Kriminalität
Wie Schweden einen Weg aus der Bandengewalt sucht

Die Auseinandersetzungen von kriminellen Banden in Schweden geraten immer mehr außer Kontrolle. Täter und Opfer werden jünger. Die brutale Gewalt veranlasst die Regierung zu drastischen Maßnahmen. Ein Überblick.

    Ein schwedischer Polizist (verschwommen) blickt nach links, Hintergrund ein Wohnhaus mit einer zersprungenen Fensterscheibe
    Im Jahr 2022 forderten die Auseinandersetzungen krimineller Banden in Schweden 62 Todesopfer, so viele wie nie zuvor. (picture alliance / TT NYHETSBYRÃN / Adam Ihse / TT)
    Das hat es in der Geschichte Schwedens noch nicht gegeben: Gegen die ausufernde Bandengewalt in den Städten hat die Regierung die Armee zur Hilfe gerufen. Die Polizei scheint überfordert, die Politik hilflos. Sowohl Täter als auch Opfer werden immer jünger - bereits 14-Jährige werden für Mordaufträge gewonnen. Vor allem zwei Banden rivalisieren sich. Deren Köpfe befinden sich längst im Ausland. 

    Inhaltsübersicht

    Wie schlimm ist die aktuelle Bandengewalt?

    Im Jahr 2022 forderten die Auseinandersetzungen krimineller Banden in Schweden 62 Todesopfer, so viele wie nie zuvor. In Norwegen waren es vier, in Dänemark ebenfalls, in Finnland zwei. Allein im Monat September des Jahres 2023 starben elf Menschen, ein trauriger Rekord. 53 Mordopfer wurden im Jahr 2023 insgesamt gezählt.
    In Stockholm, so hat das "Wall Street Journal" errechnet, liege die Mordrate pro Kopf 30-mal höher als in London. Kenner der Szene schätzen die Zahl der Gangmitglieder in Schweden auf etwa 30.000. Zum Vergleich: Laut einem Bericht des „Stern“ wurden in El Salvador seit Ende März 2022 rund 65.000 mutmaßliche Bandenmitglieder gefasst.
    „Kein Land in Europa erlebt etwas Vergleichbares“, sagte Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson von der Moderaten Sammlungspartei Ende September. Kristersson führt eine Minderheitsregierung an, die von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten unterstützt wird, die zweitstärkste Kraft im Land. Neben den Moderaten gehören zur Regierung die Christdemokraten und die Liberalen.
    Die Opposition äußert sich nicht weniger deutlich zur Bandengewalt. Ardalan Shekarabi, justizpolitischer Sprecher der schwedischen Sozialdemokraten, sieht sein Land gar in einer nationalen Krise: „You can say that Sweden is in a national crisis.”

    Warnung vor “schwedischen Verhältnissen”

    Neben den Drogengeschäften stoßen die Gangs offenbar zunehmend auch in legale Geschäftsfelder vor. Der schwedische Rundfunk berichtete Mitte Dezember, dass Verbrecherbanden sogar an Vermittlungsagenturen für Pflegefamilien beteiligt seien.
    Die Bandenkriege verbreiten unter der Bevölkerung Angst und Schrecken. Und die Gewalt passt nicht zum Selbstbild vieler Schweden. Sie sahen Schweden lange als Vorzeigeland: liberal, tolerant mit einem großzügigen Wohlfahrtsstaat. Mittlerweile jedoch warnen andere Länder der Region vor „schwedischen Verhältnissen“. Die Nachbarn Finnland, Dänemark und Norwegen beobachten mit zunehmender Sorge die schwedische Entwicklung und fürchten, dass die Bandenkriege auf sie übergreifen könnten.

    Nur jede vierte tödliche Schießerei aufgeklärt

    Das schwedische Image ist schwer ramponiert. Nur jede vierte tödliche Schießerei in Schweden kann aufgeklärt werden, heißt es in einem Polizeibericht aus dem Jahr 2022.
    Und laut einer kürzlich im Auftrag der Stockholmer Handelskammer durchgeführten Umfrage, glauben acht von zehn befragten schwedischen Unternehmen, dass es aufgrund der anhaltenden Gewalt schwieriger werden wird, ausländische Fachkräfte, Investoren und Touristen ins Land zu holen.


    Welche Banden gibt, wie sind sie strukturiert, wo agieren sie?

    Der Stockholmer Investigativjournalist Diamant Salihu, Autor zweier Bücher über Schwedens kriminelle Netzwerke, erklärt: „Im Augenblick dreht sich alles um einen großen Konflikt in einem Gangsternetzwerk mit dem Namen 'Foxtrot'. Die Bande ist inzwischen in zwei Lager gespalten, wegen Geldschulden und diverser Meinungsverschiedenheiten. Seitdem bekämpfen sie sich bis auf den Tod. Und das Problem, dass die schwedischen Behörden bei der Bekämpfung dieser Banden haben, ist, dass deren Anführer, die auch den Drogenmarkt kontrollieren, vom Ausland aus operieren.“

    Chef der „Foxtrot“-Bande

    Der Chef der Foxtrot-Bande, ein gebürtiger irakischer Kurde namens Rawa Majid, lebt inzwischen in der Türkei. Sein Vorname Rawa erinnert an das schwedische Wort für Fuchs „Räven“. Darum nennt er sich „Kurdischer Fuchs“ und seine Bande „Foxtrot“.

    Orte und Märkte

    Nicht nur in den Vorstädten der schwedischen Großstädte Stockholm, Göteborg, Malmö und Uppsala ist Gewalt Alltag. Auch in beschaulichen Kleinstädten wie Helsingborg oder Umeå wird gemordet. Meistens geht es um Revierkämpfe im Drogenhandel. Manchmal aber auch nur um gekränkte Ehre.

    Die Waffen

    Die Bandenmitglieder schießen nicht nur mit schweren Waffen um sich, zum Einsatz kommen auch Handgranaten und Bomben. Immer häufiger sterben dabei Unschuldige. Die Ehefrau eines Gangmitglieds wurde auf offener Straße erschossen - mit ihrem Kleinkind auf dem Arm. Im Januar explodierte eine Bombe in einem Stockholmer Restaurant.

    Die Täter

    Die meisten Täter sind Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Zwar führt die schwedische Polizei keine Statistiken über die Herkunft von Bandenmitgliedern, aber eine Untersuchung des schwedischen „Rats für Verbrechensverhütung“ aus dem Jahr 2021 hat gezeigt, dass in Schweden geborene Jugendliche mit zwei ausländischen Elternteilen als Tatverdächtige bei Mordanschlägen und Raubüberfällen überrepräsentiert sind.

    Kinder als Mörder

    Investigativjournalist Salihu erklärt: „Womit wir es in Schweden derzeit in extremer Weise zu tun haben ist, dass die Gangs Kinder als eine Art Kindersoldaten benutzen. Es gibt eine Rekordzahl von Minderjährigen in Jugendgefängnissen, die schwerster Verbrechen wie Mord beschuldigt werden.“

    Immer jüngere Bandenmitglieder

    Die Chefs der Banden heuern bevorzugt 14- bis 16-Jährige an. Für die ersten Botendienste bekommen sie oft schon umgerechnet ein paar hundert Euro. Später kann der Auftrag dann heißen: Mord.
    Eine Entwicklung, die das ganze Ausmaß des Versagens von Staat und Gesellschaft in Schweden zeige, sagt der Experte Diamant Salihu: „Wenn Sie in Schweden als 16-Jähriger einen Mord begehen, bekommen Sie maximal vier Jahre Jugendgefängnis. Dort haben Sie sogar Zugang zu einem iPad und können mit Ihren Freunden draußen kommunizieren. Das Risiko, das Sie eingehen, ist also niedrig im Vergleich zu den Belohnungen, die Ihnen winken. Entweder in Form von Geld oder Anerkennung.“
    Für Kenner der Szene kommt diese Entwicklung nicht überraschend. Schon 2010 warnte das staatliche Kriminalforschungsinstitut „Brå“ in einem Bericht davor, dass die Mitglieder der Gangs immer jünger werden.


    Welche Gründe hat die Bandenkriminalität?

    Auf der Suche nach Erklärungen für die ausufernde Bandenkriminalität wird immer wieder die Segregation, also die räumliche Abgrenzung bestimmter Gruppen, aufgeführt. Auch Gottsunda, ein Vorort der mittelgroßen schwedischen Stadt Uppsala, wird zu diesen abgeschirmten Wohnorten gezählt. Das Stadtviertel ist geprägt von Wohnblocks mit Sozialwohnungen, gebaut in den 1960er und 70er Jahren. Heute leben hier überwiegend Migranten. Die meisten der rund 10.000 Einwohner gelten als einkommensschwach.

    Gottsunda „besonders gefährdetes Gebiet“

    Für die schwedische Polizei ist Gottsunda ein sogenanntes „besonders gefährdetes Gebiet“. Immer wieder gibt es Schießereien. Banden würden hier Mitglieder rekrutieren, heißt es in schwedischen Medien.
    Ein Beispiel: Der 15-jährige Ahmed kam mit seinen Eltern vor zehn Jahren nach Gottsunda. Er ist in Syrien geboren. Es gibt in der Stadt zwei Jugendclubs, ein Schwimmbad, mehrere Sportplätze und demnächst wird ein nagelneuer Schulbau eingeweiht.
    Nach der Schule hängt Ahmed mit seinen Freunden auf den Straßen herum. Oder sie gehen in einen der Jugendclubs, Videospiele spielen oder Billard. Freizeitangebote gebe es genug, sagt Ahmed, Arbeitsangebote für die Älteren dagegen nicht so viele. Auf der Suche nach dem schnellen Geld würden Gleichaltrige kriminell.

    Diskriminierung und Armut

    Sozialarbeiterinnen in Gottsunda meinen, dass im Zusammenhang mit der Kriminalität von Jugendlichen aus Wohngebieten wie diesen auch über Diskriminierung und Armut gesprochen werden müsse: „Wenn beide Eltern für den Mindestlohn bis spät in den Abend arbeiten müssen, dann sind die Kinder vielfach auf sich allein gestellt. Wir müssen uns um diese Kinder kümmern, auch wenn das für einige dieser Familien kulturell gewöhnungsbedürftig ist.“

    Was unternimmt die Regierung, was will die Opposition?

    Die um sich greifende brutale Gewalt veranlasst die schwedische Regierung zu drastischen Maßnahmen. In seiner Rede an die Nation Ende September überraschte Ministerpräsident Kristersson mit der Ankündigung: „Für morgen habe ich den Landespolizeichef und den Befehlshaber der Armee zu mir gebeten. Wir wollen sehen, wie die Armee die Polizei im Kampf gegen die kriminellen Gangs unterstützen kann.“

    Armee im Einsatz

    Die Armee im Einsatz bei der Kriminalitätsbekämpfung - ein in Nordeuropa einmaliger Vorgang. Zwar patrouillieren in den Straßen von Stockholm keine Soldaten. Die Zusammenarbeit von Polizei und Armee soll sich zunächst auf Informationsbeschaffung und Überwachung von Kommunikation beschränken.
    Für Investigativjournalist Diamant Salihu ist die Ankündigung der Regierung ein Zeichen dafür, wie mächtig die Banden in ihrem Kampf um den Drogenmarkt in Schweden inzwischen geworden sind.

    Schwedendemokraten: Muslime sind schuld

    Ginge es nach der rechtspopulistischen Partei Schwedendemokraten, parlamentarische Stütze der Minderheitsregierung, sollte es nicht die geringste Nachsicht mit kriminellen Bandenmitgliedern geben. Für den Parteivorsitzenden Jimmie Åkesson ist klar, wer für die Gewalt die Verantwortung trägt: Die Migranten im Land, allen voran Muslime. Åkesson behauptet, die Migration habe in Schweden nur zu Unkosten und Kriminalität geführt. Schwedische Familien würden gezwungen, wegen der Gewalt in andere Städte zu ziehen. Das sei der Grund für die Segregation.

    Opposition: Massiv in Prävention investieren

    Der oppositionelle sozialdemokratische Ex-Minister Ardalan Shekarabi, selbst ein Kind iranischer Einwanderer hält dagegen, es dürfe nicht nur um die Verschärfung der Strafgesetze gehen. Diese seien wichtig, aber man müsse viel mehr in Prävention investieren und etwas gegen die gesellschaftliche Spaltung tun. "Wir brauchen eine sehr viel inklusivere Gesellschaft, in der junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen haben und eine positive Zukunft für sich sehen können.“
    Doch zunächst plant die Mitte-Rechts-Regierung, die Einwanderung nach Schweden deutlich zu begrenzen. Bis 2016 hatte Schweden eines der liberalsten Einwanderungs- und Asylgesetze Europas. Damit soll nun endgültig Schluss sein. Einwanderern aus Nicht-EU-Staaten soll zudem der Zugang zu Sozialleistungen erschwert werden. Geplant ist auch eine Vorschulpflicht für Kinder mit zwei ausländischen Elternteilen, damit diese schneller die schwedische Sprache lernen.

    Polizei kritisiert veraltete Gesetze

    Seit Anfang des Jahres ist die Anstiftung von Minderjährigen zu Straftaten gesetzlich verboten. Zudem sind "Stop-and-search"-Zonen geplant, in denen die Polizei ohne konkreten Anlass Personenkontrollen durchführen kann. Das Strafmaß für illegalen Waffenbesitz und Sprengstoffdelikte soll verdoppelt werden. Und drei neue Gefängnisse sind derzeit im Bau.
    Die Polizei übt durchaus Kritik an der Regierung. Jale Poljarevius, zuständig für den Polizeigeheimdienst der Region Gottsunda: „Wir haben ein Gesetz aus dem Jahr 1942, das es uns untersagt, Hausdurchsuchungen nach 21 Uhr durchzuführen, wenn keine außergewöhnlichen Gründe vorliegen. An solchen naiven Gesetzen hat bislang niemand etwas geändert.“

    Welche weiteren Gegenmaßnahmen gibt es?

    In Gottsunda sollen Streetworker im Auftrag der Stadtverwaltung verhindern, dass Minderjährige in die Fänge der Drogenbanden geraten. Die Sozialarbeiter suchen das Gespräch mit den Jugendlichen. Ihre Botschaft: Wir sind da, wenn jemand Hilfe braucht.
    Aber nicht immer sind sie schneller als die Drogenbanden, geben zwei Sozialarbeiterinnen zu: „Die wollen die Jugendlichen rekrutieren. Davor versuchen wir in den Schulen schon die 10- und 11-jährigen zu warnen. Wir besprechen mit ihnen, was gegen die Gesetze verstößt und was nicht. Und welche Unterstützung sie bekommen können. Wir können ihnen vielleicht nicht bieten, was die Banden können, aber wir versuchen ihnen Jobs zu besorgen. Und sinnvolle Freizeitgestaltung und positive Rollenbilder zu bieten.“

    aha