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Schurkenstück der Stasi mit tödlichem Ausgang

Am 8. Juli 1952 löste die Entführung des West-Berliner Rechtsanwalts Walter Linse durch Stasi-Agenten weit über die Stadt hinaus Protest und Empörung aus. Trotz diplomatischen Notenwechsels auf hoher alliierter Ebene blieb das Schicksal des Opfers jahrzehntelang unklar, Moskau und Ost-Berlin schwiegen sich dazu aus. Erst 1996 wurde die ganze Wahrheit publik. Jetzt ist eine erste politikwissenschaftliche Studie zum Fall Linse erschienen. Karl Wilhelm Fricke stellt sie vor


    "Hier ist ein Mensch aus unserer friedlichen Mitte geraubt worden, überfallen worden, niedergeschlagen worden, in ein Automobil hineingeschleppt, hinausgefahren in die Folterhöhlen dieser Verbrecher. Er muss uns zurückgegeben werden. Das fordern wir."

    Ernst Reuter, seinerzeit Regierender Bürgermeister von Berlin, populär in allen Sektoren der damaligen Vier-Mächte-Stadt, auf einer Protestkundgebung in West-Berlin. Sie richtete sich gegen die brutale Entführung des Rechtsanwalts Walter Linse durch Stasi-Agenten nach Ost-Berlin. Eine Nachbarin Linses, wie er in der Gerichtsstraße ansässig, war Augenzeugin des Verbrechens:

    "200 Schritte vom Hause entfernt, stand ein Taxi - ein Lieferwagen und davor ein Taxi. Vor dem Taxi befanden sich zwei junge Männer. Ein junger Mann davon ging an Herrn Dr. Linse heran. Ich nahm an, er wollte sich von ihm Feuer geben lassen für eine Zigarette. Da bekam er auch schon einen Schlag ins Gesicht, und der andere Mann zerrte ihn von hinten in den Wagen. Der Mann, der ihm den Schlag verabreichte, schob ihn an den Beinen in den Wagen und ging hinterher, hing mit den Beinen noch aus dem Auto heraus und fuhr auch schon ab. Der Fahrer von dem Lieferwagen fuhr sofort hinter ihm her und hupte sehr kräftig, wurde aber von dem Taxi aus beschossen."

    Die Untat geschah am 8. Juli 1952, frühmorgens kurz vor halb Acht in Berlin, Stadtteil Lichterfelde West, damals amerikanischer Sektor. Fünfeinhalb Jahrzehnte danach legt Benno Kirsch, promovierter Politologe und freier Journalist in Berlin, die erste wissenschaftliche Studie dazu vor. Der 36-jährige Autor schildert das Tatgeschehen, er leuchtet die Hintergründe des Falles aus, er recherchiert Linses Verhalten in der Nazi-Zeit, und er zeichnet sein weiteres Schicksal nach bis zum tragischen Ende - die Zeit nach der Verschleppung.

    Vieles davon war bereits aus einer schmalen Dokumentation bekannt, die Siegfried Mampel 1999 zum Fall Linse vorgelegt hat. Wirklich neue Erkenntnisse bietet Kirsch allerdings zur Tätigkeit des promovierten Volljuristen nach 1933. Linse, der sich nach Hitlers Machtergreifung zunächst in seiner Vaterstadt Chemnitz als Rechtsanwalt niedergelassen hatte, ohne übrigens Mitglied der NSDAP zu werden, wechselte 1938 zur dortigen Industrie- und Handelskammer.

    Hier war er, wie Kirsch nachweist, unter anderem auch als Gutachter seiner Dienststelle nolens volens in die so genannte Arisierung der jüdischen Geschäftswelt in Chemnitz verstrickt. Zitat:

    "Was in Linse vorgeht, sieht man den Akten natürlich nicht an. Auch wenn man unterstellt, dass er bei seiner Arbeit Skrupel hatte oder Gewissensbisse, so war er doch Teil des Verfolgungsapparates. Er konnte sehen, was geschah, und er hat nicht Nein gesagt."

    Die Ambivalenz seiner Verhaltensweise lässt sich daran ermessen, dass Linse in den letzten Kriegsjahren zu einer Anti-Nazi-Widerstandsgruppe stieß, der Gruppe Ciphero, und dass er konkret dabei half, einen jüdischen Ingenieur in Chemnitz vor der sicheren Ermordung zu bewahren. Mit gutem Grund plädiert Kirsch für eine differenzierte Sicht auf Walter Linse.

    "Man kann nämlich ebenfalls nicht umhin, anzuerkennen, dass er sich dem Regime zu entziehen versucht hat, so gut es ging."

    Politisch weithin unbelastet blieb Linse nach 1945 bei der Industrie- und Handelskammer Chemnitz, bis er sich im April 1949 einem drohenden Zugriff der politischen Polizei K 5 durch Flucht nach West-Berlin entziehen musste. Er war gegen unrechtmäßige Enteignungen aufgetreten. Anfang 1951 trat er in West-Berlin dem UFJ bei, dem Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen, in dem er die Leitung der Abteilung Wirtschaft übernahm. Weil der UFJ Informationen aus Politik und Justiz, Wirtschaft und Verwaltung der DDR erfasste und analysierte, bekämpfte die Staatssicherheit ihn als Spionage- und Agentenzentrale. Auch Linse, der sich keineswegs konspirativ verhielt, geriet ins Visier der Stasi, die ihn unter operative Kontrolle nahm und in West-Berlin beschatten ließ.

    Drahtzieher seiner monatelang vorbereiteten Verschleppung, die im Ministerium für Staatssicherheit unter dem Codewort "Aktion Lehmann" lief, waren drei Offiziere in der damals für den Kampf gegen so genannte Untergrundarbeit zuständigen Hauptabteilung 5. Otto Knye, Werner Eichhorn und Paul Marustzök, so ihre Namen, scheuten in diesem Kontext auch nicht die unmittelbare Zusammenarbeit mit kriminellen Milieus. Letztlich setzte die Staatssicherheit als "Geheime Mitarbeiter" verpflichtete, zumeist mehrfach vorbestrafte Kriminelle ein, die Linses Verschleppung bewerkstelligen sollten.

    "Die Biographien der ausführenden Beteiligten sind insofern aufschlussreich, als sich an ihnen anschaulich demonstrieren lässt, wie das subkulturelle Milieu aus Schmuggel und Erpressung eine Verbindung mit Staatsterror und staatlich geförderter Kriminalität eingeht","

    so der nüchterne Kommentar des Autors, der die unmittelbar beteiligten Täter wie folgt benennt: Harry Bennewitz, Deckname "Barth", Kurt Knobloch, Deckname "Boxer", Kurt Borchert, Deckname "Ringer", Herbert Krüger, Deckname "Pelz". Am Abend vor der Tat trifft sich das dubiose Quartett in Karlshorst mit Stasi-Offizieren. Ein fünfter Täter, Siegfried Benter, Deckname "Siggi", hilft bei der Tatvorbereitung, steigt in letzter Minute aber aus.

    ""Man bespricht alle Einzelheiten des Plans und legt die Rollenverteilung fest. Borchert und Knobloch sind ausersehen, Linse um Feuer zu bitten und ihn dann zu überwältigen. Krüger wird am Steuer sitzen, und Bennewitz, der Chef des Unternehmens, das Geschehen vom Auto aus überwachen. Waffen werden ausgegeben: '3 Pistolen, Fabrikat FN, Kaliber 7,65 mit ausgefeilter Nummer, und eine Pistole, Fabrikat FN, Kaliber 6,35, dazu Äther und Watte sowie ein sandgefülltes Lederkissen mit Handschlaufe'."

    Stasi-Offiziere im Bunde mit Berufsganoven, dieser Aspekt verdient, besonders hervorgehoben zu werden, seitdem Stasi-Veteranen ihre befleckte Geschichte zu verfälschen und zu verklären bemüht sind. Die Aktion verläuft genau wie geplant. Von den Tätern aufgelauert, wird Linse niedergeschlagen und in das bereit gehaltene gestohlene West-Taxi gezerrt, das über den nahe gelegenen DDR-Grenzkontrollpunkt Schwelmer Straße in Richtung Teltow davonrast. Der sich im Fond des Wagens verzweifelt wehrende Anwalt wird durch zwei Pistolenschüsse in die Wade kampfunfähig gemacht. Zu den Hintergründen schreibt Kirsch:

    "Laut Schlussbericht des zuständigen Mitarbeiters des MfS in Berlin, Paul Marustzök, ergeht am 14. Juni die Weisung zur Verschleppung, die in den Akten als 'Festnahme' verklausuliert wird. Von wem die Order ausging, wer von ihr wusste und wieviele mitzureden hatten, darüber kann nur spekuliert werden. Unstrittig ist nur, dass die Entführung 'von oben' angeordnet wurde, dass 'die Freunde' ihr Zustimmung gaben oder die Tat sogar initiierten."

    Gemeint ist die sowjetische Geheimpolizei, die im Fall Linse auf das Engste mit der DDR-Staatssicherheit kooperiert. Für Linse folgt das Martyrium einer 15-monatigen Untersuchungshaft mit allen Mitteln psychischer und physischer Geständniserpressung, zunächst im Stasi-Zentralgefängnis Berlin-Hohenschönhausen, danach in einem Gefängnis im sowjetischen Sperrgebiet Berlin-Karlshorst bis zur Anklage wegen "Spionage", "antisowjetischer Propaganda" und "Gruppenbildung". Am 23. September 1953 fällt das Militärgericht des sowjetischen Truppenteils 48240 in Berlin-Lichtenberg sein Urteil:

    "Linse, Walter Ernst, wird auf Grundlage des Art. 58-6 mit 10 Jahren Freiheitsentzug und Arbeitslager bestraft. Darüber hinaus verhängt das Gericht gemäß Art. 58-6 Absatz 1 des Strafgesetzbuches der RSFSR die Höchststrafe - Tod durch Erschießen."

    Einer Kassationsbeschwerde und ein Gnadengesuch bleibt der Erfolg versagt. Am 15. Dezember 1953 wird Walter Linse, 50 Jahre alt, im Moskauer Butyrka-Gefängnis, wohin er inzwischen verbracht worden war, durch Genickschuss exekutiert. Am 8. Mai 1996 wird er postum von der Militärhauptstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation in Moskau rehabilitiert. Von den Kidnappern werden in West-Berlin später nur zwei gefasst und verurteilt: Knobloch zu zehn, Benter zu drei Jahren Zuchthaus. Im Schlusskapitel problematisiert der Autor die Zusammenarbeit des UFJ mit dem amerikanischen Geheimdienst, die Linse zum Verhängnis wurde.

    "Die Alternative zur Zusammenarbeit mit Geheimdiensten wäre gewesen, tatenlos zuzusehen, wie Unrecht geschieht oder einen aussichtslosen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner zu wagen. Mit dem MfS verfügte die SED über ein Instrument, demgegenüber jeder offene Widerstand zum Scheitern verurteilt war. Die Biographien zahlreicher Regimegegner, die die Gefängnisse der DDR füllten, sprechen eine deutliche Sprache. Nur wer sich der Unterstützung eines mächtigen Partners - beispielsweise der CIA und des BND - vergewisserte, konnte Aussicht auf Erfolg haben."

    Nachdenkenswerte Folgerungen im Schlussteil einer biographischen Studie, die trotz kühler Sachlichkeit spannend zu lesen ist. Aktengestützt und illustriert mit bislang meist unveröffentlichten Fotos und Faksimiles entstand eine fundierte Schrift, die beispielhaft zeigt, wie sich Repressionsgeschichte der beiden deutschen Diktaturen seriös aufarbeiten lässt.


    Benno Kirsch: Walter Linse. 1903 - 1953 - 1996
    Schriftenreihe "Lebenszeugnisse - Leidenswege", herausgegeben von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft
    Dresden 2007
    115 Seiten, 8,50 Euro