"Teil des vorteilhaften schweizerischen Images ist so wie man meint, dass alle Schweizer jodeln, meint man, dass die Schweiz ein superneutrales Land ist. Das dient dem Land. Das ist völlig klar.
Man kann auch sagen: Das ist eine Art irreführende Wettbewerbspraktik, unter dem Label etwas zu machen, was einem in Wirklichkeit nützt. Aber auch damit steht die Schweiz nicht alleine. Und die Ausnutzung eines guten Images finde ich auch legitim, weil es in den völkerrechtlichen Beziehungen auch auf dieses Prestige ankommt, und dann vielleicht Konflikte beschwichtigt oder sogar beigelegt werden können.
Wir sind halt in dem Sinne neutral, dass wir nicht schauen, mit wem wir Geschäfte machen und mit allen Geschäfte machen. Das ist natürlich auch eine Art, seine Neutralität auszuleben."
Bis heute ist die Neutralität äußerst beliebt unter den Schweizern: 96 Prozent der Eidgenossen wollen an ihr festhalten. Und das, obwohl die Neutralität in ihrem Alltag praktisch keine Rolle mehr spielt. Offenbar ist sie für viele gleichbedeutend mit Unabhängigkeit und Selbstbestimmung: Man mischt sich nicht ein, damit sich die anderen auch nicht einmischen. Umso wichtiger in Zeiten, da nationalkonservative Politiker vor der Fremdbestimmung durch die EU warnen und die eigenen Gründungsmythen für den Wahlkampf ausschlachten. De facto kann (und will) sich die Schweiz heute weder den Friedensmissionen noch internationalen Wirtschaftssanktionen entziehen. Welche Rolle spielt da die Neutralität heute überhaupt noch in der Außenpolitik der Schweiz? Wie gehen Bewaffnung und Neutralität zusammen? Ja: Inwiefern ist ein solches Konzept noch zeitgemäß? Und was hat die Schweiz eigentlich davon, neutral zu sein?
Die Schweizer Armee probt den Ernstfall
Europa zerfällt, Menschenmassen strömen in die Schweiz, die Polizei muss das Militär zur Hilfe rufen, um Lebensmittellager, Krankenhäuser und Kraftwerke zu verteidigen.
"Wichtig ist, dass man an realen Übungsobjekten ist. Nicht im geschützten Rahmen, sondern eins zu eins im Gelände die Probleme sieht und dann auch die richtigen Lehren ziehen kann für den Ernstfall."
Deshalb, so Hauptmann Mark Schüch, bewacht das Infanterieregiment IV der Territorialregion 2 heute das Kraftwerk Birsfelden am Rhein, kurz vor Basel, und kurz vorm Dreiländereck Schweiz/ Deutschland/ Frankreich. An einem Ende der hiesigen Schleuse stehen die Soldaten nun in voller Monitur. Mit einem koffergroßen Funkgerät auf dem Rücken und warten.
Insgesamt zehn Tage dauert die Übung der Schweizer Armee. Inszeniert werden unterschiedliche Bedrohungsfälle wie Flugzeugabstürze, Chemieunfälle oder der Brand eines Lebensmittelverteilzentrums. Laut Hauptmann Mark Schüch ist es wichtig für die Armee, dass der Ernstfall vor Ort geprobt wird – auch wenn das nicht allen gefalle.
"Ja, weil hier verschiedene Aspekte zu beachten sind: Wie Wetter, die Bevölkerung ist natürlich auch immer involviert. Es ist nicht irgendwo im geschützten Rahmen, wo wir trainieren und zum Einsatz kommen, sondern wir leisten ja Dienst zugunsten der Bevölkerung. Das machen wir nicht zu Eigenzwecken, sondern wir wollen die zivilen Behörden unterstützen und für die Sicherheit des Landes sorgen."
Ein Hubschrauber fliegt vorbei, ansonsten passiert nicht viel. Wolken und Sonne wechseln sich ab, der Samstagnachmittag plätschert so vor sich hin. Jogger und Spaziergänger kommen vorbei, schauen kurz, laufen weiter. Die zwei Soldaten in Uniform verteilen Süßigkeiten an Kinder, ein Vater bleibt kurz stehen.
"Hier in der Schweiz wundert man sich nicht besonders über Soldaten. Die hat es halt manchmal. Aber was sie tun, ich glaube, das wissen sie selbst nicht. Sie haben zwar Waffen, aber keine Patronen. Das ist so ungefähr typisch schweizerisch: Man hat es dabei, damit es schwer ist, aber tun könnten sie nicht viel. Haben sie zumindest gesagt. Ich weiß nicht, ob das stimmt."
Bewaffnete Neutralität als Alltag
Ein älterer Herr in Hemd und Cordhose mischt sich ein, schüttelt den Kopf und hebt zu einer Verteidigungsrede an.
"Das ist eine normale Militärübung, wie wir das mit unserer Milizarmee in der Schweiz durchführen. Und dass die Schweizer Armee sich da auch an verschiedenen Übungen betätigt und da ihr Können beweist, das ist Alltag in der Schweiz. Bewaffnete Neutralität ist für die Schweiz seit mehr als hundert Jahren Alltag. Neutralität heißt nichtangriffstauglich, aber auch: Wir Schweizer wollen selbstverständlich unser Territorium verteidigen und unsere Bevölkerung schützen mit unserer Armee."
Die Schweizer Neutralität ist eine selbst gewählte, dauernde und bewaffnete Neutralität. So steht es im Bundesvertrag von 1815, der zugleich die Geburtsstunde der modernen Schweiz markiert. Auf dem Wiener Kongress berieten die Großmächte über eine Neuordnung Europas und einigten sich darauf, die Schweiz zu einer neutralen Pufferzone zu erklären. Den Eidgenossen wurde ihre Unabhängigkeit und die Unversehrtheit ihres Staatsgebiets völkerrechtlich garantiert.
Im Gegenzug verpflichtete sich die Schweiz, sich nicht an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten zu beteiligen. Falls eine Kriegspartei in ihr Staatsgebiet eindringt, hat die Schweiz jedoch das Recht und sogar die Pflicht, sich zu verteidigen. Dazu braucht sie eine funktionsfähige Armee. Praktisch umgesetzt wurde die bewaffnete Neutralität noch bis in den Zweiten Weltkrieg durch die sogenannte Grenzbesetzung: Bauern und Bürger wurden zu den Waffen gerufen und an die Staatsgrenzen beordert, um ihr Land und die Neutralität zu verteidigen. Zu einem tatsächlichen Angriff aber kam es nie.
Am Abend vor der Militärübung haben sich mehrere hundert, vor allem jüngere Menschen, in der Basler Innenstadt zu einer Demonstration versammelt. Man begrüßt sich, wartet, trinkt ein Bier in der Abendsonne, die Stimmung ist entspannt.
Dann plötzlich setzt sich ein schwarzer Block von rund 50 vermummten Personen an die Spitze des Zuges, lässt Feuerwerk aufsteigen und brüllt Parolen gegen Soldaten und Zäune, gegen die Militarisierung der Gesellschaft und die Ausgrenzung von Flüchtlingen. Vorm Mikrofon Stellung beziehen möchte keiner der Demonstranten. Viele Linke beziehungsweise Linksradikale in der Schweiz, erklärt Thomas Leibundgut, sind noch traumatisiert von den Einsätzen des Militärs im Innern. Der 26-jährige Geschichtsstudent ist Sekretär bei der GsoA, der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee. Seiner Meinung nach geht es der Armee vor allem darum, ihre Notwendigkeit zu rechtfertigen.
"Genau. Wenn die Soldaten so eine Übung machen müssen, dann gibt es vermutlich auch eine Bedrohung. Und das heißt dann im Umkehrschluss: Dann brauchen wir ja weiterhin die Armee."
Noch bis zum Ende des Kalten Kriegs war das Bedrohungsszenario klar: Bei einem Angriff sollte die Milizarmee die eigenen Landesgrenzen und damit auch die Neutralität des Landes verteidigen können. Heute hält der Geschichtsstudent Thomas Leibundgut das Konzept für überholt.
"Wir haben keine Feinde, die uns gefährlich werden könnten"
"Wir sind wie gesagt umringt von der EU, der NATO, das heißt, wir haben keinen Feind, der uns irgendwie gefährlich werden könnte und die Notwendigkeit einer Armee irgendwie legitimieren würde. Wir haben aber auch keine sonstige Verwendung für diese Armee. Wie sie heute eingesetzt wird, ist eigentlich nur der Versuch, eine nachträgliche Legitimation zu konstruieren in dem Stil von: Ja, wir haben die Armee und dann setzen wir sie auch irgendwie ein, weil sonst müssten wir sie ja abschaffen. Und das will ein Großteil der Schweizer heute nicht."
Halb wegen ihrer Unterstützung bei Naturkatastrophen, halb aus Folklore, meint der GsoA-Sekretär. Einfach, weil sie zur Identität, zum Selbstverständnis der Schweiz gehöre. So wie die Neutralität, sagt Georg Kreis, Historiker und ehemaliger Leiter des Europainstituts der Universität Basel.
"Teil des vorteilhaften schweizerischen Images ist: Das dient dem Land. Das ist völlig klar. Aber andererseits muss man sich da vor einer Überschätzung der Dinge in Acht nehmen. Gerade die 'Guten Dienste', die eigentlich eine Variante sind, ein Nebenprodukt von Neutralität, die werden ja auch von anderen Ländern geleistet. Und wir haben ja jetzt kürzlich wieder die Atomgespräche gehabt in Lausanne. Und alle haben den schönen Genfer See gesehen. Ja also, die Schweiz ist eine eingeführte Drehscheibe, aber das ist nicht zwingend identisch mit Neutralität."
Große Expertise in der Schlichterrolle
Die sogenannten Guten Dienste der Schweiz haben eine lange Tradition. Unter diesem Begriff versteht man diplomatische und humanitäre Interventionen eines Drittlands oder einer internationalen Organisation mit dem Ziel, den Konflikt beizulegen. Das kann ein Schlichtungsversuch sein, indem man zu den Konfliktparteien vor Ort Kontakte knüpft und sich als Vermittler anbietet, oder humanitäre Hilfe leistet. Auch viele private Organisationen im Bereich der Friedensstiftung haben ihren Sitz in Genf: das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zum Beispiel oder das Zentrum für humanitären Dialog.
Die Guten Dienste dienen also nicht nur den internationalen Beziehungen, sondern auch der Schweiz selbst. Ihrer Glaubwürdigkeit als Vermittlerin tue das aber keinen Abbruch, meint Anne Peters, Professorin für Völkerrecht an der Universität Basel und Direktorin am Max-Planck-Institut für Völkerecht in Heidelberg. Schließlich verfüge die Schweiz tatsächlich über eine große Expertise in der Schlichterrolle.
"Ich glaube, dass die Schweiz aufgrund der Neutralität vielfach glaubwürdiger ist, um Vermittlungsdienste bei internationalen Konflikten zu leisten. Deshalb ist die Schweiz ein beliebter Standort für Verhandlungen, sei es über Russland/Ukraine-Konflikt, sei es über Palästina/Israel. Und da hilft die Neutralität. Natürlich ist es auch gut für die Schweiz, wenn sie Infrastruktur für Konferenzen zur Verfügung stellt und dadurch ihr Image verbessert und Einnahmen generiert."
Neutralität also als einträgliches Geschäftsmodell?
"Das ist natürlich ein klassischer Vorwurf an die Schweiz, dass die Schweiz sich bereichert an den Konflikten anderer, nicht zuletzt auch als Finanzstandort. Diesen Vorwurf muss man auch ernstnehmen. Deswegen bemüht sich die Schweiz jetzt auch gerade Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um als sauberer Finanzstandort und auch Rohstoffumschlagplatz zu erscheinen und Geldwäsche zu bekämpfen, das Bankgeheimnis zurückzudrängen."
Neutralität als Mittel zum Zweck?
Auch bei Wirtschaftssanktionen oder Rüstungsexporten wird der Schweiz immer wieder vorgeworfen, die Neutralitätskarte zu ihrem eigenen Vorteil auszuspielen. Dabei werden allerdings oft die Spielregeln vermischt.
Wer von Neutralität spricht, muss jedoch das Neutralitätsrecht von der Neutralitätspolitik trennen. Das Recht auf Neutralität ist seit 1907 im "Haager Abkommen" geregelt und völkerrechtlich anerkannt. Erklärt sich ein Staat als neutral, ist er zur Unparteilichkeit verpflichtet, muss dafür aber auch in einem Konflikt unbehelligt bleiben. Neutralitätspolitik dagegen ist flexibel, sprich: Auslegungssache. So hat die Schweiz die Neutralität immer als Mittel zum Zweck gesehen, als ein Instrument der Außenpolitik, das jeweils den äußeren Umständen angepasst wird.
Gleiches Label, wechselnder Inhalt – nur so hat man in der Schweiz überhaupt am Prinzip der Neutralität festhalten können, da sind sich der Historiker Georg Kreis und die Völkerrechtsprofessorin Anne Peters einig.
"Die Neutralität ist ein sehr flexibles Konzept. Und darum entzieht es sich den Varianten des Abschaffens vor allem. Und wird auch beibehalten. Es ist einfach die Frage, wie ernst sie genommen wird."
"Das Prinzip selbst ist ja gar nicht so klar und eindeutig in schriftlichen Texten geregelt, sondern besteht auch aus Praxis und ist auslegungsfähig und hat sich auch schon sehr stark gewandelt. Wenn Sie zum Beispiel die jetzige Politik der Beteiligung an Wirtschaftssanktionen vergleichen mit der Haltung der Schweiz in Bezug auf Südafrika unter dem Apartheid-Regime in den 1980er- Jahren, dann kann man sagen: Es sind eigentlich ganz verschiedene Praktiken, die noch unter demselben Schlagwort Neutralität benannt werden.
Auch dieses Jahr geriet die Schweiz wieder stark in die Kritik, als öffentlich wurde, dass sie trotz Teilnahme an den Wirtschaftssanktionen der EU Tarnmaterial an Russland geliefert hatte. Zudem wurde der Export genau im Herbst 2014 genehmigt, als die Schweiz den OSZE-Vorsitz innehatte und sich Außenminister Didier Burkhalter als Vermittler in der Ukrainekrise profilierte. Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, wie eigentlich Neutralität und die Teilnahme an Wirtschaftssanktionen übereingehen. Müsste sich die Schweiz da nicht komplett raushalten?
Rein völkerrechtlich kommen die Spielregeln der Neutralität erst dann zum Zuge, wenn tatsächlich ein Krieg zwischen zwei Staaten ausbricht. Innerstaatliche Konflikte wie Bürgerkriege zählen formaljuristisch beispielsweise nicht dazu. Vor allem aber hat sich die Außenpolitik der Schweiz in den letzten beiden Jahrzehnten stark gewandelt.
"Das ist eben auch die neue Gestalt der Schweizer Außenpolitik und der Schweizer Neutralität, dass diese nicht mehr absolut ist. Sodass das eine engagierte Neutralität ist. Das eine 'engagierte Neutralität' ist. Man sagt, ja wir sind neutral, wir beteiligen uns nicht an Konflikten, aber wir haben als Staat, als Bevölkerung, als Gemeinschaft durchaus ein Interesse an einer Welt, die so und so aussieht und setzen uns entsprechend auch an friedlichen Lösungen bei Konflikten ein.
Im Jahr 2002 trat die Schweiz nach einer Volksinitiative der UNO bei. Seither engagiert sie sich zunehmend in der Vermittlerrolle und nimmt heute auch an Friedensmissionen oder Wirtschaftssanktionen teil, wenn diese von einer internationalen Organisation verhängt werden. Die Völkerrechtsprofessorin Anne Peters:
"Dann wird das als Polizeiaktion aufgefasst und nicht als kriegerische Handlung. Deswegen, sagt die Schweiz, ist das kein bewaffneter Konflikt, bei dem die Neutralitätspflichten greifen würden. Das ist eine sehr wichtige Weichenstellung, die die Schweiz erst 1993 vorgenommen hat. Diese Unterscheidung zwischen klassischem, zwischenstaatlichem Krieg und Sanktionen durch eine Organisation."
Trotz Teilnahme an den internationalen Sanktionen stimmten dem Export von Tarnmaterial an Russland im Wert von 90 Millionen Franken zu. Dort berief man sich darauf, dass der Vertrag für das Geschäft vor dem Inkrafttreten der Sanktionen unterzeichnet wurde.
Neutralität als Joker
Auch das hat Tradition in der Schweiz: Lange war die Schweizer Außenpolitik eine reine Wirtschaftspolitik. Erst seit 1979 hat die Schweiz überhaupt ein Außenministerium. Der amtierende Außenminister Didier Burkhalter versucht zwar, wie in der Ukraine-Krise, eine aktive Neutralität zu gestalten. Die Rüstungsexporte aber werden nach wie vor in einem anderen Haus, nämlich vom Staatssekretariat für Wirtschaft, genehmigt. Und auch in der Außenpolitik setzt die Schweiz nicht durchgehend auf Neutralität. Was durchaus legitim ist, findet der Historiker Georg Kreis.
"Es ist so, dass eigentlich Außenbeziehungen überall nach Interessen funktioniert. Da dann kann es im Interesse sein, die Karte Neutralität zu spielen oder sie in der Tasche zu lassen. Also, so läuft Politik. (Zwischenfrage: Das heißt, die Neutralität ist ein Joker?) Ja, unbedingt."
Im Ausland steht man dem verwundert bis irritiert gegenüber. Kritiker halten den außenpolitischen Sonderweg der Schweiz angesichts der realen internationalen Verflechtungen für nicht mehr zeitgemäß. In der Schweiz selbst versteht man diesen Sonderstatus dagegen als Teil der eigenen Identität. So wie auch die Neutralität.
"Der Schweiz wird ja immer wieder Rosinenpickerei vorgeworfen, jetzt nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch in der Auseinandersetzung mit der EU. Und das trifft auch zu, weil man sich eben als 'den Sonderfall' versteht. Ich würde das nicht nur negativ formulieren, sondern das ist wirklich auch konstitutiv für das Schweizer Selbstverständnis, dass man in diesem Punkt sagt: Nein, wir sind da anders, wir anerkennen jetzt eben nicht, dass die Pik Dame den Pik Bauern schlägt. Sondern wir sagen: Bei uns ist das umgekehrt, bei uns spielen wir das so."