Lennart Pyritz: Das Leben vieler Parasiten ist bewegter als es scheint. Sie befallen nicht einfach einen Wirt und vermehren sich. Einige Arten haben einen komplexen Entwicklungszyklus mit mehreren Zwischenwirten, deren Verhalten sie zu ihren Gunsten beeinflussen können, um zum nächsten Wirt zu gelangen. Dazu zählen zum Beispiel Bandwürmer, die erst Fische und dann Vögel befallen.
Ein Forscherteam hat jetzt genau untersucht, wie sich der Parasitenbefall auf Stichlinge auswirkt. Und zwar nicht nur auf die direkt infizierten Fische, sondern auch deren gesunde Nachbarn im Schwarm. Die Ergebnisse erscheinen heute in den Proceedings of the Royal Society B. Ich habe darüber vor der Sendung mit einem der Autoren gesprochen: Jörn Peter Scharsack von der Universität Münster. Ich habe ihn zuerst gebeten, den Lebensweg der untersuchten Parasiten kurz nachzuzeichnen.
Jörn Peter Scharsack: Also das ist ein Bandwurm und dieser Bandwurm hat einen komplexen Lebenszyklus. Der benutzt kleine Krebse als erste Zwischenwirte, dann den dreistacheligen Stichling - und das haben wir untersucht - als zweite Zwischenwirte und er will letztendlich in den Vogel. Und das Interessante für uns ist, dass die Infektion beim Stichling hochspezifisch ist. Der geht in keinen anderen Fisch und hat gelernt, das Immunsystem des Stichlings zu manipulieren, hat aber auch gelernt, das Verhalten von diesem Stichling zu manipulieren. Der bringt den dazu, mutiger zu werden quasi. Also dieser Fisch schwimmt dann dichter an der Wasseroberfläche und die Wahrscheinlichkeit, dass er von einem Vogel gefressen wird, steigt oder generell die Wahrscheinlichkeit, dass er gefressen wird, steigt an. Das ist im Sinne des Parasiten, der möchte dann in den Vogeldarm und möchte dann im Vogeldarm reproduzieren und so seinen Lebenszyklus beschließen.
Reaktion gesunder auf infizierte Fische
Pyritz: Sie haben jetzt untersucht, ob so ein Parasitenbefall mit einem Bandwurm von Schwarmnachbarn auch nichtinfizierte Fische sozusagen in ihrem Verhalten beeinflusst. Wie sind Sie überhaupt auf diese Idee gekommen?
Scharsack: Wir haben eigentlich begonnen mit dem Individuum, ein individueller Fisch. Also wie interagiert er mit seinen Artgenossen und da drängt sich natürlich die Frage auf: Wenn so ein Artgenosse infiziert ist, wie reagiert man darauf? Im Prinzip würde man jetzt so einen Infizierten vielleicht vermeiden. In diesem Falle ist es aber so, der Bandwurm kann nur über den Vogel dann wieder infektiös werden. Es geht also keine Gefahr aus. Also das war eigentlich so die Grundfrage: Wie reagieren nichtinfizierte Fische auf die Anwesenheit von Infizierten? Und dann hat unser Kooperationspartner in Berlin, der Jens Krause, der kam eigentlich auf die Idee, das noch etwas zu erweitern auf etwas wie soziale Netzwerke oder Gruppen. Also wie ist es denn in einer Gruppe, in der sich solche infizierten Individuen befinden, wird dadurch das Gruppenverhalten verändert?
Gesunde Fische übernehmen Verhalten
Pyritz: Wie haben Sie das jetzt methodisch gemacht, wie muss man sich das vorstellen? Also Sie haben wahrscheinlich Stichlinge in Aquarien oder in Wassertanks untersucht und einige davon waren befallen und andere nicht?
Scharsack: Ja, genau. Also wir haben ein spezielles Tanksystem, ein spezielles Beckensystem verwendet. Dort also am Boden sind künstliche Pflanzen, wo sich die Fische verstecken können, und oben im Freiwasserbereich, da ist einmal eine Futterstelle für die Fische und dann eine Vogelattrappe, die also aufs Wasser stoßen kann, mit der wir dann die Tiere erschreckt haben, und wir haben dann verschiedene Gruppen getestet. Wenn also nur nichtinfizierte Fische dort in den Becken sind, die anfangen zu fressen, dann werden die durch den Vogelschlag erschreckt und schwimmen in der Regel ganz nach unten auf den Boden, verstecken sich in den Pflanzen und bleiben dort auch einige Zeit, bevor sie sich wieder ans Futter trauen.
Wenn man das gleiche jetzt macht mit nur infizierten Fischen, dann erschrecken die sich durch den Vogel kaum und sind relativ schnell wieder am Futter. Interessant war jetzt, wenn wir gemischte Gruppen haben, dann war das so, wenn also die Anzahl der infizierten Fische höher war, dass die Nichtinfizierten quasi genau dem Verhalten der Infizierten gefolgt sind, also auch weniger schreckhaft waren, nicht so tief nach unten geflohen sind in das Becken und auch schneller wieder zurückgekehrt sind ans Fressen. Also sie haben sozusagen das Verhalten der Infizierten übernommen.
Evolutionsbedingtes Schwarmverhalten
Pyritz: Das wäre jetzt die Frage: Wie interpretieren Sie denn diese Ergebnisse? Kopieren die gesunden Schwarmnachbarn das Verhalten der von den Parasiten befallenen Tiere?
Scharsack: Also die Begründung liegt wahrscheinlich im Schwarmverhalten selbst. Das ist ein sehr starker Drang dieser Fische. Das hat ihnen die Evolution quasi beigebracht, dass sie in einer Gruppe, in einem Schwarm sicherer sind, als wenn sie alleine schwimmen. Das ist einfach ein Schutz vor Prädatoren. Der Prädator hat es immer schwerer, ein Individuum aus dem Schwarm rauszupicken, als eben ein separates Individuum zu verfolgen, und das wird wahrscheinlich auch hier der Grund sein, warum die Nichtinfizierten den Infizierten hier gefolgt sind.
Beeinflussung der Nische
Pyritz: Was bedeutet das denn, wenn man jetzt mal einen Schritt zurücktritt, für den Nahrungskreislauf mit diesem Parasiten insgesamt? Im Grunde profitieren ja von diesem Effekt die fischfressenden Vögel, weil einfach mehr Schwarmmitglieder, auch nichtinfizierte, häufiger an der Wasseroberfläche zu finden sind.
Scharsack: Ja. Also das wäre eine mögliche Folge in der Natur dann, dass ein Habitat, wo relativ viele infizierte Stichlinge rumschwimmen, dass ihre Schwarmgenossen, die nicht infiziert sind, diesem Verhalten folgen und dadurch insgesamt das Habitat attraktiver wird für fischfressende Vögel, dadurch dann der Prädationsdruck auch zunehmen könnte auf die Stichlingspopulation, also quasi eine Beeinflussung auch der Nische des Fisches, der Nische des Vogels in dem Fall.
Beschleunigte Stoffumsätze
Pyritz: Was könnte das denn für die Balance von solchen Nahrungskreisläufen bedeuten? Ist das eventuell ein bislang unterschätzter Faktor, also dieser Parasitenauswirkung auf eigentlich nichtinfizierte Tiere, aber über den Schwarmeffekt?
Scharsack: Ja, das ist ein sehr interessanter Bereich, der sich im Moment in der Ökoparasitologie, wenn man das so nennen darf, sich sehr stark entwickelt, also die Frage, wie viel Biomasse machen eigentlich Parasiten aus in Habitaten, und da findet man erstaunlich viel, wenn man das mal zusammenrechnet. Ich meine, unser Parasit, der wird in so einem Stichling schon 20, 30 Prozent des Körpergewichtes - das sind 100, 200 Milligramm, das ist natürlich so genommen nicht viel. Nur wenn es viele Parasiten sind und auch noch weitere Stadien dazukommen, dann ist das recht viel Materie, und solche Prozesse, die wir jetzt hier beschrieben haben - also der Vogel frisst den infizierten Fisch, es werden mehr Fische attraktiv für die Prädation durch Vögel -, das erhöht natürlich den Stoffumsatz in diesen Habitaten, und das wäre vielleicht eine mögliche Erklärung oder auch ein mögliches Phänomen, was bis jetzt noch nicht beschrieben worden ist, dass also, wenn Parasiten in solchen natürlichen Habitaten vorkommen - und das tun sie in der Regel überall -, dass sie dort also Stoffumsätze beschleunigen durch ihre eigene Biomasse, aber auch durch die Manipulation von Wirten, die dann eben leichter zur Beute von anderen Fressfeinden werden.
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