Nach dem Corona-Ausbruch beim Schlachtbetrieb Tönnies gibt es jetzt 730 registrierte Neuinfektionen, wie ein Sprecher des Kreises Gütersloh bestätigte. 7000 Menschen wurden in Quarantäne geschickt. Im Tönnies-Stammwerk in Rheda-Wiedenbrück dauern die Tests noch an. Dort arbeiten tausende Mitarbeiter. Der Kreis hat deshalb die Bundeswehr um Hilfe gebeten. Die Soldaten sollen bei der Durchführung des Reihentests unterstützen. Bislang hatten das Rote Kreuz und die Malteser geholfen. Diese Organisationen stießen den Angaben zufolge aber an ihre Grenzen.
Kontrolle der Menschen in Quarantäne: "Eine Mammutaufgabe"
Landrat Sven Georg Adenauer sagte im Dlf, es sei eine Mammutaufgabe, die Menschen in der Quarantäne zu halten. Ordnungsämter und Polizei würden das Geschehen im Kreis Gütersloh nun verstärkt kontrollieren. Adenauer verteidigte auch die Maßnahme, erneut Kitas und Schulen zu schließen. Viele Kinder von Angestellten der Firma Tönnies würden die Einrichtungen besuchen. Man wolle die gesunden Kinder schützen und habe sich nach Beratungen mit dem Krisenstab und dem Ministerium auf Landesebene zu diesem Schritt entschieden. Die Wut der Eltern sei jedoch nachvollziehbar, sagte Adenauer.
Er befürwortete zudem schnelle Änderungen der Bedingungen in der Fleischindustrie. Die Politik habe diese angekündigt, jetzt müsse sie auch liefern.
Das Interview im Wortlaut:
May: Sie haben Hilfe von der Bundeswehr angefordert. Das kennen wir eigentlich sonst nur von Flugkatastrophen. Ist die Lage bei Ihnen tatsächlich ähnlich dramatisch?
Adenauer: Die Lage ist schon ernst, weil wir mittlerweile 730 positive Fälle haben. Die Bundeswehr ist allerdings deshalb bei uns ab heute im Einsatz, weil meine Mitarbeiter fix und foxi sind. Die haben jetzt unheimlich viele Corona-Tests durchgeführt und wir brauchen einfach Unterstützung. Die Bundeswehr wird bei uns eingesetzt, um Corona-Tests durchzuführen.
Bedingungen für Virus sind günsitg
May: 730 Infizierte werden schon gezählt bei "nur" 1100 Tests. Das ist ja eine unglaubliche Quote. Und 5000 Tests stehen noch aus. Kann man das noch mit Pech erklären, oder ist da etwas fundamental schiefgelaufen?
Adenauer: Ich glaube, da kommen viele Dinge zusammen. Zum einen sind wahrscheinlich die Bedingungen für die Entwicklung eines Virus innerhalb des Betriebes ziemlich günstig gewesen. Es herrschen dort hohe Luftfeuchtigkeit und niedrige Temperaturen. Das ist für das Virus sehr, sehr gut. Wahrscheinlich sind auch die Abstände nicht eingehalten worden.
Zum anderen gibt es auch die Theorie, dass viele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Öffnung der innereuropäischen Grenzen nachhause gefahren sind, und das hätten wir beide wahrscheinlich auch gemacht, wenn wir wochenlang kaserniert gewesen wären, und haben sich dann zuhause angesteckt und das Virus mit in den Betrieb gebracht. Ich glaube, das ist eine ganze Gemengelage von Gründen, die dazu geführt hat, dass wir jetzt diese Situation haben.
May: Sie machen sich die Theorie von Armin Laschet, dem Ministerpräsidenten, der das ja auch als größten Infektionstreiber dargestellt hat, zu eigen?
Adenauer: Ich weiß nicht, ob das jetzt der größte Grund ist. Aber es ist mit ein Grund, weshalb wir jetzt diese Zahlen haben. Es gibt verschiedene Gründe und das alles zusammen hat dazu geführt.
"7000 Menschen zu kontrollieren, das ist schon verdammt schwierig"
May: Jetzt ist das Infektionsgeschehen bei Ihnen ja deutlich mehr oder deutlich größer als von Bund und Ländern die beschlossene Obergrenze von 50 Neuinfektionen pro Woche. Müsste es dann nicht einen kompletten Lockdown bei Ihnen geben statt nur Schulschließungen?
Adenauer: Darüber habe ich natürlich auch intensiv mit meinem Krisenstab nachgedacht. Wir wissen aber, dass das Virus lokal auf einen bestimmten Raum, auf ein bestimmtes Unternehmen begrenzt ist. Wir haben bisher, wenn wir die Entwicklungen bei Tönnies nicht hätten, ein völlig normales Geschehen im Kreis Gütersloh wie in anderen Kreisen in Deutschland auch. Deshalb wäre der Shutdown für mich erst dann ein Thema, wenn wir an anderen Stellen des Kreises möglicherweise auch plötzlich ganz hohe Zahlen bekämen. Das ist bei uns nicht der Fall. Wenn das so wäre, dann würden wir natürlich auch entsprechend handeln. Aber deshalb haben wir das auf die Schulen und Kindergärten erst mal beschränkt.
May: Wie überwachen Sie denn 7000 Menschen in Quarantäne?
Adenauer: Das ist das riesen Problem. 7000 Menschen zu überwachen, das ist eine verdammt schwierige Geschichte. Da brauchen wir auch die Hilfe der örtlichen Ordnungsbehörden, der Kommunen im Kreis Gütersloh. Die werden das auch tun. Ich bin auch Gott sei Dank Chef der Kreispolizei. Wir werden mit der Polizei auch verstärkt Streifen fahren. Wir werden natürlich stichprobenartig mit dem Gesundheitsamt und den Kommunen schauen, ob die Menschen die Abstände einhalten, ob sie sich insgesamt an die geltenden Regeln halten. Aber das ist die Mammutaufgabe, vor der wir stehen, und da werden wir uns noch ganz intensiv Gedanken machen müssen, denn 7000 Menschen zu kontrollieren, das ist schon verdammt schwierig und ist fast unmöglich.
Verständnis für Ärger der Eltern
May: Sie haben es gesagt. Am Ende als einzige Maßnahme, wenn man jetzt von der Quarantäne absieht, sind wieder die Schulen und Kitas im Kreis geschlossen worden. Wie erklären Sie das eigentlich den Eltern und den Kindern? Kann man denen das erklären?
Adenauer: Das ist verdammt schwierig und ich habe großes Verständnis dafür, dass es da riesen Ärger gibt, weil die Schulen und die Kindergärten ja gerade erst wieder angelaufen sind. Aber ich will die gesunden Kinder, sage ich mal, schützen, denn es ist mit Sicherheit so – und wir wissen das auch von den Zahlen her -, dass es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Firma Tönnies gibt, die auch Kinder in den Schulen haben. Und wenn die Schulen auf hätten, dann würde das Virus vom Unternehmen in die Schulen durch die Kinder kommen und würde von da aus in den Kreis Gütersloh überspringen, und dann hätten wir das, was keiner will, nämlich möglicherweise dann als Konsequenz den Shutdown, weil wir ganz, ganz viele Infektionen im Kreis Gütersloh hätten.
May: Aber verstehen Sie die Wut vieler Eltern und Kinder auf Tönnies, auf die Familie, auf den Betrieb, auf die Firma?
Adenauer: Ja, das kann man schon nachvollziehen, dass da große Wut und Unverständnis herrscht, denn immerhin wissen wir ja, wo das Virus sich aufhält, und das ist nun mal im Betrieb von Tönnies.
"Wir haben das gemacht, was man machen kann"
May: Jetzt steht natürlich die Frage geradezu schreiend im Raum: Warum kann man Schulen und Kitas flächendeckend und auch präventiv schließen, wo wir bisher ja nicht davon ausgehen, dass Schulen und Kitas wirklich zu den Infektionstreibern gehören, aber Fleischbetriebe, die dürfen weitermachen, obwohl die ganz offensichtlich zu den Infektionstreibern gehören? Der Ausbruch bei Tönnies war ja nicht der erste Ausbruch bei einem Fleischbetrieb.
Adenauer: Das ist so. Da ist der Gesetzgeber natürlich auch gefordert. Aber wir haben das gemacht, was man machen kann. Wir haben den Betrieb, als die Zahlen nach oben gingen, sofort geschlossen. Wir haben sofort den Shutdown für die Firma Tönnies angeordnet. Das ist das, was ich machen kann. Das habe ich sofort getan. Und jetzt haben wir die Situation so, wie sie jetzt ist.
May: Hat die Politik dennoch das öffentliche Leben möglicherweise an der falschen Stelle heruntergefahren?
Adenauer: Ich glaube das nicht. Ich hätte natürlich auch sagen können, wir machen jetzt nicht nur die Kindergärten dicht und die Schulen, sondern auch noch andere Bereiche. Aber dann wäre der Protest aus anderen Bereichen noch größer gewesen. Man hätte ja auch überlegen können, man macht jetzt noch Gaststätten dicht oder verbietet es den Sportvereinen zu trainieren und so weiter und so fort. Wir haben jetzt mit dem Bereich angefangen, von dem mir meine Fachleute gesagt haben, dass es am effektivsten ist, wenn wir das jetzt machen. Und wie gesagt: Ich will die Kinder im Kreis Gütersloh schützen vor Infektionen, die aus dem Bereich Tönnies kommen. Das war für mich der Grund, diese Maßnahme so anzuordnen. Und die habe ich, das ist mir noch mal wichtig, nicht im stillen Kämmerlein getroffen, sondern nach Beratungen mit dem Krisenstab und nach Rücksprache mit dem entsprechenden Ministerium im Land.
Politik "muss jetzt liefern"
May: Jetzt steht ja die Fleischindustrie grundsätzlich groß in der Kritik. Wir haben es gerade im Beitrag gehört. Die Werkverträge werden als ein großes Übel ausgemacht in der Fleischindustrie. Wäre jetzt nicht in der Corona-Krise per se ein guter Moment, Schluss zu machen mit diesem Geschäftsmodell der deutschen Fleischindustrie, das nachweislich ja auf Ausbeutung von Mensch, Tier und Umwelt beruht?
Adenauer: Ja! Das hat die Politik ja auch vollmundig angekündigt, dass sie da was tun will. Dann muss sie jetzt liefern. Beim Bund muss die entsprechende Gesetzgebungsmaschinerie in Anlauf kommen und anlaufen. Dann haben wir die Handhabe, da auch was zu ändern.
May: Sie haben sonst keine Handhabe, dass Sie noch schärfer darauf gucken können?
Adenauer: Nein! Ich kann den Betrieb dichtmachen. Das habe ich gemacht. Darüber hinaus sind mir die Hände gebunden.
May: Um wie viele Arbeitsplätze wird es bei Ihnen gehen?
Adenauer: So ungefähr 6800, und das ist natürlich schon eine Menge.
May: Wären die dann in Gefahr, wenn die Arbeitsbedingungen verbessert werden müssten qua Gesetz?
Adenauer: Das weiß ich nicht. Das ist eine Frage, die das Unternehmen beantworten muss. Ich weiß nur, dass das Unternehmen weit über Mindestlohn auch bezahlt und dass viele Menschen gerne auch in dem Unternehmen arbeiten. Das kann möglicherweise jetzt, nachdem es diese Infektionen gibt, auch eine andere Situation sein. Ich glaube, die Fleischindustrie insgesamt muss sich anders aufstellen, und das wird sie nach dieser Diskussion auch mit Sicherheit tun. Ich glaube, man muss natürlich auch wissen: Da hängen natürlich auch noch andere Arbeitsplätze dran, zum Beispiel in der Landwirtschaft. Die Landwirtschaft, die Schweine züchtet, guckt natürlich auch mit Interesse auf das, was hier passiert. Da hängen auch bei der Landwirtschaft viele, viele Arbeitsplätze dran.
May: Würden Sie Billigfleisch essen?
Adenauer: Ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn Fleisch viel teurer wäre – überhaupt nicht -, und ich suche mir mein Fleisch aus nach Qualität und da kommt bei mir nicht immer das billigste auf den Tisch.
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