Schulen in reicheren Ländern waren im letzten Jahr rund 50 Tage geschlossen, in ärmeren Ländern war das mehr als doppelt so lange der Fall, sagte Christine Kahmann von UNICEF Deutschland. Die Hilfsorganisation warnt davor, dass die Schulschließungen in vielen Teilen der Welt noch in Jahrzehnten zu spüren sein werden.
"Pandemie hat weltweite Bildungskrise ausgelöst"
Kinderarbeit oder Kinderehen seien für viele in Not geratene Familien der Ausweg – mit der Folge, dass bis zu 24 Millionen Kinder nicht mehr in die Schule zurückkehren könnten. Kahmann forderte im Deutschlandfunk, Schulschließungen um jeden Preis zu vermeiden, etwa durch die verstärkte Bereitstellung von Impfdosen für ärmere Länder.
Matthis Jungblut: Welche Regionen sind denn am längsten betroffen von den Schulschließungen?
Christine Kahmann: Fest steht ja, dass die Pandemie eine beispiellose weltweite Bildungskrise ausgelöst hat. Auf dem Höhepunkt der nationalen Lockdowns waren rund 1,5 Milliarden Schülerinnen und Schüler auf der ganzen Welt von Schulschließungen betroffen – und viele von ihnen hatten auch keinen Zugang zu alternativen Lernmöglichkeiten, Fernunterricht oder Unterricht über das Radio. Aktuell sind noch immer 600 Millionen Kinder von Schulschließungen betroffen, zum Beispiel mussten viele Schulen im östlichen und südlichen Afrika wegen steigender Fallzahlen zuletzt wieder schließen. In manchen Ländern wie zum Beispiel Brasilien waren die Schulen ein ganzes Jahr geschlossen. Weltweit gibt es Unterschiede bei der Dauer des Schulausfalls und im Zugang zu alternativen Lernmöglichkeiten. In reicheren Ländern waren zum Beispiel die Schulen im letzten Jahr rund 50 Tage geschlossen, hingegen in den ärmeren Ländern durchschnittlich 115 Tage. Sie trifft die Bildungskrise daher mit besonderer Wucht.
24 Millionen Kinder – "eine sehr erschreckende Zahl"
Jungblut: Wenn wir mal in Afrika bleiben, was hat das denn konkret vor Ort für Folgen, wenn da die Schule ausfällt für Kinder?
Kahmann: Die Pandemie hat die Not vieler Menschen weiter verschärft, das ist einer der Gründe davon. Viele Eltern haben ihre Jobs und damit ihre Lebensgrundlage verloren und sind in noch größere Armut und Not geraten. Und oft sehen sie keinen anderen Weg, als ihre Kinder früh zu verheiraten oder sie arbeiten zu schicken. Wir haben gesehen, dass immer mehr Kinder zusätzlich in Kinderarbeit gedrängt werden, dass die Zahl der Kinderehen steigt, aber auch der Teenager-Schwangerschaften. Und wir dürfen natürlich auch nicht vergessen, dass Schule mehr ist als ein Ort zum Lernen, für die meisten Kinder sind Schulen Orte, an denen sie Unterstützung erhalten, wo sie Zugang zu Gesundheitsversorgung haben, Impfungen oder auch die einzige nahrhafte Mahlzeit am Tag erhalten. Für andere sind es wichtige Schutzräume, gerade in Krisen- und Konfliktkontexten, denn die Gemeinschaft dort bietet Sicherheit.
Jungblut: Jetzt gab es ja in den letzten Jahren ja auch immer viele Projekte, auch von UNICEF zum Beispiel gefördert. Droht jetzt da die Gefahr, die Entwicklung der letzten Jahre wieder komplett zurückzudrehen?
Kahmann: Auf jeden Fall! Wir gehen davon aus, dass die weltweite Zahl der Kinder, die gar keine Schule besuchen, also, die nicht mehr in die Schule zurückkehren wegen der Pandemie, um 24 Millionen Kinder ansteigen könnte. Das ist wirklich eine sehr erschreckende Zahl. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass schon vor der Pandemie eines von fünf Kindern nicht zur Schule ging. Und dass es großer Herausforderungen auch gab, was die Qualität der Bildung angeht. Trotz Schulbesuch fehlten vielen Kindern grundlegende Kenntnisse im Lesen und Rechnen, das müssen wir natürlich angehen, um eine Verschärfung dieser Situation zu vermeiden.
Landesweite Schulschließungen um jeden Preis vermeiden
Jungblut: Was gibt es denn für Perspektiven? Impfstoffe sind natürlich eine Lösung, tun die Industriestaaten da genug, also auch im Rahmen der COVAX-Initiative?
Kahmann: Wir müssen natürlich jetzt mit allen Kräften darauf hinarbeiten, dass Kinder wieder lernen können, denn die Nachteile, die Kinder dadurch erleiden, dass sie nicht zur Schule gehen können, können möglicherweise nie wieder ausgeglichen werden. Deswegen fordert UNICEF, dass Schulen so schnell wie möglich wieder geöffnet werden und landesweite Schulschließungen um jeden Preis auch vermieden werden. Aber das reicht natürlich nicht aus. Sie haben ein Beispiel genannt, und zwar müssen wir natürlich auch alles dafür tun, die Pandemie zu beenden. Und dafür müssen wir dringend die Fortschritte beim Impfen beschleunigen und allen Ländern gerechten Zugang zu Impfstoffen verschaffen. Deswegen fordern wir alle Länder, die verfügbare Impfdosen haben, auf, diese Impfdosen jetzt auch schnellstmöglich zu teilen. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen, konnten beispielsweise im Butan zuletzt innerhalb einer Woche fast 90 Prozent der Erwachsenen das zweite Mal geimpft werden durch diese Spenden. Das wäre sonst nicht möglich gewesen.
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