Archiv

Schulöffnungen in der Pandemie
"Bewusste Entscheidung, die wir als Gesamtgesellschaft treffen"

Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien hat die Öffnung der Grundschulen im Dlf begrüßt. Besonders im Alter bis zu zehn Jahren machten Kinder entscheidende Entwicklungsschritte im Kontakt mit anderen. Schon jetzt seien viele Kinder in einem Zustand, in dem sie psychologische Behandlung brauchen.

Karin Prien im Gespräch mit Philipp May |
Mundmasken und Jacken hängen im Flur der Schule an einem Kleiderhaken. Die Schulen bleiben während des Corona-Lockdowns geschlossen.
"Es ist immer grundsätzlich ein Weg in die Öffnung, aber es kann natürlich auch wieder Rückschritte geben", sagt Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (dpa/Inderlied/Kirchner-Media)
In weiteren zehn Bundesländern öffnen heute (Montag, 22. Februar) die Kindertagesstätten und Grundschulen. Der Unterricht soll nach zweimonatiger Schließung mit verschiedenen Modellen wieder stattfinden. Dazu gehören beispielsweise ein Wechselbetrieb oder feste Gruppen. In den Kitas werden wieder alle oder zumindest mehr Kinder betreut. Sachsen hatte schon vor einer Woche seine Kitas und Grundschulen wieder geöffnet. Niedersachsen unterrichtet Grundschüler bereits seit Januar wieder in der Schule.
Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien sagte im Dlf, man habe sich gesamtgesellschaftlich dazu entschieden, der Bildung insbesondere von kleinen und jüngeren Schülerinnen und Schülern absolute Priorität einzuräumen. Schon jetzt seien rund ein Drittel der Schülerinnen und Schüler in einer Situation, in der sie eine psychiatrische oder psychologische Behandlung benötigten: "Das ist eigentlich noch viel schlimmer als die Bildungslücken, die faktisch natürlich genauso entstehen." Wechselunterricht sei jedoch dabei nur bedingt möglich und keine gute Lösung. Eltern, besonders mit mehreren Kindern, könnten ihr Berufsleben kaum darauf ausrichten, so Prien.
Corona - Krise - Sondersitzung im Landtag Kiel am 16.04.2020 mit Karin Prien
Karin Prien (CDU) (picture alliande / radio tele nord)

Das Interview im Wortlaut:
Philipp May: Schulöffnung am Fuß einer dritten Welle – ist das eine gute Idee?
Karin Prien: Wir haben uns in Schleswig-Holstein ja schon im Januar dazu entschieden, auf Basis eines Inzidenz-gestützten Stufenplanes die Schulen wieder zu öffnen. Wir haben uns da sehr lange sehr zurückgehalten, auch mehr als andere Bundesländer. Wir hatten ja nur eine eingeschränkte Notbetreuung in unseren Grundschulen. Jetzt haben wir uns gemeinsam mit unseren Experten, die auch am letzten Freitag noch einmal im Landtag dazu sich einmütig für die Öffnung der Schulen im Rahmen des Stufenplans ausgesprochen haben, dazu entschieden, die Schulen wieder zu öffnen - Sie haben es erwähnt, allerdings nur in elf von 15 Kreisen und kreisfreien Städten.

"Das ist eine bewusste Entscheidung, die wir als Gesamtgesellschaft treffen"

May: Das heißt, der Inzidenz-Wert bei Ihnen muss unter 35 liegen?
Prien: Grundsätzlich heißt das: Wenn im Land insgesamt der Inzidenz-Wert unter 100 liegt, und zwar mehr als drei Wochen, dann können die Schulen geöffnet werden. Faktisch ist es so, dass in allen Kreisen, die wir jetzt öffnen, die Inzidenz-Werte bei 50 oder darunter liegen, in vieren sogar unter 35.
May: Unter 100, nur noch mal zum Vergleich. Im Sommer wurden bei Inzidenz-Werten über 50 noch ganze Landkreise abgeriegelt.
Prien: Nee! Im Sommer war es ja gerade nicht so, sondern erst im November und Dezember ist es dazu gekommen. Insofern ist die Situation jetzt eher vergleichbar mit dem Spätsommer.
May: Ich habe an Gütersloh jetzt zum Beispiel im Sommer gedacht.
Prien: Wie bitte?
May: Ich habe jetzt zum Beispiel an Gütersloh im Sommer gedacht. Da war es ja so, dass dann der gesamte Landkreis dort abgeriegelt wurde, bei einem Inzidenz-Wert von 50. Unter 100 ist ja immer noch ein relativ hoher Wert.
Prien: Ja! Aber wir haben uns natürlich gesamtgesellschaftlich dazu entschieden, der Bildung insbesondere von kleinen und jüngeren Schülerinnen und Schülern absolute Priorität einzuräumen. Weitere Öffnungsschritte machen wir ja auch in Schleswig-Holstein ganz bewusst zu diesem Zeitpunkt, trotz dieser insgesamt niedrigen Inzidenz – wir sind landesweit bei 50, trotz der schwierigen Situation in Flensburg -, trotzdem machen wir nur die Grundschulen auf. Das ist eine bewusste Entscheidung, die wir als Gesamtgesellschaft treffen.
Schülerinnen und Schüler sitzen mit Masken und Abständen in einem Klassenraum. Vorne steht eine Lehrerin, ebenfalls mit Maske.
Kinder und Corona - Wie sich Schulen verantwortlich öffnen lassen
Die Schulen sollen nach und nach wieder geöffnet werden. Dafür sprechen gute Gründe: die Bildung, aber auch die Lockdown-Belastung für die Kinder. Auf der anderen Seite gibt es Meldungen, die neuen Virus-Varianten würden gerade Kinder infizieren.
May: Viele Eltern werden das ohne Frage mit großer Erleichterung aufnehmen, auch die Kinder. Aber es gibt auch diese, die große Sorgen haben, ihre Kinder jetzt in Räume mit vielen anderen zu schicken. Was sagen Sie denen?
Prien: Zunächst einmal ist natürlich wichtig, dass strenge Hygienemaßnahmen eingehalten werden. Wir haben die strenge Maskenpflicht auch für die kleineren, auch die Verpflichtung, eine medizinische Maske zu tragen. Alle anderen Hygieneregeln, insbesondere auch das Lüften, müssen dringend eingehalten werden. Und wir setzen natürlich auf das Kohorten-Prinzip. Das heißt, die Kinder sind immer nur in ihrer Kohorte, getrennt von allen anderen Schülerinnen und Schülern, unterwegs. Ich verstehe natürlich die Sorgen der Eltern. Ich bin selber auch Mutter und ich kann das sehr gut nachvollziehen. Aber wir wissen inzwischen, dass die Kollateralschäden durch die Schulschließung, die ja mehr als zwei Monate jetzt gedauert hat, so groß sind, dass wir in der Abwägung es für richtig halten. Die Eltern können aber in einem relativ leichten Verfahren ihre Kinder jetzt auch beurlauben lassen, wenn sie das aus persönlichen Gründen für erforderlich halten.

"Noch viel schlimmer als die Bildungslücken"

May: An welche Kollateralschäden denken Sie? Was melden Ihnen da die Experten? Haben Sie eine Schadensbilanz?
Prien: Kinder machen die entscheidenden Entwicklungsschritte insbesondere auch in dem Alter bis zu zehn Jahren im Kontakt mit gleichaltrigen und auch ihre Bildungsfortschritte im Kontakt mit ihrer Beziehungsperson in der Schule. Das ist ihre Lehrkraft. Wenn man über viele Monate diesen Kontakt nicht ermöglicht, dann führt das dazu, dass, wie unsere Experten sagen, rund ein Drittel der Schülerinnen und Schüler eigentlich schon in einer Situation sind, dass sie eine Behandlung, psychiatrisch oder psychologisch, brauchen und auch die übrigen darunter in ihrer Entwicklung stark gehemmt werden. Das ist eigentlich noch viel schlimmer als die Bildungslücken, die faktisch natürlich genauso entstehen.
May: Kommen wir wieder zurück zum Organisatorischen dieser Schulöffnung. Was ist mit dem Testen? Welche Rolle spielen die Tests bei den Schulöffnungen bei Ihnen in Schleswig-Holstein?
Prien: Ab heute können Lehrkräfte sich zunächst zweimal wöchentlich freiwillig testen lassen, entweder in den Impfzentren des Deutschen Roten Kreuzes, oder beim niedergelassenen Arzt, oder in Apotheken.
May: Schnelltests?
Prien: Schnelltests. – Wir hoffen jetzt sehr darauf, dass in den nächsten Wochen die Selbsttests zugelassen werden, damit wir über dieses Angebot hinaus Lehrkräfte, auch alle anderen an Schulen Beschäftigten, aber dann auch Schülerinnen und Schüler testen können.

Schnellere Impfungen für Lehrkräfte und Erzieher

May: Wie viele Schnelltests brauchen Sie? Haben Sie überhaupt genug in Schleswig-Holstein?
Prien: Für das Angebot, das wir jetzt den Lehrkräften machen, haben wir hinreichend Schnelltests beschafft. Das Land stellt dafür noch mal zusätzlich rund 17 Millionen zur Verfügung, damit das bis Ostern so gelingt. Insofern sind wir dafür gut gerüstet.
May: Wie ist es mit den Impfungen? Jetzt wird ja heute höchst wahrscheinlich beschlossen, zumindest wenn man den Meldungen Glauben schenken darf, dass die Impfreihenfolge geändert werden soll. Das heißt, Erzieher und Lehrer sollen bevorzugt geimpft werden. Ich nehme jetzt einfach mal an, als Bildungsministerin begrüßen Sie das. Über welchen Zeitraum reden wir dann? Wann können sich die Lehrer und Erzieher in Schleswig-Holstein impfen lassen?
Prien: Ich habe mich sehr früh dafür eingesetzt. Ich finde, wenn eine Gesellschaft sagt, Bildung hat absolute Priorität und Grundschüler müssen dringend in die Schule, dann müssen wir auch die Lehrkräfte und übrigens auch alle anderen an Schule Beschäftigten, Sozialarbeiter, Erzieher, die an Schule sind, und auch die Kita-Kräfte müssen dann priorisiert geimpft werden. Die Forderung ist ja, sie in die Gruppe II der erhöhten Impfberechtigten aufzunehmen, und dann müsste es auch möglich sein, in den nächsten Wochen bereits mit der Impfung der Lehrkräfte und der anderen von mir genannten zu beginnen.
May: Baden-Württemberg will ja sofort anfangen. Die sagen, AstraZeneca ist genug da, wir können jetzt direkt impfen. Bei Ihnen auch?
Prien: Genau! Das ist der Punkt. Mit dem AstraZeneca-Impfstoff, der ja nur in bestimmten Altersgruppen verimpft werden darf, gibt es genügend Impfstoff, um auch in der Gruppe II mit dem Impfen jetzt zu beginnen.

"Wechselunterricht ist in vielerlei Hinsicht eine Krücke"

May: Frau Prien, viele Bundesländer, auch die, die jetzt öffnen, gehen einen anderen Weg als Schleswig-Holstein. Die sind deutlich vorsichtiger und sagen, wir machen erst mal Wechselunterricht. Das heißt, die Hälfte der Gruppen gehen im Wechsel in die Schule. Warum setzen Sie auf Präsenzunterricht die ganze Zeit? Warum gehen Sie dieses hohe Risiko ein?
Prien: Zunächst mal gehen wir den Weg des Präsenzunterrichts nur dann, wenn bestimmte Inzidenzen erreicht sind. Für die Abschlussklassen zum Beispiel sind wir sehr vorsichtig. Da halten wir den 1,5-Meter-Abstand ja ein. Und wir handeln so wie zum Beispiel auch Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen. Wir sind da ja nicht alleine. Und wir tun das insbesondere auf Empfehlung unserer Experten, weil natürlich der Wechselunterricht in vielerlei Hinsicht eine Krücke ist. Wechselunterricht heißt, dass die Schulen gleichzeitig eine Gruppe in der Schule haben, eine andere Gruppe in Distanz, und noch eine Gruppe zur Notbetreuung aufrechterhalten müssen. Dadurch entsteht das Problem, dass dann doch wieder mehr Kinder, nämlich die, die in der Notbetreuung sind, und die, die in der Präsenzgruppe sind, Kontakt miteinander haben. Und es ist natürlich schulorganisatorisch kaum zu machen, dann die Verlässlichkeit der Grundschule aufrechtzuhalten. Soviel Personal und so viele Räume gibt es gar nicht. Das heißt, der Wechselunterricht ist immer eine schwierige Angelegenheit, auch für Eltern, die ja ihr Berufsleben überhaupt nicht ausrichten können auf diesen sehr eingeschränkten Unterricht. Stellen Sie sich vor, Eltern haben mehrere Kinder mit unterschiedlichen Rhythmen beim Wechselunterricht. Insofern ist es dann auch kaum eine Entlastung für die Familien. Deshalb ist der Wechselunterricht bei uns zwar auch eine Option in Kreisen, in denen wir uns noch nicht trauen, den Schritt in die Präsenz zu gehen, aber es ist keine gute Lösung.
May: Aber gerade Grundschulkinder, um die es ja hauptsächlich geht, die haben es jetzt nicht so einfach, den Abstand zu halten, wie zum Beispiel Kinder in den Abschlussklassen, die ein bisschen älter sind. Spricht das nicht eher für ein Wechselmodell?
Prien: Zunächst mal haben wir mit den Grundschülern und der Maskenpflicht in Schleswig-Holstein sehr gute Erfahrungen gemacht. Auch kleinere Kinder sind gerne Teil einer solidarischen Gruppe, die aufeinander achtet. Da unterschätzt man, glaube ich, die jüngeren Kinder. Kinder in dem Alter erkranken weniger stark, sind weniger ansteckend als die älteren Kinder. Deshalb ist diese Differenzierung auch unter medizinischen Gesichtspunkten sinnvoll. Mit der strengen Maskenpflicht, die wir ja anwenden, und dem Kohorten-Prinzip haben wir ja weitere Vorkehrungen, die übrigens auch im Einklang mit den Vorgaben des Robert-Koch-Instituts und der S3-Leitlinie, nach der wir unsere Hygienebedingungen ausrichten, auch im Einklang steht.

Weiter Distanzunterricht für Kinder der weiterführenden Schulen

May: Was ist mit den Kindern der weiterführenden Schulen? Die fallen ja irgendwie gerade überall immer hinten über. 5. Bis 9. Klasse. Gibt es irgendeine Perspektive auch für die, dass die irgendwann wieder in die Schule gehen können?
Prien: Es ist so, dass wir in Schleswig-Holstein schon seit dem 11. Januar für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die ihre Prüfung in diesem Jahr, aus den Klassen neun, zehn, zwölf und 13, je nachdem wann das Abitur abgelegt wird, für die gibt es bereits wieder Präsenzangebote.
May: Das ist ja die Minderheit.
Prien: Das ist die Minderheit, aber die sind für uns erst mal von großer Bedeutung, weil wir wollen, dass diese Schülerinnen und Schüler einen guten und gleichwertigen Abschluss machen können. Für alle anderen heißt das zunächst weiter Distanzunterricht. Ich glaube, alle Beteiligten jedenfalls in Schleswig-Holstein sind inzwischen der Auffassung, dass das immer besser läuft mit dem Distanzunterricht. Wir bieten außerdem die Möglichkeit, dass Schülerinnen und Schüler, die zuhause nicht gut lernen können, trotzdem alleine oder auch in kleinen Gruppen in die Schule kommen können. Das machen wir übrigens auch schon seit Anfang Januar. Ansonsten ist der nächste Schritt der Öffnung, das sind dann die Kinder und Jugendlichen in den weiterführenden Schulen. Die müssen sich noch ein bisschen gedulden, aber die Perspektive ist ganz klar. Die sind als nächstes dran.

"Es kann natürlich auch wieder Rückschritte geben, insbesondere regional"

May: Was heißt das genau? Wann wären die dran? Wie muss sich das Infektionsgeschehen auswirken, dass die überhaupt darauf hoffen können, irgendwann mal dran zu sein? Auch die leiden ja unter den psychischen Problemen, die so ein Lockdown mit sich bringt, die Sie gerade geschildert haben.
Prien: Absolut! Darunter leiden sie und deshalb wäre der nächste Schritt, wieder streng nach unserem Stufenplan, der Wechselunterricht für die weiterführenden Schulen. Wir müssen allerdings jetzt erst mal schauen, wie sich der Schulbesuch der Grundschüler auswirkt, und dann wäre zum 15. März der nächste Schritt.
May: Wenn sich tatsächlich die Mutante, ausgehend von Flensburg, möglicherweise in ganz Schleswig-Holstein durchsetzt, sind dann die Schulen bald wieder zu?
Prien: Der Stufenplan war immer so ausgerichtet. Wir haben ja einen richtigen Perspektivplan für alle gesellschaftlichen Bereiche mit Inzidenz-Werten in Schleswig-Holstein entwickelt. Das war immer klar. Es ist immer grundsätzlich ein Weg in die Öffnung, aber es kann natürlich auch wieder Rückschritte geben, insbesondere regional. So sind wir jetzt auch sehr vorsichtig in Flensburg und auch im Kreis Schleswig-Flensburg, der die Stadt Flensburg umschließt, damit wir genau das verhindern können, dass die Mutation sich schnell in Schleswig-Holstein ausbreiten kann. Trotzdem gilt, auch die Mutationen sind in den Griff zu kriegen mit den Hygienemaßnahmen, die wir treffen. Wir sind ja den Mutationen nicht hilflos ausgeliefert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.