Mai 2018: Auf einem Platz unweit der Stadt Visby auf der Insel Gotland stimmen ein paar hundert Menschen Kungssången" an – die offizielle Hymne auf den schwedischen König. Die Anwesenden blicken feierlich, selbst die zahlreichen Kinder halten inne. In der Mitte des Platzes hat ein Regiment in Tarnfleckuniformen Aufstellung genommen. Gleich gegenüber dem Regenten höchstselbst, König Gustav XVI., Oberbefehlshaber der Schwedischen Streitkräfte. Er wird an diesem Tag auf der östlichsten aller schwedischen Inseln das neue Regiment einweihen, 300 Männer und Frauen stark.
Damit ist Gotland wieder militarisiert – gerade einmal 13 Jahre nachdem man hier die letzten Soldaten abgezogen hatte. Sowohl der Monarch als auch der Verteidigungsminister werden später in ihren Ansprachen die "veränderte Sicherheitslage" in der Ostseeregion betonen, die diesen Schritt notwendig gemacht hätte.
Das Königreich rüstet auf
Gotland war erst der Anfang. Im Laufe der kommenden Jahre, so hat die schwedische Regierung angekündigt, sollen vier weitere neue Regimentsstandorte eingerichtet werden, einer davon im dünn besiedelten Lappland. Das Königreich rüstet unübersehbar auf.
Es begann mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht 2017. Ende 2019 dann hat die sozialdemokratisch geführte Regierung dem schwedischen Reichstag vorgeschlagen, in den kommenden zehn Jahren Kriegsmaterial für 156 Milliarden Kronen anzuschaffen, fast 15 Milliarden Euro.
Die Wunschliste des schwedischen Militärs ist lang, darunter die Modernisierung der Luftwaffe und der Panzerbestände, Drohnen, mobile Radarstationen, neue U-Boote und Fregatten. Das allermeiste davon wäre "Made in Sweden" - zur Freude der heimischen Industrie. Mit dem Luftwaffenhersteller Saab und der Kanonenfabrik Bofors zählt Schweden schon lange zu den führenden Rüstungsexporteuren der Welt.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reihe "NATO – eine Frage der Sicherheit".
Und noch etwas hat sich gewandelt: das Verhältnis zur NATO. Im Kalten Krieg galt in Schweden das strikte außenpolitische Credo: Blockfreiheit in Friedenszeiten und Neutralität in Kriegszeiten. Letzteres jedenfalls gilt nicht mehr: Schweden wolle sich nicht heraushalten, wenn es in der Nachbarschaft knallt, sagt Micael Bydén, der Generalstabschef des Landes, ein langgedienter Offizier:
"Wie sind ein enger Partner der NATO. Für mich als Oberkommandierenden der Streitkräfte ist die NATO sehr wichtig. Wir können dank der NATO an hochmodernen und -komplexen Übungen teilnehmen, wo wir unter Beweis stellen können, dass wir ein bedeutender Partner des Bündnisses sind. Dass Schweden ein verlässlicher Verbündeter ist und wir – wie versprochen - zur Stelle sind, wenn nötig."
Beim schwedischen Think-Tank für Krieg und Frieden
Neue Töne, die Niklas Granholm, mit großer Zufriedenheit vernimmt. Granholm ist stellvertretenden Leiter der Stockholmer Forschungsagentur für Verteidigungsfragen – so etwas wie der Think-Tank der Regierung in Sachen Krieg und Frieden. Seit vielen Jahren mahnt er seine Landsleute zu mehr Wachsamkeit. Nun habe nicht nur die Regierung die Zeichen der Zeit erkannt. "Glücklicherweise" sagt Granholm:
"Wir können in diesem Teil der Welt nicht länger ausschließen, dass es zu einem offenen Konflikt kommt. Wer in Schweden die Tageszeitungen liest, hat begriffen, dass sich die Lage verändert hat. Die positive Einschätzung unserer Sicherheitslage aus den 1990er-Jahren gilt nicht mehr. Aber es braucht eben einige Zeit, bis sich eine solche Erkenntnis durchsetzt."
Die Annexion der Krim durch Russland, die Ukraine-Krise, die denkbare, wenn auch nicht abschließend bewiesene Liquidierung von Oppositionellen im Ausland durch Moskaus Geheimdienst - das alles habe dazu beigetragen, dass die Neutralität Schwedens heute so gut wie perdu sei, sagt Granholm. Und er zählt auf: Beistandsverpflichtung im Lissabonner Vertrag der EU, bilaterale Verträge mit den Nachbarn Finnland, Dänemark und Norwegen und regelmäßige Teilnahme an Manövern der NATO.
"Wir haben uns erstmals in den 90er-Jahren in Bosnien geräuschlos einem NATO-Kommando unterstellt, als die damalige UN-Schutztruppe in die NATO-geführte IFOR überführt wurde. Das war ein bedeutender Schritt. Heute sind wir Teil des "Enhanced Opportunity Programms" der NATO. Das ist eine Art goldene Partnerschaft mit dem Bündnis. Damit sind wir eines von sechs Ländern, das seine Streitkräfte den technischen und organisatorischen Standards der NATO angepasst hat."
Krise, Konflikt, Krieg waren früher unerhörte Worte
Bleibt die Frage: Warum tritt Schweden dann nicht ganz der NATO bei? Granholm hebt ratlos seine Hände:
"Dazu braucht es eine breite politische Zustimmung. Ohne die schwedischen Sozialdemokraten geht eine solche tiefgreifende Entscheidung nicht. Aber Teile der Partei scheinen noch immer nicht ihre Niederlage um die EU-Mitgliedschaft von 1995 überwunden zu haben, die viele von ihnen als Verrat an der Neutralität des Landes und ihren Idealen angesehen haben. Die Konservativen und die Zentrumsparteien dagegen haben sich in den vergangenen Jahren hin zu einer Pro-NATO-Haltung entwickelt. Klar ist: Im Falle eines offenen Konflikts in dieser Region würden wir ziemlich schnell die NATO-Mitgliedschaft beantragen."
Krise, Konflikt, Krieg. Das waren früher unerhörte Worte in Schweden. Doch schon vor zwei Jahren ließ die Regierung in Stockholm eine Broschüre drucken mit dem Titel: "Wichtige Informationen für den Fall eines Krieges oder Krise". Eine Handreichung für den Kriegsfall. Auf dem Titel zwei Zeichnungen: Die eine zeigt Soldaten im Gefechtseinsatz, die andere eine Familie vor Transistorradio und gestapelten Lebensmittelvorräten. Das 20-seitige Heft ging an alle 4,8 Millionen schwedischen Haushalte.