutbar; auch die Umgangsformen. Cracknutte, Hurensohn, Wichser - Beschimpfungen dieser Art, außerdem Gewalt, Gewaltdrohungen, Drogenkonsum, Arbeitsverweigerung - Alltag in der Gemeinschaftsschule Bruchwiese in Saarbrücken. 86 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind nicht deutscher Herkunft. Unabhängig von Sprachfähigkeiten und sozialem Verhalten sollen aber alle gemeinsam unterrichtet werden.
    Im Sommer schrieben die Lehrerinnen und Lehrer einen Brief an die Ministerpräsidentin und den Bildungsminister. Darüber berichtete gestern die "Bild"-Zeitung. Gestern Nachmittag haben wir Pia Götten erreicht. Sie leitet die Gemeinschaftsschule Bruchwiese in Saarbrücken. Ich habe sie gefragt, warum die Lehrer den Brief geschrieben haben.
    Pia Götten: Zunächst einmal möchte ich vorweggeben, dass der Brief von Juli 2017, der an den Minister und die Ministerpräsidentin adressiert war, auf mir nicht bekannte Weise in die lokale Presse gelangt ist. Wir haben den Brief geschrieben, weil wir im vergangenen Schuljahr an die Grenzen unserer Belastbarkeit gestoßen sind. Dies hat natürlich mit dem Wandel der Gesellschaft zu tun. Wir Lehrer stellen fest, dass der Erziehungsauftrag oftmals nicht mehr stattfindet im Elternhaus, dass das Verhalten gegenüber Autoritäten teilweise geprägt ist durch Respektlosigkeit und Disziplinlosigkeit. Dagegen vermissen wir Pünktlichkeit, Vorhandensein von Arbeitsmaterial, Zuverlässigkeit und die Eigenverantwortung der Schüler sowie letztendlich auch die Kooperation von Elternhäusern mit der Schule.
    "Wegschauen ist für uns keine Option"
    Heinemann: Frau Götten, welche Antwort haben Sie auf Ihren Brief vom Ministerium bekommen?
    Götten: Wir haben im September diesen Jahres einen Antwortbrief erhalten, dass die Arbeit hier an unserer Schule sehr geschätzt wird und das Engagement an unserer Schule. Wir haben im aktuellen Schuljahr zusätzliche Lehrerstunden bekommen und können dadurch teilweise den Unterricht doppelt besetzen. Es soll im Ministerium weiterhin ein Konzept erstellt werden, mit dem die Schulen, die vor besonders große Herausforderungen gestellt sind, unterstützt werden sollen. Und man hat mir gesagt, dass es ein Termin hierzu im Januar 2018 geben wird.
    Heinemann: Ist ein Unterricht oder war ein Unterricht unter den in dem Brief beschriebenen Umständen möglich?
    !Götten:!! Zunächst einmal grundsätzlich. Selbstverständlich findet Unterricht statt. Jedoch kostet dies oftmals ganz viel Kraft und Energie. Dennoch ist für uns Wegschauen keine Option, da wir sehr schülerorientiert arbeiten, und hierfür brauchen wir, um diesem gerecht zu werden, mehr Ressourcen, mehr Unterstützung, multiprofessionelle Teams an den Schulen, die uns bei unserer Arbeit unterstützen können.
    Heinemann: Pia Götten, die Leiterin der Gemeinschaftsschule Bruchwiese in Saarbrücken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.