In Schweden hat die Pandemie sonderbare Blüten getrieben. Internetshops vertreiben T-Shirts mit Tegnell in Ritterrüstung. Und manche Bürger haben sich das Konterfei des Behördenchefs auf ihren Körper tätowieren lassen. Bei Anders Tegnell ruft soviel Bekanntheit eher Beklemmung hervor.
"Ich treffe zwar gerade nicht so viele Menschen. Aber klar, auf der Straße erkannt zu werden, ist total komisch."
Anders Tegnell ist sich dennoch treu geblieben. Zu den Presskonferenzen der Gesundheitsbehörde, die bis vor kurzem täglich im Fernsehen ausgestrahlt wurden, erscheint der 65-Jährige konsequent in Jeans und Turnschuhen. Doch die vehemente Kritik an seiner Pandemie-Strategie, die ihm im vorigen Jahr aus dem Ausland entgegenschlug, hat ihn nicht kalt gelassen.
"Ich höre mir gerne konstruktive Vorschläge für andere Wege an, die man einschlagen könnte. Aber nur zu kritisieren, ohne zu erklären, was wir besser machen könnten, erscheint mir sehr sinnlos."
Schweden setzte bei den Maßnahmen auf Freiwilligkeit
Als zu Beginn der Pandemie die meisten Länder Europas einen strengen Lockdown verhängten, blieben in Schweden Geschäfte und Schulen bis zur neunten Klasse offen. Die Menschen wurden aufgefordert, Abstand zu halten, nur im Notfall zu reisen und möglichst zuhause zu arbeiten. Dabei verließ sich die Gesundheitsbehörde darauf, dass sich die Bevölkerung freiwillig an die Vorgaben hält, Bußgelder wurden nicht verhängt. Im Ausland hielt man diese eher laxen Maßnahmen teils für unzureichend, Kritiker bezeichneten sie als fährlässig und verantwortungslos. Was sie dabei übersehen haben: In Schweden gelten solche Empfehlungen als ungeschriebenes Gesetz und werden vielleicht sogar von mehr Menschen befolgt als Verbote. Dieses gegenseitige Vertrauen war für Anders Tegnell das wichtigste Werkzeug in der Pandemie-Strategie.
"Ich denke, dass war der zentrale Punkt. Wir haben von Anfang an gesagt: Das hier wird ein Marathon und kein Sprint, deswegen brauchen wir Maßnahmen, die über sehr lange Zeiträume funktionieren. Wir haben nie daran geglaubt, dass dieses ständige Öffnen und Zumachen der Gesellschaft funktioniert. Uns war klar, dass das zu viele negative Effekte mit sich bringt."
Oberstes Ziel: Reduktion der Kontakte
Kinder brauchen Gleichaltrige für ihre Entwicklung – das war für die Schweden das wichtigste Argument gegen Kita- und Schulschließungen. Die Erwachsenen hingegen verzichteten weitgehend auf soziale Kontakte und gingen freiwillig ins Homeoffice, falls möglich. Insgesamt seien die Unterschiede zu anderen Ländern also nicht so groß, wie es oftmals in den Medien dargestellt worden sei, sagt Anders Tegnell.
"Man darf nicht vergessen: Was wir wie alle anderen Länder erreichen wollen ist, dass Menschen so wenig wie möglich andere Menschen treffen. Manche haben einfach alles geschlossen. Wir haben darauf gesetzt, dass die Menschen selbst die Verantwortung übernehmen und versuchen, andere so wenig wie möglich zu treffen."
Doch in Schweden haben sich während der ersten Infektionswelle mehr Menschen mit Sars-CoV-2 angesteckt als in Ländern mit härterem Lockdown. Und es sind prozentual gesehen mehr Menschen an Covid-19 gestorben als in Deutschland oder den skandinavischen Nachbarländern. Gleichzeitig hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass sich durch die hohe Zahl an Infektionen rasch eine Art natürliche Immunität ausbilden könnte, also ein Ansteckungsschutz in der Bevölkerung.
Der Herdeneffekt blieb aus
"Wir, also ich und auch viele andere, hatten eigentlich erwartet, dass die erste Infektionswelle, in der sich ja recht viele Menschen angesteckt hatten, einen bremsenden Effekt haben würde. Aber dann haben wir gesehen, dass die Infektionszahlen im Herbst in anderen Ländern anstiegen - und da war uns klar, dass die zweite Welle auch nach Schweden kommen würde."
Die zweite Welle traf die Skandinavier sogar noch heftiger als die erste. Im Herbst des vorigen Jahres verschärfte die Regierung deshalb erstmals auch per Gesetz die Infektionsschutzmaßnahmen. Anders Tegnell sieht das allerdings nicht als Eingeständnis, dass die freiwilligen Regeln unzureichend waren und man schon besser schon früher restriktivere Maßnahmen verhängt hätte. Doch er räumt ein: Die Pandemie habe durchaus ein paar Schwächen offenbart.
"Es gibt Dinge, an denen Schweden arbeiten muss: Die Versorgung älterer Menschen muss besser und sicherer werden. Und wir müssen effektiver darin werden, das Gesundheitssystem in einer Pandemie-Situation umzustellen: Damit wir schneller Testkapazitäten schaffen und Infektionsketten nachverfolgen können."
Kein Patentrezept für Zeiten der Krise
Mehr Flexibilität bei der Anpassung von Infektionsschutzmaßnahmen, das ist eine der zentralen Lehren für Anders Tegnell: "Zum Beispiel wenn es neue Erkenntnisse darüber gibt, wie sich die Menschen anstecken. Man sollte schnell und am besten auf internationaler Ebene erforschen, in welchen Bereichen die größten Ansteckungsrisiken liegen. Hier hätten wir besser und schneller sein können, denn es ist ja immer noch nicht ganz klar, wo sich die Menschen hauptsächlich anstecken."
In seiner langjährigen Karriere hat Anders Tegnell für die WHO gearbeitet und war mit Ärzte ohne Grenzen in der Demokratischen Republik Kongo im Einsatz, um einen Ebola-Ausbruch zu bekämpfen. Dem Experten für Infektionsschutz ist klar, dass sich Krankheitserreger sehr unterschiedlich und manchmal unberechenbar verhalten.
"Das ist etwas, was wir aus der Krise gelernt haben: Eine Strategie, die in einem Land funktioniert, kann in anderen scheitern. Es ist also offensichtlich, dass man die Maßnahmen an die Lebensumstände der Menschen anpassen muss."
Ein Patentrezept für zukünftige Pandemien wird es deshalb nicht geben, meint Schwedens oberster Seuchenschützer. Genau wie anderswo in Europa setzt Schweden dabei jetzt vor allem auf Impfungen. 33 Prozent der Bevölkerung sind bereits zweimal gegen das neue Coronavirus geimpft, 55 Prozent einmal.