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Schwarze in Ferguson
"Gefühl, nicht repräsentiert zu sein, trägt zur Eruption bei"

In Ferguson leben zu zwei Dritteln dunkelhäutige Menschen, alle wichtigen öffentlichen Ämter befänden sich aber in der Hand von Weißen. Das sei ein Grund für die Unruhen, sagte Christoph von Marshall, langjähriger USA-Korrespondent von "Der Tagespiegel", im DLF.

Christoph von Marshall im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Ein Demonstrant in Ferguson
    Ein Demonstrant in Ferguson (afp / Michael B. Thomas)
    Früher hätten die Weißen zu zwei Dritteln die Bevölkerung in Ferguson gestellt. Diese soziale Veränderung sei eine Folge der Wirtschaftskrise, doch das schlage sich nicht bei der Besetzung der öffentlichen Ämter nieder. "Es gibt eine Diskriminierung, eine Benachteiligung der Schwarzen", sagte von Marschall.
    Doch es sei nicht immer die Hautfarbe verantwortlich. Schwarze Einwanderer seien laut von Marschall in Amerika oft erfolgreicher als Schwarze, die in den USA geboren worden sind. "Eine Opfermentalität wird unter Umständen anerzogen", sagte er.
    Über den Präsidenten zeigen sich viele Demonstranten enttäuscht. Barack Obama habe als erster schwarzer Präsident nie Klientelpolitik für die Schwarzen betrieben. Andernfalls wäre es für ihn auch noch schwieriger zu vermitteln. Grundsätzlich habe Amerika 50 Jahre nach Aufhebung der Rassentrennung eine "soziale Gleichberechtigung immer noch nicht geschafft".

    Das Interview mit Christoph von Marshall in voller Länge:
    Sandra Schulz: Zugeschaltet ist uns jetzt Christoph von Marshall, diplomatischer Korrespondent des "Tagesspiegels", lange USA-Korrespondent, Autor mehrerer Bücher über die USA und auch die Obamas. Guten Morgen!
    Christoph von Marshall: Schönen guten Morgen!
    Schulz: Worum geht es eigentlich in Ferguson?
    von Marshall: Ja, das ist eben die große Frage, durch welches Prisma man das betrachten soll. In Deutschland hat sich jetzt eingebürgert, dass man vor allem über den ewigen Rassismus in den USA predigt. Ich glaube, dass es helfen würde, auch ein bisschen auf die sozialen und ökonomischen Hintergründe zu schauen.
    "Bevölkerungsaustausch ist Folge der Wirtschaftskrise"
    Ferguson ist ein Vorort von St. Louis, wo sich in den letzten zehn Jahren alles auf den Kopf gestellt hat. Vor zehn Jahren waren zwei Drittel der Bevölkerung Weiße, heute sind zwei Drittel der Bevölkerung Schwarze. Man stelle sich das mal in einem Vorort von Köln oder Berlin vor, wenn innerhalb weniger Jahre zwei Drittel der Bevölkerung ausgetauscht werden. Und das ist Folge der Wirtschaftskrise, dieses boom und bust in Amerika, die negative Seite der großen wirtschaftlichen Dynamik, also es ist Folge der Wirtschaftskrise, was wir gerade erleben.
    Schulz: Und diese sozialen Umstände, die Sie schildern, auch diese Folgen der Wirtschaftskrise, die haben nichts zu tun mit geringeren Chancen der Schwarzen?
    von Marshall: Doch, selbstverständlich. Es gibt die Diskriminierung der Schwarzen, die Benachteiligung. Aber vor allem zeigt sich eben auch diese Schärfe der Auseinandersetzung durch die sozialen Hintergründe. Es gibt ja leider viele Fälle in Amerika, wo Schwarze erschossen werden, manchmal auch Nicht-Schwarze, aber nicht jedes Mal führt das zu Rassenunruhen.
    "Soziale Veränderungen drücken sich nicht in politischer Veränderung aus"
    Meine Frage ist: Warum passiert das in Ferguson und zum Beispiel nicht vor zwei Jahren in Florida, als Trayvon Martin erschossen wurde von einem hellhäutigen Nachbarschaftswächter? Und der Hintergrund sind eben diese großen sozialen Veränderungen, die – und das kommt hinzu – sich nicht ausdrücken in politischer Veränderung.
    Obwohl sich die Bevölkerung ausgetauscht hat, haben die Weißen ja weiter alle wichtigen Wahlämter, die Bürgermeister, die Stadträte, den Polizeichef, den Staatsanwalt, der jetzt entscheidet, ob Anklage gegen den weißen Polizisten erhoben wird oder nicht. Und dieses Gefühl, nicht repräsentiert zu sein, das trägt zu dieser Eruption in Ferguson bei.
    Schulz: Und was kann Obama dagegen tun?
    von Marshall: Das ist eben wahnsinnig schwierig für ihn, weil Barack Obama ja nie der Präsident war, der sich als Klientelpräsident der Schwarzen verstand. Er hat immer gesagt: Ich bin ein Präsident aller Amerikaner, der nur zufällig eine dunklere Hautfarbe hat. 11 Prozent der Amerikaner sind Schwarze, 89 Prozent sind keine Schwarzen.
    "Obama war nie Klientelpräsident der Schwarzen"
    Und wenn man sich anschaut, wie diese unterschiedlichen Amerikaner auf Ferguson blicken, dann sind es eben vor allem die Schwarzen, die sich benachteiligt fühlen und das als ein neues Beispiel dieser ständigen Diskriminierung betrachten, während zwei Drittel bis drei Viertel der Weißen sagen, nein, nein, das ist gar nicht so ein Sonderfall, zum Beispiel dieser schwarze Jugendliche Michael Brown, der hat doch vorher Ladendiebstahl begangen, bevor es zu dieser Eskalation kam.
    Und diese unterschiedlichen Sichtweisen, die machen es so schwierig für Obama auch zu vermitteln, denn wenn er sich jetzt zum Anwalt der Schwarzen in Ferguson machen würde, würde er gleichzeitig einem Großteil seiner nicht-schwarzen Klientel sozusagen ins Gesicht schlagen politisch.
    Schulz: Aber heißt das umgekehrt, die Schwarzen müssen ihre Probleme – die es ja offensichtlich gibt, sonst käme es ja auch zu den Ausschreitungen nicht –, heißt das, die Schwarzen müssen ihre Probleme selbst lösen?
    von Marshall: Nein, das ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Aber zu dem Stichwort Rassismus gehört ja zum Beispiel auch: Amerika ist eine Einwanderungsgesellschaft. Soziologisch ist es jetzt sehr gut belegt, dass es nicht immer nur an der Hautfarbe liegt. Schwarze Einwanderer aus Afrika, also Schwarze, die in den letzten zwei, drei Jahrzehnten in die USA gekommen sind, sind sehr erfolgreich beim sozialen Aufstieg, deutlich erfolgreicher als Schwarze, die in den USA geboren sind.
    Und dann fragen die Soziologen: Liegt es vielleicht doch nicht an der Hautfarbe, sondern auch an der Selbstsicht, an der Identität, dass eben Schwarze, die in den USA geboren werden und aufwachen, von ihrer Umgebung diese Opfermentalität gleich anerzogen bekommen – du hast eh keine Chance, du wirst es eh nicht schaffen –, während die Schwarzen, die aus Afrika heute kommen, das sind ja Leute, die erstens mobil sind, die sich was zutrauen, die daran glauben, dass Amerika ihnen eine Chance gibt, und die haben wesentlich mehr Erfolg. Es ist auch ein bisschen self-fulfilling prophecy, wie man sich sieht.
    "Keine wirkliche soziale und ökologische Gleichberechtigung in den USA"
    Schulz: Wenn das die Ausgangslage ist, was heißt der Fall Michael Brown dann jetzt für die USA?
    von Marshall: Dass Amerika auch ein halbes Jahrhundert nach der Aufhebung der Rassentrennung, nach den ganzen Gleichberechtigungsgesetzen es immer noch nicht geschafft hat, die wirkliche soziale und ökonomische Gleichberechtigung der in den USA aufgewachsenen Schwarzen durchzusetzen und zu garantieren. Es hat Fortschritte gegeben, aber Ferguson erinnert uns daran, dass diese große Aufgabe, dass sie immer noch nicht gelöst worden ist.
    Schulz: Wie kann die denn gelöst werden?
    von Marshall: Indem man immer wieder versucht, den Schwarzen zusätzliche Chancen zu geben, aber sie eben auch zu ermuntern, selbst für sich zu sorgen. Beide sind dafür verantwortlich. Es muss fördern und fordern sein parallel, und an beiden Fronten gibt es Defizite.
    Schulz: Sie haben das gerade schon gesagt: Es ist ein soziales Problem. Also sind wir wieder an dem Punkt, dass es natürlich auch Geld braucht. An vielen Punkten sind die Kommunen zuständig, gar nicht unbedingt die USA als Staat, sondern das spielt wirklich auf größerer Ebene, aber müsste da nicht auch Geld sozusagen aus Washington kommen?
    "Gesundheitsreform war Sozialpolitik für die Schwarzen"
    von Marshall: Ja und nein. Das ist eben einer auch dieser Kulturunterschiede zwischen Deutschland und Amerika, dass die deutsche Antwort meistens ist: Dann muss der Staat die Gesellschaft in Form von Hilfsprogrammen ... Die Amerikaner würden wahrscheinlich eher denken: Wir müssen die Menschen mental und psychisch, psychologisch herausfordern. Wir müssen einen breiteren Dialog darüber haben und eben die Schwarzen empowern, ihnen sozusagen selbst klar machen, dass ein Teil der Lösung von ihnen kommen muss, indem man sie ermuntert, mehr für ihre Interessen und auch ihre Rechte einzutreten. Das ist wahrscheinlich eher der amerikanische Weg.
    Schulz: Aber trotzdem halten wir fest: Viele schwarze Menschen haben gar nichts davon, dass die USA seit sechs Jahren einen schwarzen Präsidenten haben?
    von Marshall: Ja, in der Tat. Sie haben höchstens einen Teil des Bewusstseinswandels davon. Barack Obama hat keine dezidierte Klientelpolitik für die Schwarzen gemacht, vielleicht mit Ausnahme der Gesundheitsreform, weil die Unversicherten ja zu einem ganz überproportionalen Anteil eben auch Schwarze sind.
    Also das war sozusagen über die Gesundheitsreform ein bisschen Sozialpolitik für die Schwarzen. Aber im Großen und Ganzen hat Obama sich immer als Präsident aller Amerikaner verstanden und sich davor gehütet, für die Afroamerikaner besondere Leistungen durchzusetzen.
    Schulz: Der USA-Kenner Christoph von Marshall hier heute in den "Informationen am Morgen". Herzlichen Dank Ihnen!
    von Marshall: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.