Las Tunas liegt an einem der vergessenen Ränder der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Unasphaltierte Erdstraßen, einfache Häuschen aus Holz und Ziegelsteinen. An einem etwas größeren Gebäude steht in bunten Lettern: "Bachillerato Popular Las Tunas".
"25.000 Menschen leben hier, aber eine weiterführende Schule oder Erwachsenenbildung gab es nicht, dafür musste man kilometerweit laufen."
Erklärt Anna, Mitglied der sozialen Bewegung Fogoneros. Nachdem der Staat jahrelang nichts gegen den Missstand unternahm, hat die Organisation 2005 schließlich selbst eine Schule gegründet, gemeinsam mit Bewohnern des Viertels.
Heute stehen vor der Schule etwa zwei Dutzend Männer und Frauen, eine hat ein Baby auf dem Arm, andere schon graue Haare auf dem Kopf. Sie alle wollen hier ihren Schulabschluss nachholen - Marcelo, 28, hat seine Ausbildung Mitte der 90er-Jahre abgebrochen. Damals begann Argentiniens Wirtschaft zu kriseln. Marcelos Familie zog ins Elendsviertel, zur nächsten Schule hätte er fünf Kilometer laufen müssen.
"Ohnehin hatten die Leute damals andere Sorgen als die Schule: die Familie ernähren, Geld verdienen. Niemand fragt dann nach den Gründen, wenn du dann in der Schule zu oft fehlst."
Rund 25 Bachilleratos Populares gibt es mittlerweile im Großraum Buenos Aires. Sie sind weder staatlich, noch privatwirtschaftlich organisiert, sondern aus sozialen Bewegungen heraus entstanden - Arbeiterkooperativen, Nachbarschaftsvereine oder Arbeitsgruppen in Elendsvierteln. Sie sind auch eine Antwort auf den radikalen Neoliberalismus der 90er-Jahre, in denen sich der Staat zunehmend aus der Bildung zurückzog, staatliche Schulen verkommen ließ - die Notwendigkeit wuchs, diese Lücken durch Eigeninitiative zu füllen, erklärt der Wissenschaftler Javier Garcia von der staatlichen Universität Buenos Aires:
"Vor allem Jugendliche und Erwachsene aus ärmeren Vierteln haben damals den Anschluss ans normale Schulsystem verloren. Darauf reagierten die Bachilleratos vor knapp zehn Jahren. Und sie stellten damit auch das Monopol des Staates im Bildungssektor infrage: Wer bestimmt, was Erziehung ist?"
Die Ausbildung in den Bachillerato dauert drei Jahre - Basisfächer wie Mathematik, Englisch oder Geschichte werden auch hier gelehrt, doch die Unterrichtsmethoden sind anders als in herkömmlichen Schulen, erklärt der 30-jährige Schüler Ricky:
"Der große Unterschied ist, dass hier statt einem drei Lehrer für die Schüler da sind, die machen keinen Frontalunterricht, sondern nehmen sich Zeit für jeden. Man hat dadurch auch drei verschiedenen Sichtweisen auf ein Thema. Außerdem wird die Ausarbeitung der Lehrpläne gemeinschaftlich bestimmt. Es gibt keine strikten Noten oder Tests, man arbeitet in Gruppen und lernt nicht nur stumpf für ein Examen."
Trotzdem führt auch das Bachillerato Popular zum selben Abschluss wie in jeder anderen argentinischen Schule. Jeder Absolvent kann die Universität besuchen - auch wenn das bisher nur wenige getan haben, sagt der Wissenschaftler Javier Garcia, der an der staatlichen Universität von Buenos Aires eine Langzeitstudie zu den Bachilleratos führt:
"Das Studium macht oft Schwierigkeiten, aber das gilt auch für Absolventen herkömmlicher Schulen, denn das Niveau der Schulen in Argentinien klafft grundsätzlich stark auseinander, Herkunft spielt eine große Rolle. Einige der Schüler haben zwar bereits Jobs oder Gelegenheitsjobs. Viele bringen sich nun in den Vierteln ein, mit einem Abschluss können sie dort in staatlichen Einrichtungen arbeiten, zum Beispiel in Gemeinschafts- oder Gesundheitszentren."
Das Bachillerato Popular eröffnet den Absolventen neue Möglichkeiten.
Oftmals stützen sich die Bachilleratos auf die Theorien der "Educación popular", der "Volks- oder Befreiungspädagogik" aus den 70er-Jahren. Diese kritisierte das damalige Schulwesen als autoritäre Einbahnstraße. Es würde die Schüler zur Passivität verdammen, anstatt sie zu kritischem Denken und Eigeninitiative anzuregen. Dieser politische Bildungsansatz motivierte auch die 30-jährige Lucia zu ihrer Lehrtätigkeit am Bachillerato Popular:
"Wir gehen davon aus, dass jeder Wissen mitbringt, die Hausfrau genauso wie der Handwerker oder der Lehrer und keines ist per se richtig oder falsch, besser oder schlechter. Erst im Dialog miteinander entsteht ein Lernprozess."
Hauptberuflich arbeitet sie als Dozentin an der Universität, viele der Lehrer kommen aus der Wissenschaft oder haben andere Jobs im Bildungsbereich - denn Lohn vom Staat bekommen sie für ihre Arbeit bisher nicht, nur für Materialien und Instandhaltungskosten gibt es einen kleinen Zuschuss. Und auch die Schüler zahlen keine Gebühren.
Sechs Uhr abends in Las Tunas - die Unterrichtsstunde heißt "Geschichte und Erinnerung". Gezeigt wird ein Dokumentarfilm über die schwere Wirtschaftskrise des Landes im Jahr 2001, ihre Ursachen und Folgen.
Die drei Lehrer sitzen gemeinsam mit einem Dutzend Schülern an einem großen Tisch - die Lehrer regen zur Diskussion an - jeder hier hat die Krise schließlich miterlebt.
Manche beteiligen sich rege, andere schauen verlegen aus dem Fenster oder schwatzen mit dem Nachbarn, einer entschuldigt sich, er hat Spätschicht. Genau hier sieht Wissenschaftler Javier Garcia die größten Probleme, um die Qualität in den Bachilleratos Populares zu gewährleisten:
"Wie geht man mit zu vielen Fehlzeiten um, wie bewertet man ohne Noten, was ist mit Leuten, die nur Interesse am Abschluss aber nicht am politischen Ansatz haben. Es gibt kaum oder keine Reflexion darüber, was Volkspädagogik im Hier und Jetzt bedeutet und wie aussehen sollte."
Javier Garcia wünscht sich, dass der Alltag der Bachilleratos intensiver erforscht und wissenschaftlich begleitet wird. Vielleicht kann ihm bald der 28-jährige Schüler Marcelo dabei helfen - er plant nach seinem Abschluss an der Uni zu studieren, um später selbst als Lehrer im Bachillerato Popular zu arbeiten.
"25.000 Menschen leben hier, aber eine weiterführende Schule oder Erwachsenenbildung gab es nicht, dafür musste man kilometerweit laufen."
Erklärt Anna, Mitglied der sozialen Bewegung Fogoneros. Nachdem der Staat jahrelang nichts gegen den Missstand unternahm, hat die Organisation 2005 schließlich selbst eine Schule gegründet, gemeinsam mit Bewohnern des Viertels.
Heute stehen vor der Schule etwa zwei Dutzend Männer und Frauen, eine hat ein Baby auf dem Arm, andere schon graue Haare auf dem Kopf. Sie alle wollen hier ihren Schulabschluss nachholen - Marcelo, 28, hat seine Ausbildung Mitte der 90er-Jahre abgebrochen. Damals begann Argentiniens Wirtschaft zu kriseln. Marcelos Familie zog ins Elendsviertel, zur nächsten Schule hätte er fünf Kilometer laufen müssen.
"Ohnehin hatten die Leute damals andere Sorgen als die Schule: die Familie ernähren, Geld verdienen. Niemand fragt dann nach den Gründen, wenn du dann in der Schule zu oft fehlst."
Rund 25 Bachilleratos Populares gibt es mittlerweile im Großraum Buenos Aires. Sie sind weder staatlich, noch privatwirtschaftlich organisiert, sondern aus sozialen Bewegungen heraus entstanden - Arbeiterkooperativen, Nachbarschaftsvereine oder Arbeitsgruppen in Elendsvierteln. Sie sind auch eine Antwort auf den radikalen Neoliberalismus der 90er-Jahre, in denen sich der Staat zunehmend aus der Bildung zurückzog, staatliche Schulen verkommen ließ - die Notwendigkeit wuchs, diese Lücken durch Eigeninitiative zu füllen, erklärt der Wissenschaftler Javier Garcia von der staatlichen Universität Buenos Aires:
"Vor allem Jugendliche und Erwachsene aus ärmeren Vierteln haben damals den Anschluss ans normale Schulsystem verloren. Darauf reagierten die Bachilleratos vor knapp zehn Jahren. Und sie stellten damit auch das Monopol des Staates im Bildungssektor infrage: Wer bestimmt, was Erziehung ist?"
Die Ausbildung in den Bachillerato dauert drei Jahre - Basisfächer wie Mathematik, Englisch oder Geschichte werden auch hier gelehrt, doch die Unterrichtsmethoden sind anders als in herkömmlichen Schulen, erklärt der 30-jährige Schüler Ricky:
"Der große Unterschied ist, dass hier statt einem drei Lehrer für die Schüler da sind, die machen keinen Frontalunterricht, sondern nehmen sich Zeit für jeden. Man hat dadurch auch drei verschiedenen Sichtweisen auf ein Thema. Außerdem wird die Ausarbeitung der Lehrpläne gemeinschaftlich bestimmt. Es gibt keine strikten Noten oder Tests, man arbeitet in Gruppen und lernt nicht nur stumpf für ein Examen."
Trotzdem führt auch das Bachillerato Popular zum selben Abschluss wie in jeder anderen argentinischen Schule. Jeder Absolvent kann die Universität besuchen - auch wenn das bisher nur wenige getan haben, sagt der Wissenschaftler Javier Garcia, der an der staatlichen Universität von Buenos Aires eine Langzeitstudie zu den Bachilleratos führt:
"Das Studium macht oft Schwierigkeiten, aber das gilt auch für Absolventen herkömmlicher Schulen, denn das Niveau der Schulen in Argentinien klafft grundsätzlich stark auseinander, Herkunft spielt eine große Rolle. Einige der Schüler haben zwar bereits Jobs oder Gelegenheitsjobs. Viele bringen sich nun in den Vierteln ein, mit einem Abschluss können sie dort in staatlichen Einrichtungen arbeiten, zum Beispiel in Gemeinschafts- oder Gesundheitszentren."
Das Bachillerato Popular eröffnet den Absolventen neue Möglichkeiten.
Oftmals stützen sich die Bachilleratos auf die Theorien der "Educación popular", der "Volks- oder Befreiungspädagogik" aus den 70er-Jahren. Diese kritisierte das damalige Schulwesen als autoritäre Einbahnstraße. Es würde die Schüler zur Passivität verdammen, anstatt sie zu kritischem Denken und Eigeninitiative anzuregen. Dieser politische Bildungsansatz motivierte auch die 30-jährige Lucia zu ihrer Lehrtätigkeit am Bachillerato Popular:
"Wir gehen davon aus, dass jeder Wissen mitbringt, die Hausfrau genauso wie der Handwerker oder der Lehrer und keines ist per se richtig oder falsch, besser oder schlechter. Erst im Dialog miteinander entsteht ein Lernprozess."
Hauptberuflich arbeitet sie als Dozentin an der Universität, viele der Lehrer kommen aus der Wissenschaft oder haben andere Jobs im Bildungsbereich - denn Lohn vom Staat bekommen sie für ihre Arbeit bisher nicht, nur für Materialien und Instandhaltungskosten gibt es einen kleinen Zuschuss. Und auch die Schüler zahlen keine Gebühren.
Sechs Uhr abends in Las Tunas - die Unterrichtsstunde heißt "Geschichte und Erinnerung". Gezeigt wird ein Dokumentarfilm über die schwere Wirtschaftskrise des Landes im Jahr 2001, ihre Ursachen und Folgen.
Die drei Lehrer sitzen gemeinsam mit einem Dutzend Schülern an einem großen Tisch - die Lehrer regen zur Diskussion an - jeder hier hat die Krise schließlich miterlebt.
Manche beteiligen sich rege, andere schauen verlegen aus dem Fenster oder schwatzen mit dem Nachbarn, einer entschuldigt sich, er hat Spätschicht. Genau hier sieht Wissenschaftler Javier Garcia die größten Probleme, um die Qualität in den Bachilleratos Populares zu gewährleisten:
"Wie geht man mit zu vielen Fehlzeiten um, wie bewertet man ohne Noten, was ist mit Leuten, die nur Interesse am Abschluss aber nicht am politischen Ansatz haben. Es gibt kaum oder keine Reflexion darüber, was Volkspädagogik im Hier und Jetzt bedeutet und wie aussehen sollte."
Javier Garcia wünscht sich, dass der Alltag der Bachilleratos intensiver erforscht und wissenschaftlich begleitet wird. Vielleicht kann ihm bald der 28-jährige Schüler Marcelo dabei helfen - er plant nach seinem Abschluss an der Uni zu studieren, um später selbst als Lehrer im Bachillerato Popular zu arbeiten.