Bildungsfreiheit
Schulpflicht in Deutschland - sinnvoll oder nicht?

In Deutschland herrscht Schulpflicht. Sie soll sicherstellen, dass alle Kinder eine grundlegende Bildung erhalten und sich in die Gesellschaft integrieren. Nicht alle Eltern finden die Pflicht richtig. Manche Familien wandern sogar deswegen aus.

29.07.2024
    Schüler melden sich in einer vierten Klasse in einer Grundschule in Stuttgart.
    In Deutschland müssen Kinder ab dem sechsten Lebensjahr mindestens neun Jahre lang die Schule besuchen, manchmal auch zehn Jahre, je nach Bundesland. (picture alliance / dpa / Bernd Weißbrod)
    Über acht Millionen Schüler und Schülerinnen besuchen in Deutschland eine allgemeinbildende Schule. Doch Schätzungen der Kultusministerkonferenz zufolge bleiben zwischen 500 bis 1.000 Kinder dem Unterricht fern. Der Bundesverband "Natürlich Lernen" spricht sogar von 300.000. Das verstößt in Deutschland gegen das Gesetz: Homeschooling oder Freilernen ist verboten, wird aber immer wieder von Eltern gefordert - vor allem nach der Coronazeit.

    Inhalt

    Wann und warum wurde die Schulpflicht in Deutschland eingeführt?

    Im 18. Jahrhundert: Mit dem Edikt zur Förderung des Volksschulwesens führte Friedrich Wilhelm I., König von Preußen, am 28. September 1717 die allgemeine Schulpflicht ein. Alle Kinder im Alter von fünf bis zwölf, Jungen wie Mädchen, sollten dieser Anordnung zufolge lesen, schreiben und beten lernen. Allerdings waren die Kinder nicht verpflichtet, eine öffentliche Schule zu besuchen und somit ignorierten viele die Unterrichtspflicht.
    Im Jahr 1919 wurde schließlich das Recht und die Verpflichtung aller Kinder auf einen regelmäßigen Schulbesuch in der Weimarer Verfassung verankert. Diese Bestimmung findet sich auch im Grundgesetz wieder.
    Mit der Einführung der Schulpflicht sollten alle Kinder die gleiche Bildung erhalten, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. "Der Staat hat sich da als Ober-Vormund der Kinder geriert", erklärt Heinz Elmar Tenorth, Professor für historische Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin. Er hält die Schulpflicht deswegen auch für eine soziale Errungenschaft: "Mit der Weimarer Verfassung wird die Klassentrennung im Bildungswesen aufgehoben, weil man hoffte, über die Schule ein gemeinsames Bewusstsein für den neuen Staat zu erzeugen."
    Diese Maßnahme stieß jedoch auf massive Kritik von bürgerlichen Eltern, die sich des Rechts beraubt sahen, ihre Kinder privat zu unterrichten. In den 1920er-Jahren wurde die Kritik teilweise durch die Gründung von Privatschulen und Konfessionsschulen sowie die Verkürzung der Grundschulzeit eingedämmt.

    Wie lang ist man in Deutschland schulpflichtig?

    In Deutschland müssen Kinder ab dem sechsten Lebensjahr mindestens neun Jahre lang die Schule besuchen, manchmal auch zehn Jahre, je nach Bundesland. Nach dieser Zeit müssen Jugendliche, die keine Vollzeitschule im Sekundarbereich II besuchen, für etwa drei Jahre eine Berufsschule besuchen, abhängig von ihrer Ausbildungsdauer. Die Schulpflicht gilt auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen.

    Warum ist Homeschooling in Deutschland verboten?

    Das Bundesverfassungsgericht hat 2006 entschieden, dass Homeschooling in Deutschland verboten ist, um sicherzustellen, dass alle Kinder die Vielfalt von Meinungen und Kulturen in öffentlichen Schulen erleben können. Auch während der Corona-Pandemie gab es nur eine temporäre Ausnahmeregelung für Homeschooling. Im Jahr 2021 wurde das Verbot erneut bestätigt.
    In seiner Begründung sagte das Bundesverfassungsgericht, dass man jedem Kind zumuten muss, in die öffentliche Schule zu gehen, die Unterschiedlichkeit von Meinungen, Kulturen und Weltanschauungen authentisch zu erfahren, ertragen zu lernen, Toleranz einzuüben, erläutert Pädagoge Tenorth.
    Eltern von Schulverweigerern riskieren in einigen deutschen Bundesländern nicht nur Geldstrafen, sondern auch Gefängnisstrafen oder den Verlust des Sorgerechts, wenn das Kindeswohl gefährdet ist.

    Was sagen Kritiker der deutschen Schulpflicht?

    Lange Fahrtzeiten in ländlichen Kreisen, zu große Klassen, zu wenig individuelle Freiheit: Kritiker führen viele Argumente ins Feld. Sie sehen die Bildungsfreiheit einschränkt und Kinder in ein starres Bildungssystem gezwängt, das möglicherweise nicht ihren Bedürfnissen entspricht. Darüber hinaus wird bemängelt, dass die Schulpflicht nicht allen Kindern gerecht wird, insbesondere solchen mit besonderen Bedürfnissen oder aus benachteiligten sozialen Verhältnissen.
    Eltern bevorzugen Homeschooling auch, weil das eine freiere und zeitlich flexiblere Alternative ist und weil sie Bedenken wegen der Umstände an öffentlichen Schulen haben. Freilerner, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, setzen nicht auf den traditionellen Stundenplan, sondern fördern ihre Kinder nach individuellen Interessen. Dieser Ansatz, auch als "Unschooling" bekannt, bedeutet eine Abkehr von konventionellen Lehrmethoden.
    Einige Eltern entscheiden sich sogar dafür mit ihren Kindern auszuwandern, um die Schulpflicht in Deutschland zu umgehen.

    Was spricht für die Schulpflicht?

    Zunächst einmal bietet sie allen Kindern die Möglichkeit auf eine grundlegende Bildung, unabhängig von ihrer sozialen oder wirtschaftlichen Herkunft. Die Schulpflicht fördert auch die soziale Integration und schafft feste soziale Kontakte.
    Darüber hinaus ermöglicht sie es dem Staat, sicherzustellen, dass Kinder die erforderlichen Kompetenzen erwerben, um als aktive Bürgerinnen und Bürger an der Gesellschaft teilzunehmen. So sieht es auch das Bundesverfassungsgericht, sagt Pädagoge Tenorth: "Da wird die Schule vom Bundesverfassungsgericht als der einzige Ort in unserer Kultur gekennzeichnet, wo unterschiedliche Kulturen gemeinsam miteinander auskommen müssen."

    Wie sieht es mit der Schulpflicht bei geflüchteten Kindern aus?

    Generell gilt die Schulpflicht in Deutschland auch für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Doch in einigen Kommunen warten sie manchmal monatelang auf einen Schulplatz, vor allem in Großstädten und Ballungsräumen. Betroffen sind sowohl Kinder, die mit ihren Familien nach Deutschland geflüchtet sind, als auch unbegleitete Minderjährige. So fehlen etwa in Dresden laut dem sächsischen Kultusministerium Schulplätze für 1.600 Kinder, die keinen deutschen Pass haben. In Berlin waren es im September 2023 knapp zweitausend geflüchtete Kinder.
    Die Jugendlichen seien Monate, teilweise Jahre auf der Flucht, eine Zeit, in der sie keine Schule besuchten, sagt Andreas Thewalt, Journalist und Vormund minderjähriger Flüchtlinge. Die Schule sei für sie eine wichtige Gelegenheit, um Deutsch zu lernen, eine Tagesstruktur zu haben und Freunde zu finden. Das helfe ihnen, sich zu integrieren und eine Perspektive für sich zu entwickeln.
    Flüchtlingsräte und Hilfsorganisationen kritisieren die Situation schon länger. Gründe seien vor allem die lange Verweildauer in vorläufigen Unterbringungseinrichtungen sowie der Lehrermangel. Die Schulen hätten nicht genügend Plätze in Vorbereitungs- und Sprachlernklassen.
    Die Bundesländer gehen unterschiedlich mit der Problemlage um. Während in Bayern laut offiziellen Angaben alle schulpflichtigen Kinder unterrichtet werden können, wissen die zuständigen Ministerien in Hessen und Niedersachsen nicht, wie viele schulpflichtige Kinder und Jugendliche von dieser Problematik betroffen sind. In Nordrhein-Westfalen waren es zum 1. Juli 2024 landesweit über 1.800 Kinder und Jugendliche, die noch auf einen Schulplatz warten.

    Welche Konzepte gibt es in anderen Ländern?

    Ähnliche Schulpräsenz-Konzepte wie in Deutschland gibt es unter anderem noch in Schweden, Zypern, Nordkorea oder China. Viele andere Länder weltweit haben dagegen alternative Bildungskonzepte wie eine Lern-, Unterrichts- oder Bildungspflicht. In fast allen europäischen Ländern ist Homeschooling - wenn auch teilweise unter Auflagen - erlaubt.
    In Belgien gibt es beispielsweise eine Lernpflicht. Dies bedeutet, dass Kinder nicht zwingend eine Schule besuchen müssen, sondern auch zu Hause oder in anderen Bildungseinrichtungen lernen können, solange bestimmte Bildungsstandards erfüllt werden und der Lehrplan eingehalten wird. In Spanien und Italien gilt die Bildungsfreiheit.
    Ähnlich verhält es sich etwa in Österreich, Portugal, Großbritannien, den Niederlanden, in Kanada, Australien, Neuseeland und einigen Staaten der USA. Auch dort sind Homeschooling, Online-Unterricht oder Privatunterricht erlaubt, solange gewisse Bildungsziele erreicht werden. Diese werden unterschiedlich konsequent überprüft, etwa durch Hausbesuche oder Wissenstests.
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