"Ich möchte, dass Du immer zwei Gespenster einkreist. Mit dem roten Stift kreist du gleich immer zwei Gespenster ein. Sag du mir jetzt noch mal, was du gleich machen sollst. Immer, mit dem ... roten ... Stift ... - ja genau – wie viel Gespenster sollst du gleich einkreisen. Zwei. Genau super. Dann kannst du jetzt anfangen mit deiner Aufgabe.
Ergotherapie bei Andrea Bessler. Der sechsjährige Leon soll lernen, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und sie zu Ende zu bringen. Seit anderthalb Jahren ist der kleine, blonde Junge bei der Therapeutin in Behandlung. Dass er die Übung überhaupt mitmacht, ist schon ein enormer Fortschritt. Am Anfang hat er sich komplett verweigert, erzählt Andrea Bessler:
"Leon ist ja schon länger bei uns in der Therapie. Er zeigt zu Beginn ganz viele Probleme im Wahrnehmungsbereich. Wir haben am Anfang ganz viel motorisch gearbeitet in der Turnhalle, dass alle Sinnessysteme bei ihm angeregt wurden. Im Hinblick auf die Schule arbeiten wir jetzt gezielt am Tisch, an der Förderung der Konzentration, der Ausdauer. Er neigt zu Wutausbrüchen, zu aggressivem Verhalten. Und wir versuchen mit Strategien und Tricks, ihn dahin zu führen, an einer Aufgabe dran zu bleiben. Er muss ja nun in der Schule auch sich an Regeln halten und Grenzen anerkennen und kann nicht immer mit Ausbruch aus der Situation, mit Wutausbrüchen, reagieren. Und das ist unser Therapieziel."
"Die erste Zeit war die Hölle"
Leon ist ein Pflegekind. Er kam mit anderthalb Jahren zu Familie Horning nach Blomberg. Bevor die vierköpfige Familie ihn aufnahm, hatten sechs andere Pflegefamilien ihn nach wenigen Tagen wieder abgegeben. Das Kleinkind war zu schwierig. Pflegemutter Iris Horning kapitulierte nicht vor Leons Verhalten, aber sie erinnert sich noch mit Schaudern an die ersten Wochen.
"Die erste Zeit war eigentlich die Hölle mit ihm. Er hat mich komplett ignoriert. Auf nichts gehört, was ich gesagt habe, als wenn ich gar nicht existieren würde. Ich habe für ihn nur existiert, wenn er Hunger hatte oder wenn er die Windel voll hatte. Der hat mich nicht angeguckt, der hat mich nicht angesprochen - gesprochen hat er sowieso nicht. Nichts! Wenn ich ihn angesprochen habe, hat er sich weggedreht, er hat meinen Mann angeguckt und sich da die Bestätigung geholt. Und er hat auch nur das gemacht, was er gesagt hat. Und wenn wir alleine waren, das war so furchtbar. Der ist überall drangegangen. Er hat alles kaputt gemacht. Das war wirklich ganz, ganz anstrengend."
Iris Horning, die mit ihrem Mann zusammen neben einer eigenen Tochter noch ein Pflegekind großzieht, konnte sich das Verhalten von Leon nicht erklären: seine massiven Gewaltausbrüche, wenn er etwas nicht kann oder etwas nicht versteht, seine Konzentrationsprobleme, seine mangelnde Empathie gegenüber anderen Menschen. Sie ließ Leon deshalb im Sozialpädiatrischen Zentrum in Bethel untersuchen und bekam die Diagnose "Verdacht auf FAS". FAS ist die Abkürzung für "Fetales Alkoholsyndrom", eine geistige Behinderung, die durch Alkohol in der Schwangerschaft entsteht.
Wachstumsstörungen, körperlichen Missbildungen und Verhaltensstörungen 2.000 bis 4.000 Babys, so schätzen Mediziner, werden pro Jahr in Deutschland mit FAS geboren. Diese Behinderung gilt als die am stärksten ausgeprägte Form einer Alkoholschädigung im Mutterleib. FAS-Kinder leiden unter Wachstumsstörungen, Organschäden, körperlichen Missbildungen, intellektuellen Defiziten und Verhaltensstörungen. Experten können diese besonders stark betroffenen Kinder schon an bestimmten Merkmalen im Gesicht erkennen. Aber über das Vollbild hinaus gibt es noch viele Unterformen angeborener Alkoholschäden, die den Kindern nicht anzusehen sind, die sich aber trotzdem schwer auf das Gehirn auswirken. Sie werden unter dem Begriff "Fetale Alkoholspektrum-Störungen", kurz FASD, zusammengefasst. Insgesamt rechnen Experten mit 10.000 FASD-Kindern jährlich. Das sind weit mehr Kinder als mit Down Syndrom zur Welt kommen.holschäden, die den Kindern nicht anzusehen sind, die sich aber trotzdem schwer auf das Gehirn auswirken.Viele dieser Kinder trinkender Mütter kommen irgendwann in eine Pflegefamilie. Doch sollte man daraus nicht die falschen Schlüsse ziehen, meint Professor Hans-Ludwig Spohr von der Berliner Charité. Der Kinderarzt beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Thema. Er hat Hunderte von Kindern diagnostiziert.In wohlsituierten Familien totgeschwiegen"Es ist ganz eindeutig, dass Alkohol in allen Schichten getrunken wird. Und das Problem, dass wir in der Diagnostik fast nur Pflegeeltern haben, liegt daran, dass die sozial niedrigen Schichten haben das höhere Risiko aufzufallen und bekommen die Kinder weggenommen. Bei wohlsituierten Familien ist es so, dass die Familie deckelt. Es wird nicht über Alkohol gesprochen, es gibt diese Probleme, die Kinder kommen in Internate und haben die Probleme ihr Leben lang. Ich kenne mehrere in meiner näheren Umgebung, da ist die Mutter Ärztin. Sie will von der Diagnose nichts hören, sie blockt das ab."Obwohl die "Fetalen Alkoholspektrum-Störungen" die häufigste angeborene Behinderung sind, die keine genetischen Ursachen hat, wird das Thema in der Gesellschaft kaum diskutiert. Das hat auch etwas mit dem Mutterbild der Deutschen zu tun, meint Gela Becker, die fachliche Leiterin des Evangelischen Kinderheimes Sonnenhof in Berlin-Spandau. Das Kinderheim ist als eine der ganz wenigen Einrichtungen in Deutschland auf die Betreuung von Kindern mit angeborenen Alkoholschäden spezialisiert."Ich sag mal, wir haben ja, wenn eine Mutter in der Schwangerschaft trinkt, sowieso mit ganz viel Scham und Schuld zu tun, egal welche Schicht es ist, aber dass wir hier in Deutschland solche Blockaden haben, obwohl die Zahlen ganz deutlich in die Richtung gehen, dass es die Mittel- und Oberschichten sind, die in der Schwangerschaft doppelt so viel trinken wie die unteren Statusgruppen, dass das so wenig diskutiert wird, ist schon etwas spezifisch Deutsches. Da gibt es so einen Spruch von Professor Spohr "Ein Vollrausch in der Schwangerschaft reicht, um ein Kind vom Gymnasium auf die Hauptschule zu saufen“ - sag ich jetzt mal so ganz drastisch. Dass das nicht offensiver diskutiert wird, hat etwas mit diesen idealisierten Mutterbildern und dieser ganz, ganz starken Scham zu tun."In Deutschland gibt es nur wenige spezialisierte EinrichtungenAndere Länder, wie die USA oder auch England, sind da weiter, meint Gela Becker. In den USA gibt es seit zwanzig Jahren Präventionskampagnen und in jeder größeren Stadt FASD-Zentren, in denen Kinder diagnostiziert werden können und Hilfe erhalten. In Deutschland gibt es auf FASD-spezialisierte Einrichtungen bislang nur in Berlin, München und Münster. Den meisten Ärzten, Hebammen, Psychologen oder auch den Mitarbeitern in den Jugendämtern ist das Krankheitsbild samt seinen dramatischen Konsequenzen kaum bekannt.Als einen Meilenstein feierten deshalb Pflege- und Adoptiveltern in Deutschland die neuen medizinischen Leitlinien für die Diagnostik des „Fetalen Alkoholsyndrom“, die auf Betreiben der Bundesdrogenbeauftragten entwickelt und im Dezember 2012 veröffentlicht wurden. Die Leitlinien ermöglichen nun jedem Kinder- oder Hausarzt, die richtige Diagnose zu stellen. Eltern müssen nicht mehr weite Wege auf sich nehmen, um endlich Klarheit zu bekommen, freut sich Gisela Michalowski, die Vorsitzende des Selbsthilfeverbandes FASD Deutschland. Die 51-jährige Sozialarbeiterin lebt mit ihrer Familie in Lingen, im Emsland. Sie hat als Pflegemutter schwere Zeiten durchgemacht."Wir haben zufällig vier Kinder mit FASD aufgenommen und wussten nicht, was mit diesen Kindern los war. Bei unserem ältesten Kind waren wir immer auf der Suche: Warum ist der so? Warum verhält der sich so? Warum ist der nicht so wie unsere leibliche Tochter? Es hat uns auch keiner gesagt, was mit ihm los war. Es war zwar immer wieder im Gespräch: Mmm, könnte wohl Alkohol in der Schwangerschaft sein. Aber Ursachen und Auswirkungen waren uns nicht bekannt." Pflegefamilien fühlen sich oft unter Druck gesetztWas mache ich falsch? Gebe ich nicht genug Liebe? Bin ich nicht streng genug? Solche Fragen hat sich Gisela Michalowski andauernd gestellt. Für sie ist es deshalb besonders wichtig, dass das "Fetale Alkoholsyndrom" jetzt als geistige Behinderung anerkannt ist und nicht länger den Pflegeeltern als Erziehungsversagen in die Schuhe geschoben werden kann.Ihr ältestes FAS-Kind hat die Diagnose erst einen Tag nach seinem 19. Geburtstag bekommen. Nach Jahren quälender Ungewissheit."Ich denke, auch für ihn war es erleichternd, die Diagnose zu bekommen. Weil, es hatte jetzt einen Namen, warum vieles ihm nicht so gelang wie den anderen Kindern. Er kann nicht mit Geld umgehen, er hat kein Gespür für die Zeit, Mengen sind ihm auch manchmal sehr schwierig. Eigentlich wäre es besser gewesen, wenn wir früher für ihn auch eine Diagnose gehabt hätten. Es hätte uns vieles erspart, und ich denke, ich habe ihn ganz häufig falsch behandelt. Denn wenn ich ein intelligentes Kind habe und das weiß heute, wie es heißt und was er anhat, und morgen weiß er nicht mal mehr den Weg nach Hause. Das ist immer schwierig für Eltern, das nachzuvollziehen."Für sie ist deshalb keine Überraschung, wenn Pflegeeltern am Alltag mit den Kindern verzweifeln und sie wieder abgeben wollen. Sie kommen dann zu anderen Pflegeeltern oder in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die auf die Behinderung oft ebenfalls nicht vorbereitet sind und sie weiter schieben, bespielsweise in die Psychiatrie. Eine Katastrophe für die Kinder, die einen besonders festen Rahmen brauchen, meint Gela Becker, die Leiterin des Evangelischen Kinderheims Sonnenhof in Berlin."Wichtig für die Kinder ist fraglos eine hohe Struktur im Alltag, das heißt kein Wechsel von Bezugspersonen, so wenig wie möglich. Jeder Wechsel muss Jahre im Voraus vorbereitet werden. Einen ganz hoch strukturierten Alltag. Wo andere sagen, das ist ja haarscharf an der schwarzen Pädagogik, aber es ist das, was die Kinder brauchen. Dass sie sich darauf verlassen können, um die Zeit gibt es Mittagessen. Dann gibt es Abendessen, dann gehen wir schlafen. Dass sie mit den Verwirrungen, die sie sowieso haben, an ihrem äußeren Leben Halt finden, an ihren Bezugspersonen und an ihrem ganzen Umfeld." Diese Kinder brauchen feste Regeln und AbläufeDieses stabile Umfeld versucht das Kinderheim den rund 50 Kindern und Jugendlichen zu geben, die auf dem Gelände der über 100-jährigen Einrichtung leben. In verschiedenen Häusern wohnen hier Pflegekinder mit und ohne FASD in Wohngruppen jeweils mit einer Erzieherin zusammen.Ute Henning ist Erzieherin in der Wohngruppe "Nemo". Ihre sechs Schützlinge sind zwischen sechs und 14 Jahre alt. Zwei von ihnen sind alkoholgeschädigt, einer von beiden ist der zwölfjährige Patrick. Ute Henning und Patrick kann man mittags bei einem merkwürdigen Ritual beobachten:"Er stopft das Essen in sich hinein, wundert sich dann, dass das alles im Hals stecken bleibt, weil diese Kinder haben ja auch Schluckprobleme, und wenn ich ihm dann sage 'Trink doch mal was', dann grinst er mich an und trinkt was. Und wir hatten es in der Zwischenzeit schon so, dass er es abwechselnd macht. Wenn man es aber eine ganze Weile nicht macht, wenn man nicht mehr drauf achtet, vergessen die Kinder das. Das fliegt aus dem Gedächtnis raus. Und im Moment sind wir in der Phase, dass wir wieder anfangen zu trainieren. Wir machen ein Häppchen, dann beißen wir beide ab und dann nehmen wir ein Schlückchen und dann rutscht es runter. Und das geht wieder ganz gut."Wer mit alkoholgeschädigten Kindern zusammenlebt, sie erziehen will, braucht ganz viel Geduld und gute Nerven, meint Ute Henning. Und natürlich die Information, warum die Kinder so sind, wie sie sind. Sonst könnte die Erzieherin es auch als pure Bosheit auffassen, dass Patrick, der seit sieben Jahren im Sonnenhof lebt, jeden Abend wieder mit dreckigen Füßen aus der Dusche kommt. Er vergisst einfach, sie zu waschen. Ute Henning:Immer nur ganz kleine Forderungen"Man muss ihnen alles viel deutlicher erklären, bildlicher auch machen. Und immer nur ganz kleine Forderungen stellen. Das ist der Unterschied zu den anderen Kindern, sag ich mal. Da kann ich sagen: du gehst jetzt hoch, gehst duschen, legst schon mal deine Sachen für morgen raus, cremst dich ein und kommst dann wieder runter. Das packen die. Bei einem FASD-Kind geht das nicht. Dann kann ich nur sagen: du gehst nach oben, ziehst dich aus und gehst duschen. Schluss. Dann warte ich, bis das Kind geduscht ist oder auch nicht. Jetzt gehst du dann deine Sachen für morgen packen. Schluss. Und so geht’s dann Schritt für Schritt."Ute Hennigs Ziel ist es, alle Kinder, auch Patrick, soweit zu bringen, dass sie einmal ohne Hilfe im Leben zurechtkommen. Doch sie weiß, dass das nur in einem Fünftel der Fälle gelingt. 80 Prozent der alkoholgeschädigten Kinder können als Erwachsene nicht selbstständig leben. Das haben Studien gezeigt. Die Einrichtung bietet deshalb seit einiger Zeit Wohngruppen für Erwachsene und betreutes Einzelwohnen an. Die 23-jährige, schwer alkoholgeschädigte Dana zum Beispiel wohnt bei ihrem Vater, wird aber von einer Mitarbeiterin des Sonnenhofs unterstützt."Mir gefällt die Betreuung sehr gut, da sie mich unterstützen auf meinem ganzen Lebensweg, zum Beispiel wenn ich Arbeit habe oder bei Ämtergängen oder bei Ärzten. Die ich selber noch nicht richtig planen kann oder selbst eigenständig zu den Terminen hingehen kann, wenn mir das noch schwer fällt, auch so Alltagssachen wie Haushalt führen, so Krisengespräche, wenn es mal irgendwie Stress mit Verwandten oder Bekannten oder Freunden gibt, da werde ich schon sehr unterstützt." Behörden und Ärzte wissen oft nicht, dass es FASD gibtDana lebt derzeit von Hartz IV und ist auf der Suche nach einer Arbeit, die ihrer besonderen Behinderung gerecht wird. Dana wird schon durch kleinste Probleme aus der Bahn geworfen, auch eine Behindertenwerkstatt wollte sie nicht länger beschäftigen. Dana richtet nun ihre ganze Energie auf Öffentlichkeitsarbeit zum Thema FASD."Mein Wunsch ist es, dass es mehr Aufklärungsarbeit über das Thema gibt, was Alkohol in der Schwangerschaft mit dem Kind anrichtet, und dass die ganzen Kinder, die jetzt noch in den Bäuchen ihrer Mütter sind, später nicht so leiden müssen wie ich oder andere, die ich kenne. Die wirklich einen schweren Lebensweg haben, weil es einem auch nicht leicht gemacht wird. Die ganzen Behörden, Ärzte, die wissen teilweise überhaupt nicht, dass es FASD gibt, beziehungsweise was das ist. Und die Jugendlichen werden dementsprechend auch behandelt." Das sieht Gisela Michalowski genauso. Die Vorsitzende des Vereins FASD Deutschland wünscht sich deshalb, dass künftig Kriterien entwickelt werden, die es ermöglichen, sämtliche Kinder und auch Erwachsene mit angeborenen Alkoholschäden zu diagnostizieren und ihnen passende Hilfen anzubieten. Bisher gibt es nur im Einzelfall die richtige Unterstützung, meint sie."Unsere Kinder fallen durch sämtliche Raster. Sie brauchen in der Schule mehr Zuwendung und Betreuung und dann werden sie erwachsen und dann geht das große Drama los. Es gibt keine Ausbildungsstellen, es gibt keine Werkstattplätze, die ausreichend den Bedürfnissen dieser Kinder angepasst sind. Junge Menschen können sich nicht verselbstständigen, weil sie noch gar nicht so weit sind. Es gibt aber kaum Wohnmöglichkeiten, wo sie ausreichend Betreuung erhalten. Es fehlt für unsere Menschen mit FASD noch an allen Ecken und Kanten."Immer in Gefahr, manipuliert zu werdenUnd weil das so ist, sind Menschen mit FASD hochgradig gefährdet, kriminell zu werden. Studien aus den USA zeigen, dass ein sehr großer Teil der Kinder- und Jugendlichen mit FASD Probleme mit Alkohol- oder Drogen bekommt, die Schule nicht abschließt und im Gefängnis oder auf der Straße landet. Gisela Michalowski weiß, warum das so ist."Kinder mit FASD sind sehr schnell verleitbar und manipulierbar. Wenn jemand zu ihnen sagt: Wenn du mein Freund sein willst, dann geh und klau mir Kaugummi -, dann machen sie das. Das Problem ist, dass sie auch nicht ihre Schuld an diesem Delikt sehen. Sondern sie schieben dieses Delikt dann dem anderen zu. Wieso? Himpelhuber hat doch gesagt, das sollst du jetzt machen und dann mache ich das auch. Es ist ganz häufig, im Erwachsenenalter, viele fallen auf durch Fahren ohne Fahrerlaubnis. Weil sie einfach die Fahrerlaubnis nicht schaffen, aber der Reiz des Fahrens ist größer als die Strafe, die sie dafür bekommen."Auch Iris Horning macht sich schon Gedanken um Leon. Seine Beeinträchtigungen sind so stark, dass er auch als Erwachsener nicht alleine zurechtkommen wird und noch lange auf ihre Hilfe angewiesen bleibt, da ist sie sich sicher. Wenn alles in ruhigen Bahnen verläuft, ist schon viel gewonnen, meint Iris Horning:"Das hört sich vielleicht böse an, wenn ich das jetzt so sage. Aber ich wünsche ihm für die Zukunft, dass er gewaltfrei in sein Erwachsenenleben übergehen kann. Ohne dass wir die Angst haben müssen, dass er vielleicht mal im Gefängnis landet. Weil er sich nicht unter Kontrolle hat. Dass er vielleicht einen netten Beruf haben wird, vielleicht 'ne nette Freundin. Ein einigermaßen normales Leben, das wünschen wir ihm."
Wachstumsstörungen, körperlichen Missbildungen und Verhaltensstörungen 2.000 bis 4.000 Babys, so schätzen Mediziner, werden pro Jahr in Deutschland mit FAS geboren. Diese Behinderung gilt als die am stärksten ausgeprägte Form einer Alkoholschädigung im Mutterleib. FAS-Kinder leiden unter Wachstumsstörungen, Organschäden, körperlichen Missbildungen, intellektuellen Defiziten und Verhaltensstörungen. Experten können diese besonders stark betroffenen Kinder schon an bestimmten Merkmalen im Gesicht erkennen. Aber über das Vollbild hinaus gibt es noch viele Unterformen angeborener Alkoholschäden, die den Kindern nicht anzusehen sind, die sich aber trotzdem schwer auf das Gehirn auswirken. Sie werden unter dem Begriff "Fetale Alkoholspektrum-Störungen", kurz FASD, zusammengefasst. Insgesamt rechnen Experten mit 10.000 FASD-Kindern jährlich. Das sind weit mehr Kinder als mit Down Syndrom zur Welt kommen.holschäden, die den Kindern nicht anzusehen sind, die sich aber trotzdem schwer auf das Gehirn auswirken.Viele dieser Kinder trinkender Mütter kommen irgendwann in eine Pflegefamilie. Doch sollte man daraus nicht die falschen Schlüsse ziehen, meint Professor Hans-Ludwig Spohr von der Berliner Charité. Der Kinderarzt beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Thema. Er hat Hunderte von Kindern diagnostiziert.In wohlsituierten Familien totgeschwiegen"Es ist ganz eindeutig, dass Alkohol in allen Schichten getrunken wird. Und das Problem, dass wir in der Diagnostik fast nur Pflegeeltern haben, liegt daran, dass die sozial niedrigen Schichten haben das höhere Risiko aufzufallen und bekommen die Kinder weggenommen. Bei wohlsituierten Familien ist es so, dass die Familie deckelt. Es wird nicht über Alkohol gesprochen, es gibt diese Probleme, die Kinder kommen in Internate und haben die Probleme ihr Leben lang. Ich kenne mehrere in meiner näheren Umgebung, da ist die Mutter Ärztin. Sie will von der Diagnose nichts hören, sie blockt das ab."Obwohl die "Fetalen Alkoholspektrum-Störungen" die häufigste angeborene Behinderung sind, die keine genetischen Ursachen hat, wird das Thema in der Gesellschaft kaum diskutiert. Das hat auch etwas mit dem Mutterbild der Deutschen zu tun, meint Gela Becker, die fachliche Leiterin des Evangelischen Kinderheimes Sonnenhof in Berlin-Spandau. Das Kinderheim ist als eine der ganz wenigen Einrichtungen in Deutschland auf die Betreuung von Kindern mit angeborenen Alkoholschäden spezialisiert."Ich sag mal, wir haben ja, wenn eine Mutter in der Schwangerschaft trinkt, sowieso mit ganz viel Scham und Schuld zu tun, egal welche Schicht es ist, aber dass wir hier in Deutschland solche Blockaden haben, obwohl die Zahlen ganz deutlich in die Richtung gehen, dass es die Mittel- und Oberschichten sind, die in der Schwangerschaft doppelt so viel trinken wie die unteren Statusgruppen, dass das so wenig diskutiert wird, ist schon etwas spezifisch Deutsches. Da gibt es so einen Spruch von Professor Spohr "Ein Vollrausch in der Schwangerschaft reicht, um ein Kind vom Gymnasium auf die Hauptschule zu saufen“ - sag ich jetzt mal so ganz drastisch. Dass das nicht offensiver diskutiert wird, hat etwas mit diesen idealisierten Mutterbildern und dieser ganz, ganz starken Scham zu tun."In Deutschland gibt es nur wenige spezialisierte EinrichtungenAndere Länder, wie die USA oder auch England, sind da weiter, meint Gela Becker. In den USA gibt es seit zwanzig Jahren Präventionskampagnen und in jeder größeren Stadt FASD-Zentren, in denen Kinder diagnostiziert werden können und Hilfe erhalten. In Deutschland gibt es auf FASD-spezialisierte Einrichtungen bislang nur in Berlin, München und Münster. Den meisten Ärzten, Hebammen, Psychologen oder auch den Mitarbeitern in den Jugendämtern ist das Krankheitsbild samt seinen dramatischen Konsequenzen kaum bekannt.Als einen Meilenstein feierten deshalb Pflege- und Adoptiveltern in Deutschland die neuen medizinischen Leitlinien für die Diagnostik des „Fetalen Alkoholsyndrom“, die auf Betreiben der Bundesdrogenbeauftragten entwickelt und im Dezember 2012 veröffentlicht wurden. Die Leitlinien ermöglichen nun jedem Kinder- oder Hausarzt, die richtige Diagnose zu stellen. Eltern müssen nicht mehr weite Wege auf sich nehmen, um endlich Klarheit zu bekommen, freut sich Gisela Michalowski, die Vorsitzende des Selbsthilfeverbandes FASD Deutschland. Die 51-jährige Sozialarbeiterin lebt mit ihrer Familie in Lingen, im Emsland. Sie hat als Pflegemutter schwere Zeiten durchgemacht."Wir haben zufällig vier Kinder mit FASD aufgenommen und wussten nicht, was mit diesen Kindern los war. Bei unserem ältesten Kind waren wir immer auf der Suche: Warum ist der so? Warum verhält der sich so? Warum ist der nicht so wie unsere leibliche Tochter? Es hat uns auch keiner gesagt, was mit ihm los war. Es war zwar immer wieder im Gespräch: Mmm, könnte wohl Alkohol in der Schwangerschaft sein. Aber Ursachen und Auswirkungen waren uns nicht bekannt." Pflegefamilien fühlen sich oft unter Druck gesetztWas mache ich falsch? Gebe ich nicht genug Liebe? Bin ich nicht streng genug? Solche Fragen hat sich Gisela Michalowski andauernd gestellt. Für sie ist es deshalb besonders wichtig, dass das "Fetale Alkoholsyndrom" jetzt als geistige Behinderung anerkannt ist und nicht länger den Pflegeeltern als Erziehungsversagen in die Schuhe geschoben werden kann.Ihr ältestes FAS-Kind hat die Diagnose erst einen Tag nach seinem 19. Geburtstag bekommen. Nach Jahren quälender Ungewissheit."Ich denke, auch für ihn war es erleichternd, die Diagnose zu bekommen. Weil, es hatte jetzt einen Namen, warum vieles ihm nicht so gelang wie den anderen Kindern. Er kann nicht mit Geld umgehen, er hat kein Gespür für die Zeit, Mengen sind ihm auch manchmal sehr schwierig. Eigentlich wäre es besser gewesen, wenn wir früher für ihn auch eine Diagnose gehabt hätten. Es hätte uns vieles erspart, und ich denke, ich habe ihn ganz häufig falsch behandelt. Denn wenn ich ein intelligentes Kind habe und das weiß heute, wie es heißt und was er anhat, und morgen weiß er nicht mal mehr den Weg nach Hause. Das ist immer schwierig für Eltern, das nachzuvollziehen."Für sie ist deshalb keine Überraschung, wenn Pflegeeltern am Alltag mit den Kindern verzweifeln und sie wieder abgeben wollen. Sie kommen dann zu anderen Pflegeeltern oder in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die auf die Behinderung oft ebenfalls nicht vorbereitet sind und sie weiter schieben, bespielsweise in die Psychiatrie. Eine Katastrophe für die Kinder, die einen besonders festen Rahmen brauchen, meint Gela Becker, die Leiterin des Evangelischen Kinderheims Sonnenhof in Berlin."Wichtig für die Kinder ist fraglos eine hohe Struktur im Alltag, das heißt kein Wechsel von Bezugspersonen, so wenig wie möglich. Jeder Wechsel muss Jahre im Voraus vorbereitet werden. Einen ganz hoch strukturierten Alltag. Wo andere sagen, das ist ja haarscharf an der schwarzen Pädagogik, aber es ist das, was die Kinder brauchen. Dass sie sich darauf verlassen können, um die Zeit gibt es Mittagessen. Dann gibt es Abendessen, dann gehen wir schlafen. Dass sie mit den Verwirrungen, die sie sowieso haben, an ihrem äußeren Leben Halt finden, an ihren Bezugspersonen und an ihrem ganzen Umfeld." Diese Kinder brauchen feste Regeln und AbläufeDieses stabile Umfeld versucht das Kinderheim den rund 50 Kindern und Jugendlichen zu geben, die auf dem Gelände der über 100-jährigen Einrichtung leben. In verschiedenen Häusern wohnen hier Pflegekinder mit und ohne FASD in Wohngruppen jeweils mit einer Erzieherin zusammen.Ute Henning ist Erzieherin in der Wohngruppe "Nemo". Ihre sechs Schützlinge sind zwischen sechs und 14 Jahre alt. Zwei von ihnen sind alkoholgeschädigt, einer von beiden ist der zwölfjährige Patrick. Ute Henning und Patrick kann man mittags bei einem merkwürdigen Ritual beobachten:"Er stopft das Essen in sich hinein, wundert sich dann, dass das alles im Hals stecken bleibt, weil diese Kinder haben ja auch Schluckprobleme, und wenn ich ihm dann sage 'Trink doch mal was', dann grinst er mich an und trinkt was. Und wir hatten es in der Zwischenzeit schon so, dass er es abwechselnd macht. Wenn man es aber eine ganze Weile nicht macht, wenn man nicht mehr drauf achtet, vergessen die Kinder das. Das fliegt aus dem Gedächtnis raus. Und im Moment sind wir in der Phase, dass wir wieder anfangen zu trainieren. Wir machen ein Häppchen, dann beißen wir beide ab und dann nehmen wir ein Schlückchen und dann rutscht es runter. Und das geht wieder ganz gut."Wer mit alkoholgeschädigten Kindern zusammenlebt, sie erziehen will, braucht ganz viel Geduld und gute Nerven, meint Ute Henning. Und natürlich die Information, warum die Kinder so sind, wie sie sind. Sonst könnte die Erzieherin es auch als pure Bosheit auffassen, dass Patrick, der seit sieben Jahren im Sonnenhof lebt, jeden Abend wieder mit dreckigen Füßen aus der Dusche kommt. Er vergisst einfach, sie zu waschen. Ute Henning:Immer nur ganz kleine Forderungen"Man muss ihnen alles viel deutlicher erklären, bildlicher auch machen. Und immer nur ganz kleine Forderungen stellen. Das ist der Unterschied zu den anderen Kindern, sag ich mal. Da kann ich sagen: du gehst jetzt hoch, gehst duschen, legst schon mal deine Sachen für morgen raus, cremst dich ein und kommst dann wieder runter. Das packen die. Bei einem FASD-Kind geht das nicht. Dann kann ich nur sagen: du gehst nach oben, ziehst dich aus und gehst duschen. Schluss. Dann warte ich, bis das Kind geduscht ist oder auch nicht. Jetzt gehst du dann deine Sachen für morgen packen. Schluss. Und so geht’s dann Schritt für Schritt."Ute Hennigs Ziel ist es, alle Kinder, auch Patrick, soweit zu bringen, dass sie einmal ohne Hilfe im Leben zurechtkommen. Doch sie weiß, dass das nur in einem Fünftel der Fälle gelingt. 80 Prozent der alkoholgeschädigten Kinder können als Erwachsene nicht selbstständig leben. Das haben Studien gezeigt. Die Einrichtung bietet deshalb seit einiger Zeit Wohngruppen für Erwachsene und betreutes Einzelwohnen an. Die 23-jährige, schwer alkoholgeschädigte Dana zum Beispiel wohnt bei ihrem Vater, wird aber von einer Mitarbeiterin des Sonnenhofs unterstützt."Mir gefällt die Betreuung sehr gut, da sie mich unterstützen auf meinem ganzen Lebensweg, zum Beispiel wenn ich Arbeit habe oder bei Ämtergängen oder bei Ärzten. Die ich selber noch nicht richtig planen kann oder selbst eigenständig zu den Terminen hingehen kann, wenn mir das noch schwer fällt, auch so Alltagssachen wie Haushalt führen, so Krisengespräche, wenn es mal irgendwie Stress mit Verwandten oder Bekannten oder Freunden gibt, da werde ich schon sehr unterstützt." Behörden und Ärzte wissen oft nicht, dass es FASD gibtDana lebt derzeit von Hartz IV und ist auf der Suche nach einer Arbeit, die ihrer besonderen Behinderung gerecht wird. Dana wird schon durch kleinste Probleme aus der Bahn geworfen, auch eine Behindertenwerkstatt wollte sie nicht länger beschäftigen. Dana richtet nun ihre ganze Energie auf Öffentlichkeitsarbeit zum Thema FASD."Mein Wunsch ist es, dass es mehr Aufklärungsarbeit über das Thema gibt, was Alkohol in der Schwangerschaft mit dem Kind anrichtet, und dass die ganzen Kinder, die jetzt noch in den Bäuchen ihrer Mütter sind, später nicht so leiden müssen wie ich oder andere, die ich kenne. Die wirklich einen schweren Lebensweg haben, weil es einem auch nicht leicht gemacht wird. Die ganzen Behörden, Ärzte, die wissen teilweise überhaupt nicht, dass es FASD gibt, beziehungsweise was das ist. Und die Jugendlichen werden dementsprechend auch behandelt." Das sieht Gisela Michalowski genauso. Die Vorsitzende des Vereins FASD Deutschland wünscht sich deshalb, dass künftig Kriterien entwickelt werden, die es ermöglichen, sämtliche Kinder und auch Erwachsene mit angeborenen Alkoholschäden zu diagnostizieren und ihnen passende Hilfen anzubieten. Bisher gibt es nur im Einzelfall die richtige Unterstützung, meint sie."Unsere Kinder fallen durch sämtliche Raster. Sie brauchen in der Schule mehr Zuwendung und Betreuung und dann werden sie erwachsen und dann geht das große Drama los. Es gibt keine Ausbildungsstellen, es gibt keine Werkstattplätze, die ausreichend den Bedürfnissen dieser Kinder angepasst sind. Junge Menschen können sich nicht verselbstständigen, weil sie noch gar nicht so weit sind. Es gibt aber kaum Wohnmöglichkeiten, wo sie ausreichend Betreuung erhalten. Es fehlt für unsere Menschen mit FASD noch an allen Ecken und Kanten."Immer in Gefahr, manipuliert zu werdenUnd weil das so ist, sind Menschen mit FASD hochgradig gefährdet, kriminell zu werden. Studien aus den USA zeigen, dass ein sehr großer Teil der Kinder- und Jugendlichen mit FASD Probleme mit Alkohol- oder Drogen bekommt, die Schule nicht abschließt und im Gefängnis oder auf der Straße landet. Gisela Michalowski weiß, warum das so ist."Kinder mit FASD sind sehr schnell verleitbar und manipulierbar. Wenn jemand zu ihnen sagt: Wenn du mein Freund sein willst, dann geh und klau mir Kaugummi -, dann machen sie das. Das Problem ist, dass sie auch nicht ihre Schuld an diesem Delikt sehen. Sondern sie schieben dieses Delikt dann dem anderen zu. Wieso? Himpelhuber hat doch gesagt, das sollst du jetzt machen und dann mache ich das auch. Es ist ganz häufig, im Erwachsenenalter, viele fallen auf durch Fahren ohne Fahrerlaubnis. Weil sie einfach die Fahrerlaubnis nicht schaffen, aber der Reiz des Fahrens ist größer als die Strafe, die sie dafür bekommen."Auch Iris Horning macht sich schon Gedanken um Leon. Seine Beeinträchtigungen sind so stark, dass er auch als Erwachsener nicht alleine zurechtkommen wird und noch lange auf ihre Hilfe angewiesen bleibt, da ist sie sich sicher. Wenn alles in ruhigen Bahnen verläuft, ist schon viel gewonnen, meint Iris Horning:"Das hört sich vielleicht böse an, wenn ich das jetzt so sage. Aber ich wünsche ihm für die Zukunft, dass er gewaltfrei in sein Erwachsenenleben übergehen kann. Ohne dass wir die Angst haben müssen, dass er vielleicht mal im Gefängnis landet. Weil er sich nicht unter Kontrolle hat. Dass er vielleicht einen netten Beruf haben wird, vielleicht 'ne nette Freundin. Ein einigermaßen normales Leben, das wünschen wir ihm."