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Schulunterricht
Zwölf Jahre nach dem Pisa-Schock

Die erste Pisa-Studie 2001 erschütterte das deutsche Bildungssystem. Inzwischen hat sich einiges geändert: An vielen Schulen gehören schlichtes Auswendiglernen und das Einpauken von Daten der Vergangenheit an.

Von Torben Hildebrandt |
    Leeres Klassenzimmer
    Regelmäßig vergleichen die Wissenschaftler die Leistungen von 15-jährigen Schülern. (picture alliance / dpa / Stefan Sauer)
    Lucas ist in der 5. Klasse, er besucht die Oberschule in Gehrden bei Hannover. So stellt er sich eine PISA-Studie vor:
    "Also, ich würde in eine Tabelle oben alle Länder hinschreiben und darunter alle Städte. Und dann die Schulen, also unsere Oberschule hier: Platz fünf. Als Beispiel."
    Nicht ganz, aber die wesentlichen Merkmale von PISA, die hat Lucas erkannt: Bildung wird vergleichbar, aufgeschlüsselt nach Ländern, aufgeschrieben in Tabellen. Vielleicht ist er in ein paar Jahren selbst ein Teil von PISA: Regelmäßig vergleichen die Wissenschaftler die Leistungen von 15-jährigen Schülern. Seit 2001 gibt es die Rankings. Christiane Fricke unterrichtete damals, bei der ersten Veröffentlichung Englisch: sie kann sich noch gut erinnern:
    "Wir waren alle betroffen, weil wir uns Mühe geben, den Schülern was beizubringen. Und dass das Ergebnis so dürftig ausgefallen ist, das war schon ein Schock, ja."
    Der PISA-Schock. Damals stellten die Forscher noch fest: Deutschlands Bildungssystem hat Schwächen, zum Beispiel im Bereich Lesen: Jeder vierte Schüler konnte damals Texte nicht verstehen. Oder: In Mathe kamen 15-Jährige nicht über Grundschulniveau hinaus. Stattdessen feierten sich Finnland oder Kanada, Südkorea oder Japan als Bildungsnationen. Die deutschen Kultusminister reagierten – mehr Ganztagsunterricht, mehr frühkindliche Bildung, mehr eigenverantwortliches Lernen, so sahen die Beschlüsse aus. Heute, zwölf Jahre später, merkt man das auch an der Oberschule Gehrden:
    "Ich wünsche Euch einen wunderschönen Guten Morgen."
    Mathelehrerin Katharina Plate hat für ihre Klasse die Lerntheke aufgebaut: ein kleiner Tisch neben der Tafel, mit Aufgabenzetteln rund ums Koordinatensystem.
    "Da können die Schüler selbst entscheiden, was sie machen. Mit welchem Arbeitsblatt sie anfangen, mit welchem Schwierigkeitsgrad, da wird die Selbstständigkeit ein bisschen gefördert."
    Die Lerntheke gehört hier zum Alltag: Es ist normal, dass Schüler im Unterricht mal hier und mal da sitze, und sich gegenseitig mit den Aufgaben helfen. Schlichtes Auswendiglernen, das Einpauken von Daten – das war einmal, vor PISA, sagt Schulleiter Carsten Huge:
    "Sie finden kaum noch, dass jemand vorne steht und 45 Minuten, was runterbetet, es sind individuelle Lernmethoden eingeführt worden, also kompetenzorientierter Unterricht. Das, was passiert ist, sind zwar Anfänge, aber es ist der richtige Weg."
    Nach der ersten PISA-Studie empfahlen die Experten mehr gemeinsamen Unterricht. Schule sollte nicht nur auf Noten schauen, sondern auf die individuellen Stärken und Schwächen von Kindern. Oliver Michele hat sich das zu Herzen genommen: Er unterrichtet Mathe und Naturwissenschaften am Gymnasium im Schloss in Wolfenbüttel:
    "Ich arbeite jeden Tag daran, dass Kinder ihre eigenen Wege gehen, sei es in Gruppenarbeit, in Stillarbeit, mit Texten. Natürlich müssen wir sie aber alle am Ende auf Spur bringen für die Arbeit, die ja verbindlich vorgeschrieben ist."
    Oliver Michele ist ein Lehrer, wie ihn sich Bildungsexperten wünschen. Das liegt nicht unbedingt an seiner Ausbildung, sondern vor allem am persönlichen Engagement:
    "Ich nehme mir für jedes Kind Zeit. Wenn es Fragen hat, dann soll es fragen. Wenn ein Kind Hausaufgaben macht und es schafft es nicht, und mir eine E-Mail schreibt, dann ist es selbstverständlich, dass ich um 16 Uhr, um 18 Uhr um 20 oder 22 Uhr noch antworte. Das heißt: Die Kinder haben jede Chance zu lernen, und wenn sie die ergreifen wollen, dann haben wir es geschafft."
    Doch der Eifer der Lehrer wird viel zu oft gebremst, kritisieren Pädagogen. Zu viel Bürokratie, zu wenig Personal, zu wenig Zeit, das sind alltägliche Probleme. Je besser die Schulen ausgestattet sind, desto leichter lassen sich auch PISA-Ideale umsetzen, meint Englischlehrerin Christiane Fricke:
    "Wir sehen ja, wenn wir kleine Klassen bilden können, dass wir die Schüler individueller unterrichten können. Wenn ich einer Klasse mit 15 Kindern zwei Lehrer habe, dann kann ich viel mehr bewirken, als wenn ich mit 30 Schülern alleine bin."
    Den Ländern fehlt es an Geld, vieles Wünschenswerte ist schlicht nicht bezahlbar. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass Deutschland in den vergangenen PISA-Studien keine großen Sprünge gemacht hat. Der Gehrdener Schulleiter Carsten Huge kritisiert zudem, dass es keine Bildungspolitik aus einem Guss gibt:
    "Das besorgt mich sehr. Weil ich für mich den Fehler des Systems ausgemacht habe. 16 Bundesländer, 16 Systeme – das kann nicht gutgehen, führt zu keinem gemeinsamen Ziel. Nehmen sie die Nachbarländer, egal welche: ein System, ein Land, ein Ziel."
    Für Carsten Huge haben die Bildungsvergleiche ihren Schrecken verloren. Auch dem Wolfenbütteler Gymnasiallehrer Oliver Michele geht es so. Für ihn ist PISA dann ein Thema, wenn die eigene Schule am Vergleichstest teilnimmt, das letzte Mal war das vor ein paar Jahren der Fall. "Dann will man natürlich glänzen", sagt Michele. Aber sonst ist PISA für ihn kein Thema:
    "Mir macht’s halt Spaß mit den Schülern zu arbeiten, und Statistik ist in dem Fall … nicht so wichtig."