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Schulöffnungen
"Kombination aus Präsenz- und Onlineunterricht schaffen"

Für die Online-Beschulung von Schülerinnen und Schülern habe man 100 Millionen Euro aus dem Digitalpakt zur Verfügung gestellt, sagte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) im Dlf. Die konkrete Umsetzung von Online- und Präsenzunterricht könne nur in Schulen und Kommunen vor Ort geleistet werden, nicht von fern.

Anja Karliczek im Gespräch mit Stefan Heinlein | 22.04.2020
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek, CDU
Bildungsministerin Anja Karliczek ist zuversichtlich, dass man sich noch in dieser Woche auf schnelle Hilfen für Studierende in Not einigen werde (imago)
In einigen Bundesländern haben zwar die Abschlussklassen bereits mit ihren Prüfungen begonnen, doch an normalen Unterricht ist derzeit kaum zu denken. Erst Anfang Mai, so die Vereinbarung von Bund und Ländern, sollen die Schulen schrittweise wieder öffnen. Doch bis ein normaler Unterricht für alle wieder möglich ist, wird es wohl noch viele Wochen und vielleicht sogar viele Monate dauern.
An den Universitäten ein anderes Bild: Dort hat das neue Semester für viele Studierende mit digitalen Vorlesungen und Geldsorgen begonnen. Noch streitet die Koalition über kurzfristige Hilfen. Corona hat auch die deutsche Bildungslandschaft fest im Griff .
Darüber sprechen wir mit Bundesbildungsministerin Anja Karliczek, CDU.
20.04.2020, Nordrhein-Westfalen, Gütersloh: Ein Plakat mit Hygienehinweisen am Eingang der Geschwister Scholl Realschule in Gütersloh
Schulleitungsvereinigung NRW: "Bei den Schulträgern fehlt oftmals jede Koordination"
In den Schulen in NRW gebe es im Bezug auf die angeordneten Öffnungen "große Unsicherheit", sagte Harald Willert, Schulleitungsvereinigung NRW. Ein gemeinsames Vorgehen von Bund und Kommunen sei nicht zu spüren.
Stefan Heinlein: Frau Karliczek, beginnen wir vielleicht mit den Schulen. Haben denn die Rektoren aus Ihrer Sicht Ihre Hausaufgaben bereits gemacht? Ist alles bereit, wie vereinbart, für den schrittweisen Wiederbeginn des Unterrichts ab Anfang Mai?
Karliczek: Na ja, ich glaube, wir müssen vorweg mal sagen, dass wir im Moment in einer Zeit unheimlicher Unsicherheit leben, weil wir, ich sage mal, überall unsere eingelaufenen und unsere normalen Verfahren nicht durchführen können, weil all das, was, sage ich mal, im Regelbetrieb schon sehr, sehr gut in unserem Land funktioniert, in diesen Tagen auf den Prüfstand gestellt wird. Und deswegen ist es auch für alle so schwer, ich sage mal, doch mit dieser Situation auch klarzukommen. Das ist ganz egal, wo ich hingucke: in den Familien, die jetzt seit Wochen die Kinderbetreuung und das Arbeiten und den Haushalt stemmen müssen, ob das jetzt in den Schulen ist, Lehrerinnen und Lehrer werden plötzlich vor das Phänomen gestellt, dass sie auch digital unterrichten sollen, jetzt steht eben die Frage an, wie fährt man einen Schulbetrieb grundsätzlich, Schritt für Schritt wieder hoch, wie weit ist das überhaupt machbar?
"Sich den Schwachen auch noch mal besonders widmen"
Heinlein: Haben Sie darauf eine Antwort?
Karliczek: Ja, wir haben uns ja schon viele Gedanken dazu gemacht. Wir haben ja auch einen engen Draht zur Leopoldina gepflegt, wo wir gesagt haben, das Thema Schule ist wichtig, bitte nehmen Sie es auf in Ihre Studien, machen Sie sich Gedanken, wir brauchen gemeinsame Kriterien, die in ganz Deutschland gelten. Und das ist ja auch von der Leopoldina geleistet worden. Die haben grundsätzlich ja gesagt: Abstands- und Hygieneregeln müssen eingehalten werden, Prüfungen sollen durchgeführt werden. Das ist übrigens auch ein Beschluss der Kultusministerkonferenz gewesen, schon vor den Ferien, die gesagt haben: Ja, wir wollen Prüfungen, so weit es irgendwie vertretbar und verantwortlich ist, durchführen. Und dann, das war ja auch bei der Leopoldina-Studie Thema, dass man dann noch mal genau hinschauen muss, das Thema Bildungsgerechtigkeit: Wenn die Schule längerfristig nicht vollständig geöffnet haben kann und damit normal durchgeführt werden kann, muss man sich eben gerade den Schwachen auch noch mal besonders widmen.
"Das oberste Ziel: den Gesundheitsschutz aufrecht zu erhalten"
Heinlein: Frau Ministerin, halten Sie es denn als die Zuständige im Bund für realistisch, dass die Schulen ab Anfang Mai, ab dem vierten Mai, so ist ja die Vereinbarung, wieder beginnen schrittweise?
Karliczek: Es geht ja erst mal darum, ab dem vierten Mai den Abschlussklassen noch mal eine Möglichkeit zu geben, den Stoff, den sie sonst verpassen würden, in irgendeiner Form nachzuholen. Aber ich glaube, allen Beteiligten ist klar, dass wir auch längerfristig nicht über, ich sage mal, ganz normalen Unterricht sprechen, sondern dass wir jetzt möglich machen, was möglich zu machen ist, und dass man sich eben auch überlegen muss, wie kann ich zum Beispiel digitale Methoden und Präsenzmethoden zusammenführen? Weil in Ihrem Vorspann eben ist ja angesprochen worden, dass ich auf der einen Seite nicht auf ein volles Kollegium zurückgreifen kann, weil ich natürlich alle Risikopersonen rausnehmen muss, die kann ich nicht in die Schule schicken, das kann ich gar nicht verantworten, auf der anderen Seite muss ich eben auch gucken, wie kann ich bei den unterschiedlichen Altersklassen auch adäquat damit umgehen, dass so viel Alltag wie möglich geleistet werden kann, ohne dass wir im Grunde das oberste Ziel, was wir haben, den Gesundheitsschutz aufrecht zu erhalten und eben eine beherrschbare Situation für unser Gesundheitssystem zu haben, vernachlässigen.
"Wir müssen digitalen Unterricht im Ausprobieren erledigen"
Heinlein: Frau Karliczek, Sie stellen Fragen. Haben Sie auch Antworten? Wie kann das denn gelingen, wenn ältere Lehrer, wenn Schwangere, wenn Lehrer mit Vorerkrankungen nicht mehr in die Schule müssen oder in die Schule können, wie können dann kleinere Klassen möglich werden, also mehr Unterricht mit weniger Lehrern?
Karliczek: Ja, das ist eine sehr komplexe Frage. Deswegen, schon vor den Ferien waren wir gemeinsam auch in der Kultusministerkonferenz, wo wir uns genau über dieses Thema, wie kann digitaler Unterricht auch möglich gemacht werden, wo wir uns darüber auch schon unterhalten haben. Wir haben jetzt gerade in den letzten Wochen auch noch mal 100 Millionen aus dem Digitalpakt zur Verfügung gestellt, um, ich sage mal, weitere Möglichkeiten zu schaffen, über Online-Medien dann eben es möglich zu machen, dass Kinder weiter zu Hause beschult werden, und dass man dann eben eine gute Kombination aus Präsenz- und Online-Möglichkeiten schafft. Das ist eine sehr, sehr komplexe Frage. Und wir müssen im Grunde die Frage, wie man digitalen Unterricht regelt, jetzt im Alltag, im Ausprobieren erledigen. So hatten wir uns das nicht vorgestellt, aber jetzt sind wir davor gestellt und jetzt müssen wir es tun.
Sonderregeln für benachteiligten Schülerinnen und Schüler
Heinlein: Aber digitaler Unterricht, Frau Ministerin, das wird kaum möglich sein für Grundschülerinnen und Grundschüler, erste bis dritte Klasse, oder für Schüler aus bildungsfernen Schichten, aus Förderschulen.
Karliczek: Genau, das ist ja auch angesprochen worden, auch in der Leopoldina-Studie. Das haben auch alle meine Kollegen in den Ländern im Blick, das weiß ich, dass sie gerade die Frage nach Bildungsgerechtigkeit und Schüler aus, ich sage mal, auch aus schwierigen Verhältnissen, dass sie das auch im Fokus haben, dass man vielleicht auch Sonderregeln für diese Schülerinnen und Schüler schaffen muss. Man muss sich, glaube ich, …
Bitte um Toleranz, wenn nicht alles 100-prozentig klappt
Heinlein: Welche Sonderregelungen?
Karliczek: Dass die zum Beispiel jeden Tag in die Schule kommen dürfen. Also ich glaube, man muss jetzt ganz genau hingucken: Wem kann ich es zumuten, wer schafft es, digital zum Beispiel zu lernen und jeden zweiten Tag nur zur Schule zu kommen, und für wen brauche ich andere Regeln? Und deswegen ist es auch so eine komplizierte Fragestellung, weil ich eben nicht sagen kann, ich mache für einen bestimmten Raum Regeln und die gelten dann für alle, sondern ich muss mir sowohl die Schülerseite, als auch eben das Lehrerkollegium angucken, was habe ich für Kapazitäten, was habe ich zum Beispiel auch für Raumkapazitäten, wie vielen Schülern kann ich es überhaupt ermöglichen, in die Schule zu kommen? Und weil das so eine komplexe Frage ist, kann man diese Frage eben nicht, ich sage mal, aus einer fernen Institution beantworten, sondern ich kann sie nur vor Ort beantworten, ich muss mir vor Ort Gedanken machen. Und deswegen kann ich nur darum bitten, dass alle im Moment auch, ich sage mal, eine gewisse Toleranz haben, sowohl die Eltern als auch die Lehrer, dass vielleicht nicht alles 100-prozentig klappt.
Kriterienkatalog für die Schulen entwickeln
Heinlein: Aber Frau Ministerin, Sie sind zuständig dafür und Sie müssen diese komplexe Problematik auch lösen. Was stellen Sie sich denn vor? Nachmittagsunterricht, Samstagsunterricht oder doch eben, wie Herr Schäuble vorschlägt, verkürzte Sommerferien? Was ist Ihre Präferenz?
Karliczek: Also wir sind jetzt als erstes hingegangen und haben gesagt, die Kultusministerkonferenz – weil die Länder sind ja zuständig für die Fragen, wie Schule organisiert wird vor Ort –, wir haben jetzt die Kultusministerkonferenz gebeten, bis zum 29. April ein Konzept vorzustellen, wo die großen, gemeinsamen Regeln, die dann in den Ländern gelten sollen, erst mal aufgestellt werden. Und dann muss man es runterbrechen. Also ich bin ein großer Freund davon, einen Kriterienkatalog zu entwickeln mit Fragen, an denen sich dann die einzelnen Schulen entlanghangeln können und dann eben so ein Konzept aufstellen können. Das ist komplex und ich weiß, dass das nicht sofort 100-prozentig funktioniert, aber ich glaube, es gibt dazu keine Alternative.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Heinlein: Ich versuche es noch einmal ganz konkret, Frau Karliczek: Eine Voraussetzung für Schulöffnungen ist ja die Einhaltung von Hygienemaßnahmen. Das haben Sie selber erwähnt. Aber in vielen Schulen gibt es ja nicht einmal ausreichend Waschbecken, geschweige denn Seife zum Händewaschen.
Karliczek: Ja, aber Seife zu kaufen und, ich sage mal, Möglichkeiten zu schaffen, Warmwasser zu haben, das ist kein Hexenwerk. Das kann man machen. Das muss man dann eben mit dem jeweiligen Hausmeister, mit der jeweiligen Kommune organisieren. Vieles in diesen Tagen ist eine Frage: Wie kann man übergangsweise Dinge koordinieren? Und das kann man eben nicht von Ferne, das kann man nur vor Ort.
Abstandsregeln und Hygieneregeln gewährleisten
Heinlein: Aber Schulen sind seit vielen Jahren zum Teil marode, und jetzt sollen sie in wenigen Tagen auf einen Standard gebracht werden, der den Erfordernissen einer Pandemie entspricht.
Karliczek: Ich glaube, dass wir nicht davon ausgehen können, dass das jetzt sofort ein Standard ist, der dauerhaft ist, sondern wir brauchen jetzt einfach Übergangsmöglichkeiten, damit eben gerade Abstandsregeln und Hygieneregeln gewährleistet werden können. Das ist das oberste Prinzip. Wo das nicht darstellbar ist, kann eine Schule letztendlich nicht geöffnet werden.
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Niedersachsens Start ins Corona-Semester Die Coronakrise stellt Universitäten vor große logistische und organisatorische Herausforderungen. Gleichzeitig geraten viele Studierende in ernste finanzielle Notlagen, da ihre Nebenjobs wegfallen. Wie unter solchen Bedingungen der Start ins neue Semester aussieht, zeigt das Beispiel Niedersachsen.
Heinlein: Kurz zum Schluss noch der Blick vielleicht auf die Hochschulen, auch darüber wollten wir reden, Frau Karliczek: Viele Hochschüler, viele Studierende haben Geldsorgen, weil ihre Jobs wegbrechen. Sie wollen Kredite vergeben und kein BAföG, kein Not-BAföG. Warum?
Karliczek: Wir haben uns schon ganz früh auf den Weg gemacht, weil wir natürlich wissen: Auch die Unsicherheit bei den Studierenden, sowohl, findet mein Semester überhaupt statt, als auch, sind die finanziellen Gegebenheiten wie vorher da, auch das hat uns natürlich von Anfang an umgetrieben, als klar war, dass eben, ich sage mal, diese Pandemie uns doch auch im Bereich der Hochschulen länger beschäftigen wird. Es haben sich auf der einen Seite die Wissenschaftsminister relativ früh auf den Weg gemacht und haben gesagt, das Sommersemester soll als Online-Semester stattfinden, und Laborkapazitäten und zum Beispiel auch Kolloquien werden dann so organisiert, wie es unter Hygiene- und Abstandsregeln möglich ist. Dazu haben sie das Sommersemester dann pro forma erst mal um 14 Tage verlängert und haben gesagt, das Wintersemester soll erst zum ersten November stattfinden. So weit die organisatorische Seite. So, und die finanzielle Seite, dafür haben wir uns dann stark gemacht und haben relativ früh schon gesagt, es ist auf jeden Fall klar, egal, ob die Hochschule oder auch die Schule wieder aufmacht, BAföG-Zahlungen laufen weiter. Und wir sind dann hingegangen, weil ja klar war, dass viele von den Studierenden sich auch engagieren in systemrelevanten Tätigkeiten, dass sie auch das zum Beispiel nicht angerechnet kriegen. Wir haben ganz früh darauf aufmerksam gemacht, für die, wo zum Beispiel Eltern jetzt in Kurzarbeit fallen, dass sie ganz kurzfristig auch noch mal einen Aktualisierungsantrag stellen können für ihr BAföG. Man muss ja immer wissen: Das BAföG …
"Sind in sehr guten Gesprächen" zu schnellen Hilfen für Studierende in Not
Heinlein: Aber es geht ja nicht nur um Studenten, die jetzt schon BAföG erhalten, sondern um die Studenten, die eben kein BAföG erhalten, weil ihre Eltern zu viel verdienen, aber dennoch arbeiten müssen, und jetzt können sie nicht mehr arbeiten und entsprechend ihre Miete nicht mehr bezahlen.
Karliczek: Genau, und deswegen muss man auch genau unterscheiden. Das eine sind die, die eben BAföG-berechtigt sind, das sind alle die, die im Erststudium sind und in der Regelstudienzeit, und dann gibt es eine Gruppe von Studierenden in unserem Land, für die eben diese BAföG-Regeln nicht gelten, die sich nicht daran wenden können, dann BAföG zu beantragen, das sind ausländische Studierende, Studierende im Zweitstudium und eben Studierende nach der Regelstudienzeit. Und weil die ja generell keine Sozialleistungen von unserem Staat kriegen in unserem Regelsystem, wollen wir für die eine ganz schnelle Überbrückungsmöglichkeit schaffen. Da sind wir jetzt in guten Gesprächen, ich hoffe, dass wir das in dieser Woche noch abschließen können. Was wir nicht gebrauchen können im Moment, ist, dass wir jetzt in ein langwieriges Gesetzgebungsverfahren gehen. Wir wollen denen schnell helfen. Wenn die ihren Job verloren haben und haben kurzfristig noch keinen neuen bekommen, dann brauchen sie jetzt eine Überbrückungsmöglichkeit. Und diese Überbrückungsmöglichkeit wollen wir ihnen schaffen. Da sind wir in sehr guten Gesprächen. Ich denke, dass das in dieser Woche jetzt was wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.