Es sei derzeit eine schwierige Situation für die Politik, sagte der
Neurobiologe und Psychologe Gerald Hüther von der Universität Göttingen im Dlf
. Denn je nachdem, welchen Experten man frage, sei die Gewichtung eine andere. Ein Virologe könne vielleicht sagen, wie man Ansteckungen am besten vermeide, aber vermutlich weniger, "was das mit Kindern macht", sagte Hüther. Er plädierte aus seiner Sicht als Psychologe für eine schnelle Öffnung der Schulen im Interesse der Kinder und Eltern.
Schule sei nicht nur zum Lernen da. Für Kinder sei es ein Ort, an dem ihre sozialen Bedürfnisse umsetzen können, wo sie lernen, "wie das Leben geht", sagte Hüther. Wenn das, wie jetzt in der Zeit der wochenlangen Schul- und Kitaschließungen nicht möglich sei, dann habe das möglicherweise langfristige Folgen.
Wenn das Bedürfnis eines Kindes, mit anderen Kindern zusammen zu sein, über eine so lange Zeit nicht erfüllt werden kann, habe das Kind gar keine andere Möglichkeit, als das Bedürfnis nach Kontakt und Zusammensein, nach Spielen und Spontanität in seinem Gehirn zu unterdrücken. Das könne langfristige Folgen haben und zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führen. Erwachsene könnten das aushalten, weil sie über einen viel größeren Erfahrungsschatz verfügten. Bei Kindergartenkindern etwa sei das etwas ganz anderes.
Ganz anders sieht eine
komplette Schulöffnung, wie sie etwa schon Schleswig-Holstein plant
, aus Sicht der Lehrer aus. Viele von ihnen gehören wegen ihres Alters oder wegen Vorerkrankungen zu den Risikogruppen. Er fühle sich ein wenig wie ein Versuchskaninchen, sagte Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, im Dlf. Man könne den Eindruck haben, dass an Deutschlands Schulen ein riesiges Experiment gestartet werde. Geht das gut, wenn alle Kinder wieder in die Schulen kommen?
Was für Politiker die Entscheidung nicht einfacher macht, ist die Tatsache, dass die Ansichten darüber auch unter den Virologen auseinandergehen. Während einige Studien darauf verweisen, dass Kinder weniger infektiös seien, sagte der Virologe Christian Drosten im Dlf, dass "die Kinder weniger infektiös sind oder weniger empfänglich für die Infektion, das sieht für mich überhaupt nicht so aus".
"Aber dennoch würde ich zum Beispiel als Privatperson und nicht als Virologe durchaus auch natürlich die Notwendigkeit sehen und unterstützen, dass dieser gesellschaftlich extrem wichtige Bereich der Kinderbetreuung und Erziehung wieder belebt werden muss", sagte Drosten.
Der Virologe Alexander Kekulé teilt Christian Drostens Einschätzungen, was die Ansteckungsgefahr durch Kinder angeht, hingegen nicht. Die Studie seines Kollegen sei mit vielen Fragezeichen versehen, sagte Kekulé im Dlf.
Viele Fragen werden aber wohl bis zum Beginn des neuen Schuljahrs ungeklärt bleiben. Sicher scheint nur: "Es wird kein normaler Schulbetrieb sein, es wird kein normales Schuljahr sein", sagte
Kai Maaz, der Geschäftsführende Direktor beim Leibniz Institut für Bildungsforschung und Information, im Dlf
. Er leitet eine Kommission im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung, die sich mit der Frage beschäftigt hat, wie es im nächsten Schuljahr nach den Ferien idealerweise weiter gehen könne. "Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir mit Unsicherheit leben." Präsenzunterricht müsse medizinisch vertretbar sein, aber "wir wissen nicht, wie sich die Infektionszahlen verändern".
Die Frage sei, ob die Schulen gut vorbereitet seien auf das, was im neuen Schuljahr auf sie zukomme, sagte Maaz. Hinzu komme, dass sich durch die letzten Wochen eine Reihe von Problemen aufgestaut hätten, die bis zum Beginn des neuen Schuljahres nicht abgearbeitet seien. Dazu gehörten auch die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Kinder in den letzten Wochen zu Hause gelernt hätten. Deshalb müsse man unter anderem für das neue Schuljahr darüber nachdenken, die Lehrpläne zu entschlacken, Kürzungen in den Lehrplänen vorzunehmen. Das dürfe aber nicht zu Lasten der Qualität der Bildung gehen.