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Schweinerei im Weltall

Auf den ersten Blick scheint der Weltraum groß und im wesentlichen leer zu sein. Tatsächlich treiben sich dort jedoch sehr viel mehr Körper herum, als es Raumfahrtingenieuren lieb sein kann: 600.000 Objekte, so die Schätzungen, fliegen um die Erde. Sie alle hat der Mensch ins All geschossen. Die Internationale Raumstation gehört dazu, außerdem gut 800 funktionsfähige Satelliten, der Rest ist fliegender Schrott.

Von Dirk Lorenzen |
    "Attention! Kollisionswarnung! Iridium 33 ist auf Kollisionskurs!"

    " Oh no, nicht schon wieder…"

    "Ist das da Kosmos 2251?"

    "Sofort den Kurs ändern! Sofort den Kurs ändern!"

    "Sieht so aus. Wird eng."

    "Wo ist denn Jo? Der soll mal rüberkommen, es brennt. Jo!"

    "Kollision in drei Sekunden!"

    "Shit!"

    "Kollision erfolgt – Satelliten zerstört!"

    10. Februar 2009: In 800 Kilometern Höhe krachen ein voll funktionsfähiger amerikanischer Iridium-Satellit und ein abgeschalteter russischer Kosmos-Satellit ineinander. Zurück bleiben Tausende von Trümmerteilen.

    Auf den ersten Blick scheint der Weltraum groß und im wesentlichen leer zu sein. Doch in der Umgebung der Erde treiben sich mittlerweile sehr viel mehr Körper herum, als es Raumfahrtingenieuren lieb ist:

    "Die Gesamtzahl der Objekte, die größer sind als ein Zentimeter, beläuft sich auf allen Erdumlaufbahnen auf ungefähr 600.000."

    Carsten Wiedemann von der Technischen Universität Braunschweig kennt sie alle: Keines dieser 600.000 Objekte ist natürlichen Ursprungs – sie alle hat der Mensch ins All geschossen. Die Internationale Raumstation gehört dazu, außerdem gut 800 funktionsfähige Satelliten: Sie dienen der Erd- und Wetterbeobachtung, ermöglichen Telekommunikation und Navigation, blicken ins Weltall, erforschen die Atmosphäre oder betreiben militärische Aufklärung. Der Rest ist fliegender Schrott – Weltraummüll in der Umlaufbahn.

    "Weltraummüll, eigentlich sollte man besser sagen, Raumfahrtrückstände, ist also alles das, was vom Menschen erzeugt worden ist und im Weltraum die Erde umkreist. Das sind Trümmerteile von Explosionen, zurückgebliebene Werkzeuge. Wir kennen alle die Werkzeugtasche der Astronauten. Das sind Dinge, die bei jedem Start einer Rakete oder eines Satelliten entstehen: Haltebolzen, Abdeckungen von Optiken bis hin zu kleineren Teilen, die von Satelliten im Laufe der Zeit einfach abplatzen oder abbrechen."

    Ludger Leushacke ist Abteilungsleiter Radarverfahren für Weltraumaufklärung der Forschungsgesellschaft für angewandte Naturwissenschaften, FGAN, in Wachtberg bei Bonn. Aufzuklären gibt es im Weltraum mehr als genug. Mehr als ein halbes Jahrhundert Raumfahrt haben aus der Erdumlaufbahn fast schon eine kreisende Müllkippe gemacht. Und es hat schon früh begonnen.

    17. März 1958: Die Nasa startet den Satelliten Vanguard-1 ins All. Der Funkkontakt bricht nach wenigen Jahren ab, doch der Satellit befindet sich noch immer im Orbit. Man schätzt, dass Vanguard-1 noch etwa 2000 Jahre lang als Weltraummüll die Erde umkreisen wird.

    Ob ausgedienter Satellit, alte Oberstufe oder abgefallene Bolzen. Den Raumfahrern von heute begegnet im All die eigene Vergangenheit. Vor allem in den 60er und 70er Jahren hat man den Müll im All als Problem ignoriert. Dass die unkontrolliert um die Erde rasenden Trümmerteile eine ernste Gefahr darstellen, dämmerte erst, als es längst zu spät war. Heute werden möglichst viele der Trümmer gezielt per Radar und mit optischen Teleskopen verfolgt – eine wahre Sisyphusarbeit.

    "Im Katalog vom amerikanischen Weltraumüberwachungssystem haben wir derzeit etwa 13.500 Objekte, die uns zugänglich sind. Die Amerikaner selber haben noch einige Tausend Objekte mehr, die sie in einem Analyse-Katalog bereithalten. Das geht im erdnahen Raum bis fünf oder zehn Zentimeter Größe; im geostationären Orbit sind das 30 Zentimeter bis ein Meter."

    Heiner Klinkrad, Leiter der Abteilung für Weltraumrückstände am Europäischen Raumfahrtkontrollzentrum Esoc in Darmstadt. Er war Student, als 1979 das amerikanische Raumlabor Skylab vom Himmel stürzte. Dieses Ereignis weckte sein Interesse für die unschönen Hinterlassenschaften der Raumfahrt. Immerhin: Wenn der Schrott zu Boden stürzt, ist das ein Ende mit Schrecken – in der Umlaufbahn dagegen ist der Weltraummüll zumeist ein Schrecken ohne Ende.

    29. Juni 1961: Eine Stunde nach dem Start des US-Militärsatelliten Transit-4A explodiert die leere Raketenoberstufe. Zurück bleiben 300 große und zahllose kleine Trümmerteile. Mit dieser ersten Explosion im Weltraum vervierfacht sich schlagartig die Zahl der Objekte in der Umlaufbahn. Die meisten Trümmer fliegen noch immer um die Erde.

    Selbst kirschgroße Teile entfalten dabei eine enorme Wucht. Das liegt an den Geschwindigkeiten, mit denen die Trümmer um die Erde rasen. Bei einem Einschlag mit bis zu 50.000 Kilometern pro Stunde wird aus jedem noch so harmlos erscheinenden Metallplättchen ein tödliches Geschoss. Heiner Klinkrad:

    "Bei einem 1-Zentimeter-Teilchen, wenn es mit einem Satelliten kollidiert und die zentrale Nutzlast trifft, kann man davon ausgehen, dass der Satellit seine Funktion einstellt. So ein 1-Zentimeter-Objekt entfaltet bei den Relativgeschwindigkeiten, die wir auf Erdumlaufbahnen sehen, die Energie eines Mittelklassewagens, der im normalen Straßenverkehr auf eine solide Betonwand prallt."

    Panzern lassen sich die Satelliten kaum: Das Gewicht würde den Start unbezahlbar machen. Heiner Klinkrad ist heute für die Sicherheit der Satelliten zuständig, die die Europäische Weltraumorganisation Esa im All betreibt – etwa die Erdbeobachtungssatelliten ERS-2 und Envisat.

    Herbst 1968: Die Sowjetunion lässt mehrere ihrer Kosmos-Satelliten in unmittelbarer Nachbarschaft voneinander explodieren. Bei diesen ersten Tests zur gezielten Zerstörung von fremden Satelliten entstehen mehr als 1000 große Trümmerteile.

    Heiner Klinkrad:

    "Mehr als die Hälfte, etwa 54 Prozent aller vom Boden aus beobachtbaren Objekte, sind Fragmente, die von Explosionen ausgehen. Von diesen Zerlegungsereignissen hatten wir bis dato fast 250. Gerade in den letzten Jahren hatten wir einige vehemente Ereignisse dieser Art, die speziell auch unseren Esa-Satelliten sehr zu schaffen machen."

    Immer wieder trifft es ausgediente Raumfahrzeuge. Statt eines großen Stücks Weltraummüll, kreisen dann plötzlich Tausende von Trümmern wie eine gewaltige Schrotladung um die Erde. Mit verheerenden Folgen für die Raumfahrt.

    24. Juli 1996: Der Antennenarm des französischen Militärsatelliten Cerise wird von einem Trümmerstück einer alten Ariane-Raketenstufe getroffen. Durch den Zusammenstoß gerät der Satellit in unkontrollierte Taumelbewegung und ist seitdem unbrauchbar.

    Es ist schon lange keine bloße Theorie mehr, dass Hunderte Millionen Euro teure Satelliten von einem kleinen Schrottteilchen im All zerstört werden. Weil das Fliegen auf bestimmten Bahnhöhen immer unsicherer wird, prüfen die Raumfahrtagenturen stets das Risiko ihrer kostbaren Satelliten. Ludger Leushacke:

    "Die Esa geht so vor, dass sie jede Nacht für ihre Satelliten eine Grobkollisionsschätzung vornimmt. Und zwar anhand der amerikanischen Daten für Objekte größer als zehn Zentimeter. Wenn ein bestimmtes Risikolevel überschritten wird, werden wir beauftragt, die Bahn genauer zu vermessen, insbesondere die Bahn des möglicherweise kollidierenden Trümmerteils."

    Ludger Leushacke ist gleichsam Europas oberster Radaraufklärer im All. Sein Arbeitsplatz in der Nähe von Bonn sieht von weitem so aus, als läge dort ein riesiger Golfball in der Landschaft. Auf dem Dach eines runden dreistöckigen Gebäudes eine weiße Kugel mit knapp 50 Metern Durchmesser.

    ""Wir stehen hier im Innenraum des Ringbaus. Wir sehen da oben die 34-Meter-Antenne."

    Im Innern des "Golfballs" befindet sich eine Radaranlage. Der Weg, der sich an der Innenwand einmal rund um das Gebäude erstreckt, gibt den Blick frei auf die stahlgraue Gitterkonstruktion mit ihren gewaltigen Motoren.

    "Wir sehen den rückwärtigen Teil der Antenne. Das Drehlager und die Elevationsantriebe von hinten. Wenn der Satellit aufgegriffen ist, werden Sie sehen, wie die Antenne bewegt wird und automatisch dem Satelliten hinterherfährt."

    Die gekippt stehende Antennenschüssel nimmt plötzlich Fahrt auf. Wie von Geisterhand dreht sie sich binnen fünf Minuten von rechts nach links. Gesteuert vom Kontrollraum gleich nebenan folgt die Antenne einem Objekt, das gerade über Deutschland zieht. Wieder einmal ist ein Stück Weltraummüll in die Radarfalle gegangen.

    "Unser Radar hat eine Empfindlichkeit, dass wir in der Lage sind, in 1000 Kilometern Entfernung ein 2-Zentimeter-Objekt gerade noch zu entdecken. Wenn wir es zusammen mit dem Radioteleskop Effelsberg machen, dann kommen wir runter bis ein Zentimeter. Das ist dann so ungefähr die Grenze, bis zu der man wissen will, was da oben los ist. Man sagt, ab ein Zentimeter Größe sind die Trümmerteile so gefährlich, dass der Satellit, der getroffen wird, möglicherweise zerstört wird. Deswegen will man alles wissen, was da oben größer als ein Zentimeter herumfliegt."

    Ob es regnet oder Nebelschwaden über die Anhöhe ziehen, ob es Nacht ist oder taghell. Das Radar von Ludger Leushacke und seinem Team erfasst die Trümmer im All bei jedem Wetter – und mit beeindruckender Genauigkeit.

    "Um mal ein Zahlenbeispiel zu geben: Wenn man aus den amerikanischen Daten schätzt, dass der Vorbeiflugabstand der beiden Objekte sagen wir 200 Meter ist, die Unsicherheit aber plus minus 300 Meter, dann kann man eben nicht sagen, ob sie kollidieren oder nicht. Wenn wir jetzt die Bahnen genauer vermessen, haben wir etwa eine Verbesserung von einem Faktor 50. Wir hätten dann statt plus minus 300 Meter nur noch plus minus 6 Meter, 200 Meter plus minus 6 Meter. Da ist man auf der sicheren Seite."

    Ludger Leushacke gibt auch dieses Mal Entwarnung. Europas Satelliten Envisat droht keine Gefahr. Das als gefährlich eingestufte Trümmerstück wird den Satelliten um mehr als 250 Meter verfehlen. Envisat braucht nicht auszuweichen. Doch nicht immer geht es so glimpflich aus.

    "Achtung. Sofort den Kurs ändern!"

    Manchmal muss Envisat die Steuerdüsen zünden und seine Bahn ändern.

    "Kollision erfolgt in zehn Sekunden!"

    Und manchmal kommt es auch zu einer Kollision im All.

    Ludger Leushacke:

    "Es gibt pro Tag schätzungsweise 150 Kollisionsmeldungen, wovon von den Amerikanern die kritischsten zehn weitergegeben werden."

    "Kollision erfolgt – Satellit zerstört!"

    Manche kommerziellen Anbieter haben angesichts der Vielzahl von Warnmeldungen fast aufgegeben. Ständig auf Verdacht auszuweichen, würde viel Treibstoff kosten und die Betriebsdauer der Satelliten erheblich verkürzen. Das gezielte Nachmessen per Radar ist kostspielig – und rein technisch gar nicht immer möglich. So sind im Februar 2009 der amerikanische Kommunikationssatellit Iridium-33 und der russische Aufklärungssatellit Kosmos-2251 kollidiert. Leushacke:

    "Der russische Satellit war nicht mehr unter Kontrolle, außer Betrieb. Der konnte nicht mehr gesteuert werden. Iridium hätte ausweichen können. Dafür braucht man genaueste Kenntnis der Bahn und der Kollisionsgeometrie. Man hat es aber offenbar nicht für nötig gehalten, entsprechend zu reagieren und den Iridium-Satelliten auf einen Ausweichorbit zu bringen."

    Wirklich überrascht hatte die Kollision niemanden. Im Gewirr der Satelliten und Trümmer verliert man schnell die Übersicht – nur große militärische Dienste in den USA, Russland oder China haben die Vorgänge in der Umlaufbahn fast komplett im Blick. Doch auch das bietet keinen sicheren Schutz. Denn es kann im Prinzip jederzeit jeden Satelliten treffen. Die Trümmer, die einige Zentimeter groß sind, lassen sich nicht ständig verfolgen. Um zumindest eine Vorstellung davon zu haben, was da oben herumfliegt, führen die Ingenieure etwa zweimal im Jahr eine Art Volkszählung in der Umlaufbahn durch. Leushacke:

    "Das nennen wir Beam-Park-Experimente, wo wir den Radarstrahl nicht bewegen, sondern schlicht und einfach in den Himmel schauen, in eine bestimmte Richtung, und ständig Radarpulse aussenden und auf reflektierte Signale warten. Immer wenn ein Objekt durchfliegt, gibt es einen Reflex, der vom Radar aufgefangen wird. Das macht man über 24 Stunden und dann wird hinterher der Dateninhalt auf Objekte untersucht, die in 24 Stunden durch die Keule geflogen sind. Das sind so 600 bis 800 Objekte. Dann bestimmt man Höhe, Richtung und hat auch ein paar grobe Anhaltspunkte, auf welchen Bahnen diese Objekte fliegen."

    Die Forscher sehen also, wie Trümmerteile durch den Radarstrahl huschen. Für Carsten Wiedemann vom Institut für Raumfahrtsysteme der TU Braunschweig sind diese 24-stündigen Schnappschüsse eine wichtige Grundlage, um die Verteilung des Weltraummülls zu verstehen.

    "Wir wissen dann also, dass es zu bestimmten Zeiten auf bestimmten Umlaufbahnen eine gewisse Population von Weltraummüll gegeben hat. Die Dynamik müssen wir dann durch Modelle berücksichtigen und das ist das, worauf sich unser Institut spezialisiert hat. Mit Dynamik ist gemeint, wie sich diese Objekte zeitlich und räumlich um die Erde verteilen. Wo sind Objekte in zehn Jahren, die heute freigesetzt worden sind? Wo werden sie in 20 Jahren sein? Wie lange werden sie überhaupt auf ihren Umlaufbahnen bleiben? Das sind Berechnungen, die wir durchführen."

    Carsten Wiedemann und sein Team betreiben Master, ein aufwändiges Programm, das die Verteilung des Weltraummülls räumlich wie zeitlich äußerst präzise beschreibt. Die Braunschweiger Gruppe leitet das europaweite Projekt im Auftrag der Esa. Beobachter sehen in Master tatsächlich den "Meister des Müllproblems" – kein anderes Modell kann so genau abschätzen, wo im Weltraum Satelliten welchen Gefahren ausgesetzt sind. Solide Fleißarbeit, die sich immer wieder den harten Messdaten aus dem All stellen muss. Wiedemann:

    "Einige dieser Messwerte werden gewonnen, indem man Raumfahrt-Hardware zur Erde zurückführt, etwa beim Hubble-Weltraumteleskop. Es hat mehrere Service-Missionen zu Hubble gegeben. Dort wurden dann die Solarzellen abmontiert und zu Analysezwecken zurück zur Erde geführt. Da findet man Tausende von Einschlägen von Kleinstpartikeln, meist Objekte von einer Größe von weniger als einem Zehntel Millimeter."

    Auch auf der Außenwand der Internationalen Raumstation ISS waren einige Teile jahrelang den Bedingungen den Weltraums ausgesetzt, bevor sie zurück zur Erde gebracht wurden. Etliche zum Glück sehr kleine Einschlagslöcher zeigen, dass es auch auf der Bahn der ISS alles andere als perfekt sauber ist.

    12. März 2009: Die Astronauten an Bord der Raumstation warten den Vorbeiflug eines Stücks Weltraummüll sicherheitshalber in der Soyuz-Rettungskapsel ab. Das Trümmerstück war erst kurz zuvor entdeckt worden. Für ein Ausweichmanöver der ISS blieb keine Zeit. Der Weltraummüll rast an der Raumstation vorbei ohne Schaden anzurichten.

    Die ISS ist auf der Vorderseite leicht gepanzert, um die Besatzung besser zu schützen. Doch perfekten Schutz vor schweren Treffern gibt es nicht. Vor allem bei Außenarbeiten droht den Astronauten Gefahr. Mit Hilfe des Master-Programms lässt sich abschätzen, wie viele Trümmerteile der ISS in die Quere kommen können. Zum Glück für die Raumfahrer ist die relativ niedrige Bahnhöhe der ISS keineswegs die größte Problemzone im Erdorbit:

    "In 900 Kilometern Höhe haben wir die höchste Dichte an Trümmerstücken. Es sind nicht nur die Trümmerstücke, die dort einen Beitrag zum Weltraummüll leisten, sondern es sind auch Flüssigmetalltropfen aus russischen Kernreaktoren, die in diesen Bahnen endgelagert wurden."

    In den Anfangsjahren der Raumfahrt haben die Sowjetunion und die USA ihre Spionagesatelliten gern mit kleinen Kernreaktoren ausgestattet, um so Energie im All zu gewinnen. Die Solarzellentechnik war damals noch nicht reif für den Orbit. 32 Reaktoren kreisen noch immer um die Erde. Wiedemann:

    "16 dieser Kernreaktoren haben am Ende ihres Lebens ihren Reaktorkern in den Weltraum abgestoßen und dabei den Reaktorkessel geöffnet. Dies ermöglichte es dem Kühlmittel, einer Flüssigmetalllegierung aus Natrium und Kalium, in den freien Weltraum auszutreten. Deshalb bewegen sich heute in 900 Kilometern etwa 30.000 Flüssigmetalltropfen in einer Größe von 5 Millimetern bis etwa 5,5 Zentimeter, die dort zu 30 Prozent zur Zentimeterpopulation im Weltraummüll beitragen."

    Damit sind bestimmte Umlaufbahnen, die für zivile wie militärische Erdbeobachtungssatelliten besonders interessant sind, extrem gefährlich geworden. Auf höhere oder niedrigere Umlaufbahnen auszuweichen, ist nicht möglich: Denn Flughöhe und Umlaufzeit eines Satelliten bedingen einander, sie gehorchen physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Wenn eine Mission einen konstanten Sonnenstand erfordert oder bestimmte Gebiete immer zur selben Uhrzeit überflogen werden sollen, sind einige Bahnhöhen besonders gut geeignet – trotz des Mülls. Auch Europas Erdbeobachtungssatellit Envisat muss auf einer dieser gefährlichen Bahnen fliegen. Ironie des Schicksals: Der im Moment noch mit viel Aufwand geschützte Satellit wird bald selbst zum Problem in der Umlaufbahn. Henri Laur, der Leiter der Envisat-Mission:

    "Leider hat Envisat nur einen kleinen Tank und nicht genügend Treibstoff, um die Bahn zu verlassen oder sich selbst gezielt zum Absturz zu bringen. Wir haben da einen alten Satelliten, der in den frühen 90er Jahren konzipiert worden ist. Damals waren Kollisionen im All und Strategien zur Vermeidung von Weltraummüll noch kein Thema. Envisat wird bald seine Arbeit einstellen – und dann noch Jahrhunderte im All bleiben, bis er verglüht."

    Über die Jahre wird Envisat wahrscheinlich mit anderen Trümmerstücken kollidieren – und so die Müllkrise weiter verschärfen. Das Beispiel Envisat zeigt sehr nachdrücklich, dass sich das Problem zuspitzen wird. Schnelle Abhilfe ist nicht in Sicht. Aber Carsten Wiedemann und sein Team können mit dem Master-Programm sehr genau vorhersagen, wie sich die weitere Vermehrung des Weltraummülls zumindest verlangsamen ließe.

    "Es hat sich gezeigt, dass eine besonders effektive Vermeidungsmaßnahme darin besteht, ausgediente Raumfahrzeuge unmittelbar nach dem Ende ihres Lebens gezielt zum Absturz zu bringen. Auf niedrigen Umlaufbahnen ist das ökonomisch durchaus machbar. Damit würde man zwei positive Effekte erzielen: Zum einen würde man weitere unbeabsichtigte Fragmentationen unterdrücken, die häufig nach dem Ende des Lebens eines Satelliten oder einer Raketenoberstufe erfolgen und durch die unbeabsichtigte Selbstentzündung von Resttreibstoff verursacht werden. Zum anderen würde man damit große Kollisionspartner aus dem Weltraum entfernen und damit die Wahrscheinlichkeit künftiger katastrophaler Kollisionen senken."

    Solange ein Satellit noch als Einheit besteht, lässt er sich relativ leicht entfernen. Ist er durch eine Explosion oder durch einen Zusammenstoß aber zu einem Trümmerschwarm mutiert, bleibt er für Jahrhunderte ein Risiko. Seit dem Jahr 2008 gibt es bei der Esa die Vorgabe, dass jeder neue Satellit nach spätestens 25 Jahren das All wieder verlassen haben muss. Diese – viel zu späte – Reaktion auf den Müll im All wird erst in vielen Jahrzehnten greifen. Und so träumt mancher Raumfahrer noch immer von der Müllabfuhr im All.

    "Alte Ariane-Stufe voraus. Klar machen zum Einsammeln."

    "Verstanden, Captain. Relativgeschwindigkeit 0,3, Saugrohr ausfahren."

    "Rohr betriebsbereit. Saugdruck -42."

    "Sehr gut. Stufe vernichtet... Auf zum nächsten Objekt: Terrasat-47, ein ausgefallener Kommunikationssatellit."

    "Der rotiert zu stark, Captain. Wir sollten ihn lasern."

    "OK. Laser auf automatische Zielerkennung."

    "Ziel erfasst. Laser schussbereit."

    "Vier Sekunden maximale Energie. Feuer!"

    "Sauber!"

    Schon in den 80er Jahren haben Forscher im Auftrage der Nasa untersucht, ob sich Weltraumschrott per Laser zum Absturz bringen lässt. Wenn Teile des Trümmerteils verdampfen, verändert das entweichende Gas über seinen Rückstoß die Bahn des Trümmerstücks. Richtig angewendet, ließe sich so die Umlaufbahn geradezu leer fegen. Die Idee ist gut – aber es zeigte sich sehr schnell, dass sie kaum umzusetzen sein wird, erklärt Heiner Klinkrad:

    "Das ist eine Lösung, die den meisten Leuten am besten gefällt, weil sie sich so wie Star Wars anhört. Aber das mit den Lasern hat viele Probleme. Wenn man den Laser vom Boden betreibt, verliert er an Effizienz. Und wenn man ihn vom Weltraum aus betreibt, kann man gegebenenfalls gegen internationale Richtlinien verstoßen, was die Verbreitung von Waffensystemen im Weltraum betrifft. Wenn man so einen Laser verwenden würde, müsste man ihn sehr genau positionieren und positioniert halten auf das sich schnell bewegende Müllteilchen. Das zu bewerkstelligen, ist sehr, sehr schwierig."

    Das "Weglasern" scheitert an technischen Hürden und am Weltraumstaubsauger wurde ohnehin nie ernsthaft geforscht. Denn angesichts des Vakuums im All ist ein Saugen schlicht unmöglich. Eine einfache Lösung für das Aufräumen in der Umlaufbahn gibt es also nicht. Große Satelliten oder Raketenstufen ließen sich mit angedockten leitfähigen Seilen abbremsen und so allmählich zum Absturz bringen. Das wäre einfacher als eine Zerstörung per Laser – aber immer noch sehr aufwändig. Doch die im All aktiven Agenturen und Unternehmen müssen sich etwas einfallen lassen. Heiner Klinkrad:

    "Es zeigt sich, auch wenn man heutzutage sämtliche Raumfahrtaktivitäten einstellen würde, keine Starts mehr durchführen würde und man würde die Objektumgebung dort oben sich selbst überlassen, dass das in manchen Bahnhöhen zu einem lawinenartigen Effekt führen würde. Es werden kleinere Objekte mit großen Objekten kollidieren, die dann vollständig zerlegt werden. Die Bruchstücke aus dieser Zerlegung werden wieder groß genug sein, um weitere katastrophale Kollisionen herbeizuführen. Das ist dann ein eskalierender Prozess, der manchen Bahnhöhen so etwas wie Saturnringe verleihen würde. Das würde die Operation von Satelliten in manchen Bahnhöhen sehr schwierig gestalten, wenn nicht unmöglich machen."

    Zwar träumen manche von einer weiteren Kommerzialisierung der Raumfahrt und vom Urlaubstrip in den Orbit. Doch es wird gerne vergessen, dass ein solcher Flug bereits in einigen Jahren ein extrem gefährliches Unterfangen sein dürfte. Schon vor fast zwanzig Jahren haben sich die Vereinten Nationen des Problems angenommen. Im Wissenschaftlich-Technischen Unterausschuss diskutieren Experten aus aller Welt in regelmäßigen Abständen, ob und wie man des himmlischen Mülls Herr werden könnte. Doch das Gremium hat keinerlei Befugnisse. Dabei tut globale Zusammenarbeit Not: Denn egal welche Nation ein Trümmerteil zu verantworten hat; betroffen sind am Schluss alle. Heiner Klinkrad:

    "Der erste Schritt wäre, weniger Objekte in den Weltraum zu entlassen. Der zweite Schritt wäre, Explosionen zu vermeiden. Langfristig sind aber nicht die Explosionen das Problem, sondern die Kollisionen. Katastrophale Kollisionen, diesen Lawineneffekt frühzeitig zu stoppen, das müsste unser Anliegen in allernächster Zukunft sein. Denn alles, was wir in den nächsten Jahren nicht schaffen, wird uns in späteren Jahren erheblich mehr Geld kosten."

    Einen Satelliten wie Envisat könnte nur eine kleine Sonde vom Himmel holen. Sie müsste an den Satelliten ankoppeln und ihn dann in die Atmosphäre lenken, wo beide gemeinsam verglühten. Diesen Aufwand wird sich niemand leisten können – dabei müssten ihn sich alle leisten. Denn die Situation im All gilt schon heute als so bedrohlich, dass nun auch Europa in den kommenden zehn Jahren ein umfassendes Weltraumüberwachungszentrum aufbaut. Selbst die Bundeswehr betreibt bereits ein Weltraumlagezentrum, das ständig das Risiko für die militärischen Radar- oder Kommunikationssatelliten bewertet, aber auch die Gefahren für zivile Satelliten im Auge hat. Doch die Raumfahrer machen im Moment nicht mehr, als den Status quo zu verwalten, bedauert Ludger Leushacke:

    #""Ich bin da ganz realistisch. Man wird es nicht schaffen, den Weltraum clean zu bekommen. Das ist eine Utopie. Man sagt zwar mittlerweile, dass das reine Vermeiden der Erzeugung neuen Mülls da oben nicht mehr ausreichen wird, um die Raumfahrt in Zukunft zu sichern, sondern dass man aktiv in manchen Regionen Trümmerteile entfernen muss. Aber man wird es niemals schaffen, weil es zu teuer und zu aufwändig ist, den ganzen Weltraum frei von Müll zu bekommen. Also die Müllabfuhr im Weltraum ist ein Traum, der auch ein Traum bleiben wird. Jedenfalls in den nächsten 50 Jahren, die ich vielleicht noch erlebe."

    Die gezielte Müllvermeidung funktioniert bisher nur in der geostationären Umlaufbahn. Dort, in 36.000 Kilometern Höhe, werden vor allem Kommunikations- und Wettersatelliten positioniert. Weil die Bahn kommerziell stark genutzt wird, halten sich vor allem die Firmen penibel an die Regel, ausgediente Satelliten mit dem letzten Rest Treibstoff auf eine 300 Kilometer höhere Friedhofsbahn zu bugsieren.

    "Attention! Kollisionswarnung 414/2020! Medisat-38 auf Kollisionskurs!"

    Nach einem halben Jahrhundert Raumfahrt ist der Weltraum ein fliegender Schrottplatz. Die Raumfahrtnationen sind die Zauberlehrlinge – sie werden die Geister nicht mehr los, die sie einst riefen. Die Sorglosigkeit der frühen Raumfahrtjahre müssen sie nun teuer bezahlen.

    "Sofort den Kurs ändern! Sofort den Kurs ändern!"

    Ludger Leushacke:

    "Wenn man also Raumfahrt weiter so betreibt wie bislang mit der Erzeugung von Müll, wird zumindest bemannte Raumfahrt in einigen Jahren, 2020, 2025, nicht mehr möglich sein."

    12. Mai 2032: Nachdem es auch beim dritten Raketenstart nacheinander zu Kollisionen mit Weltraumschrott gekommen ist, erklärt die Nasa ihr bemanntes Raumfahrtprogramm für beendet. Man werde mindestens bis zum Ende des Jahrhunderts nicht wieder versuchen, Menschen ins All zu bringen.

    Ludger Leushacke:

    "Weil die vielen Teile dann untereinander kollidieren und eine Vielzahl noch kleinerer Objekte erzeugen, die dann wie eine Art Teppich um die Erde herumfliegen und man da gefahrlos mit einem bemannten Raumschiff nicht mehr durchkommt. Das wäre so das Horrorszenario - dazu wird es aber hoffentlich nicht kommen."