Eisiges Hochgebirge, blendende Seen, die Klarheit der Luft – die magische Landschaft von Sils Maria bezaubert. Sie inspirierte Schriftsteller und Denker, Maler und Filmemacher und zieht bis heute jene an, die auf ihren Spuren unterwegs sind. Marcel Proust beschrieb, wie er am Silser See Tränen der Rührung vergoss, und Thomas Mann bekannte an dessen Ufer einen für ihn seltenen Gemütszustand: "Ich glaube beinahe, ich bin glücklich hier".
Auch Hesse und Einstein suchten hier Ruhe
Auch Hermann Hesse, Albert Einstein oder Luchino Visconti suchten wie viele andere in dieser "reinen, scharfen Lichtwelt" Ruhe und Erkenntnis. Begründet hat den Mythos des Ortes sein frühester prominenter Gast: Friedrich Nietzsche. Der Philosoph fand dort zur Höchstform seines Schaffens. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte kann Sils, das eher introvertierte Alpendorf, heute mit dem Titel Kulturhauptstadt des Engadins für sich werben, als Kontrapunkt zum nur zehn Kilometer entfernten mondänen St. Moritz. Mehr als drei Viertel der Besucher von Sils sind Kulturreisende. Und viele der Gäste kommen in das Schweizer Hochtal, um, mit Nietzsches Gedanken im Gepäck, eine Landschaft zu erkunden, die der Philosoph einst den "lieblichsten Winkel der Erde" nannte. Was machte Sils Maria für den Denker und passionierten Wanderer so einzigartig? Dr. Mirella Carbone, die langjährige Leiterin des Nietzsche-Hauses in Sils, sagt dazu:
"Es ist in der Tat eine ganz besondere Gegend. Eine Landschaft voller Kontraste. Wir befinden uns auf 1.800 Metern Höhe, "6000 Fuß über allen menschlichen Dingen", wie Nietzsche es ausdrückte. Es ist eine Passlandschaft: weit oben gelegen und erhaben, gleichzeitig geschützt, wie in einer Wiege, und eben nicht so exponiert durch die Dreitausender, die um uns herum aufragen, die jedoch nicht erdrückend wirken. Man kann gut atmen und hat einen weiten Horizont. Wir haben hier Gletscher, also das Element der Kälte, des Heroischen, des Bedrohlichen einerseits. Auf der anderen Seite ist dieses Hochtal ungewöhnlich breit, mit einer Seenkette, mit Laub- und Nadelwäldern. Es gibt also auch das liebliche, idyllische Element. Nietzsche nannte diese Natur seine "heroische Idylle". Die Höhenlage und die landschaftlichen Gegensätze, die hier aufeinandertreffen, haben ihn unheimlich inspiriert."
Sils Maria - Denk-Ort, Inspirationsquelle, Weltmittelpunkt
Friedrich Nietzsche besaß eine außergewöhnliche Sensibilität für Orte. Solche, die ihn belebten oder niederdrückten, seine Schaffenskraft steigerten oder minderten. Der falsche Ort, davon war Nietzsche zutiefst überzeugt, genüge vollständig, um ein Talent verkümmern zu lassen und "aus einem Genie etwas Mittelmäßiges zu machen". Stätten seiner bürgerlichen Existenz wie Naumburg, Leipzig oder Basel – in denen er freilich nicht unproduktiv gewesen ist – verwarf er entsprechend dieser These rückblickend als Unglücks-Orte, mehr noch: als Orte, die ihm nachgerade verboten waren. Denn nichts fürchtete er so sehr, wie Umstände, die seiner Kreativität schaden könnten.
"Es steht niemandem frei, überall zu leben; und wer große Aufgaben zu lösen hat, die seine ganze Kraft herausfordern, hat hier sogar eine sehr enge Wahl. Der klimatische Einfluss auf den Stoffwechsel, seine Hemmung, seine Beschleunigung, geht so weit, dass ein Fehlgriff in Ort und Klima jemanden nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten kann: Er bekommt sie nie zu Gesicht."
Als ein zu Großem Berufener sah sich Nietzsche deshalb geradezu verpflichtet, sich selbst dorthin zu bringen, wo sein Denken zur vollen Entfaltung, seine Philosophie zum Durchbruch gelangen konnte.
"Das Genie ist bedingt durch trockne Luft, durch reinen Himmel", definierte er. Beides verhießen ihm Ziele des Südens: Italien oder Südfrankreich. Hier verbrachte er in der letzten Dekade seines Denkerlebens wegen des milden Mittelmeerklimas die Wintermonate. Während des Sommers aber fand er Zuflucht in der hochalpinen Landschaft des Oberengadins, in Sils Maria, das seither untrennbar mit dem Namen Nietzsche verbunden ist.
In dieser Stille und Einsamkeit, auf 1800 Metern Höhe, erlebte Nietzsche zwischen 1881 und 1888 seine produktivsten Zeiten. In großer Natur gab er sich seinen Gedanken hin – oft wie im Rausch. Wichtige Werke wurden hier konzipiert und niedergeschrieben. Aus einer Eingebung am See von Silvaplana entstand seine berühmteste Schrift "Also sprach Zarathustra", die mit ihrer überbordenden Naturmetaphorik gar nicht vorstellbar wäre ohne die Nietzsches Gedanken orchestrierende Bergwelt um Sils Maria. Geographische Eindrücke finden sich darin in philosophische Aussagen übertragen.
Sils Maria – das war für Nietzsche Denk-Ort, Inspirationsquelle, Weltmittelpunkt, an dem seine Philosophie zu sich selber kam. Geradezu explosionsartig entlud sich hier, was er schon lange in sich trug. Hier wurde der Denker zum Ekstatiker. Überwältigt von geistigen Hochgefühlen in geographischer Höhe schrieb er am 14. August 1881:
"An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehen habe… Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen, – schon ein paarmal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, dass meine Augen entzündet waren – wodurch? Ich hatte jedes Mal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zu viel geweint, und zwar nicht sentimentale Tränen, sondern Tränen des Jauchzens, … erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor allen Menschen voraus habe."
Wanderschaft und Denken
Ein schlichtes Engadiner Haus – geranienberankte Fenster in dicken Steinmauern, grüne Fensterläden, schwarzes Schieferdach – trägt heute Nietzsches Namen. Es beherbergt ein Museum und zeigt Exponate zum Leben und Werk des Philosophen, der hier sieben Jahre lang sein Sommerdomizil fand. Wo Nietzsche schlief und schrieb, lässt sich im ersten Stock besichtigen. Eine knarrende Holztreppe führt hinauf in eine kärgliche Kammer, die alles war, was dieses Haus eines Lebensmittelhändlers seinem berühmten Gast für einen Franken pro Nacht zu bieten hatte. Darin nicht mehr als ein Bett, ein kleiner Arbeitstisch, ein Stuhl, ein Waschtisch.
"Die Besucher, die heute ins Haus kommen und die nicht informiert sind über Nietzsches Biografie, meinen am Anfang selbstverständlich, er hätte das ganze Haus besessen und das oben wäre nur sein Schlafzimmer gewesen. Sie sind eigentlich schon schockiert, wenn sie dann erfahren, dass er wirklich so bescheiden gelebt hat."
Der Ausblick auf einen direkt hinter dem Haus steil aufragenden Berghang lässt den Raum in seiner ganzen Dürftigkeit noch enger, noch beklemmender erscheinen, ganz im Kontrast zur Weite der umgebenden Natur, in die es den Denker täglich hinaustrieb.
Als Nietzsche Anfang Juli 1881 erstmals nach Sils Maria gekommen war, war dies nicht nur freiwillig geschehen. Unerträgliche Migräneanfälle und extreme Wetterfühligkeit hatten ihn bereits zwei Jahre zuvor, mit gerade einmal 35 Jahren, gezwungen, seine Professur an der Universität Basel aufzugeben und mit ihr seine gesamte bürgerlich-sesshafte Existenz. Ruhelos war er seither umhergezogen, auf Irrfahrten zwischen Deutschland und Italien, um für sich nach einem Klima zu suchen, in dem er es zu leben aushielt – nach einem Ort, der ihm nicht nur den Schmerz linderte, sondern ihm das Denken gleichsam atmosphärisch ermöglichen sollte. Er fand ihn in der klaren, milden Höhenwelt von Sils Maria.
Die Magie dieser Landschaft zu erklären, ist nicht leicht, wiewohl Nietzsche meinte, deren Wirkung auf sich sogar messen zu können. Wie ein Seismograph registrierte der Orts- und Klimasensible auch feinste geographische und meteorologische Einflüsse auf sein Befinden. Akribisch führte er Buch über die Wetterverhältnisse der Örtlichkeiten, an denen er sich aufhielt, und legte detaillierte Klimatabellen an. Er notierte:
"Gestern rechnete ich aus, dass die entscheidenden Höhepunkte meines Denkens mit dem Maximum der magnetischen Sonnen-Einwirkung zusammenfallen."
Weite Horizonte, eine erhabene Bergsilhouette, die Farben des Lichts konnten ihn euphorisieren; Schwankungen der Temperatur oder des Luftdrucks, Bewölkung oder Gewitter mit ihren elektrischen Entladungen ihn hingegen unter qualvollen Schmerzattacken tagelang niederwerfen und seine Schaffenskraft lahmlegen.
"Im Engadin ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden… Alle 50 Bedingungen meines armen Daseins scheinen hier erfüllt zu sein", bekannte Nietzsche schließlich wie erlöst.
Auch die Wege, Wälder, Seen und Wiesen seien "wie für ihn gemacht", ließ er verlauten. Äußere und innere Natur entsprachen einander. Zwar blieben die Anfälle auch hier nicht aus, doch verliefen sie "milder und menschlicher". Die Heilmittel, die sich Nietzsche fortan gegen "Kränklichkeit und Kopfschmerzen verordnete, lauteten "Ungeheure Märsche, einfachste Lebensweise, ununterbrochener Aufenthalt im Freien." Auch seine Gedanken konnten dabei frei fließen.
"Nietzsche war ein Denker, der draußen gedacht hat, im Kontakt mit der Natur, im Kontakt mit seinem eigenen Körper. Er war täglich unterwegs. Seine Gedanken entstehen in der Bewegung. Da reiht er sich ein in eine lange Tradition von wandernden Denkern, wie schon die Peripatetiker der Antike zum Beispiel, Montaigne zum Beispiel. Während er geht, das beschreibt er sehr schön, wie er dann zu sich kommt. Sein Kopf immer klarer, immer freier wird. Das ist eine Art Meditation. "Und dann kam mir", schreibt er immer wieder, "dieser Gedanke entgegen", tatsächlich als eine Begegnung in der Natur."
Der Zarathustra, sein "eigentliches Höhenluftbuch"
Von seinem Quartier brach der gelehrte Sommergast oft schon morgens vor sechs Uhr zu ausgedehnten Exkursionen auf: ins Fextal mit seinen gletscherbedeckten Bergzügen, entlang der bewaldeten Seeufer oder zu der im Silser See gelegenen Halbinsel Chasté, seinem Lieblingsplatz. Wandernd sann er den höchsten und tiefsten Dingen nach. Das unterwegs Erdachte kritzelte er kaum leserlich auf lose Zettel oder in Notizhefte, die er stets bei sich trug, um Flüchtiges festzuhalten. Nicht mehr zwischen Büchern also suchte der frühpensionierte Professor nun Raum für große Ideen, sondern unter einem offenen Himmel in freier Natur. Er wollte "gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen" philosophieren Sein Credo:
"So wenig als möglich sitzen, keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern."
Von jeder starken Erkenntnis fordernd, dass sie selbst erlebt und mit "eigenem Blute" niedergeschrieben sei, hat sich Nietzsche seine Philosophie im Schweizer Oberengadin buchstäblich erwandert. Unter dem Eindruck eigener Bergerfahrung verfasste er den Zarathustra, sein "eigentliches Höhenluftbuch", dessen Protagonist von sich sagt:
"Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger… ich liebe die Ebenen nicht, und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen. Und was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebnis komme, – ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen."
Nur die im Rhythmus der eigenen Schritte ergangenen Gedanken waren für Nietzsche letztlich von Wert. "Geh-Danken" nennt sie Mirella Carbone: "Sie verdanken sich dem Gehen." Daraus gewinnen sie ihre Offenheit, den Wechsel der Perspektiven, die sinnliche Ausdruckskraft. Die Nähe seiner Philosophie zu Leben und Leiblichkeit, jenseits starrer Systeme, ist es auch, die sie bei aller Radikalität bis heute so zugänglich macht. Nietzsche habe den, nächsten Dingen’, also dem, was unsere alltägliche Erfahrung ausmacht – Klima, räumliche Umgebung, Ernährung, Tagesrhythmen, Bewegung –, ihre philosophische Würde zurückgegeben", so Mirella Carbone.
"Das Faszinierende könnte gerade diese Offenheit sein, dieses Unsystematische. Nietzsches Meinung nach sei der Wille zum System der Wille zur Abkürzung. Denn wenn man versucht, das ewig Werdende und das Widersprüchliche, das Leben ist, in ein System hineinzuzwängen, dann tötet man das Lebendige. Gerade dieses Experimentelle, dieser Versuch, nicht zu letzten Positionen zu kommen, sondern immer wieder die Themen neu auszuleuchten, aus neuen Blickwinkeln anzuschauen, aus neuen Perspektiven, das ist eben das Dekonstruktivistische, das Nietzsche auch heute noch so modern macht."
Körper, Aufenthaltsort und physische Bewegung bedingten Nietzsches geistige Produktivität. Das Wandern im Oberengadin war ihm Mittel zur Wahrnehmung der Welt, Weg zur Erkenntnis – und sein Verfahren der Selbstbefreiung. "Seitdem ich gehen gelernt habe, lasse ich mich laufen", lässt er seinen Zarathustra sagen. Im Umherschweifen drückt sich für den "Halbnomaden", als der sich Nietzsche sah, zudem das flüchtige Leben selbst in seiner grundsätzlichen Ortlosigkeit aus.
"Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele, denn dieses gibt es nicht … Es muss in ihm selbst etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe."
Schöpferische Landschaft
Der einsame Philosoph liebte das Oberengadin beinah, wie man eine Frau liebt. Wie erotische Liebeserklärungen lesen sich seine Notizen zu der expressiven Landschaft. Ihr fühlte er sich wesensverwandt, ja "blutsverwandt".
"Wir wundern uns nicht über einander, sondern sind vertraulich zusammen". Hier wohnen meine Musen."
In dieser Natur meinte er sich spiegeln zu können. Wo auch sonst als in der Welt des Hochgebirges mit ihren sich zwischen Gipfeln und abgründiger Tiefe, zwischen Fels und See, Sonne und Gletschereis auftuenden Kontrasten hätte seine Philosophie der Extreme ihre topographische Entsprechung finden sollen.
"In mancher Natur-Gegend entdecken wir uns selber wieder, mit angenehmem Grausen; es ist die schönste Doppelgängerei. — Wie glücklich muss der sein können, welcher jene Empfindung gerade hier hat, in dieser reinsten Helle und mäßigsten Kühle, in dem gesamten anmutig ernsten Hügel-, Seen- und Wald-Charakter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die Schrecknisse des ewigen Schnees hingelagert hat, hier, wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind."
Was Nietzsche hier sah, floss in sein Werk ein. Es wurde ihm zum Gleichnis. "Alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will von dir reden lernen", schrieb er. Sein philosophisches Hauptmotiv, die Polaritäten des eigenen Denkens zu einer "neuen Einheit" zu verschmelzen, musste ihm dabei in dem besonderen Licht des Engadins zur Anschauung gekommen sein, das viele besungen haben und das Nietzsche so eindringlich beschrieb als "durchsichtig, glühend in den Farben, alle Gegensätze alle Mitten zwischen Eis und Süden in sich schließend".
Der Magische Moment
Am 6. August 1881 geschah es, dass Nietzsche die Wanderung seines Lebens unternahm. Plötzlich, im steilen Licht der Mittagssonne, überfiel ihn eine Erkenntnis, die er als epochal ansah: die Ewige Wiederkunft des Gleichen, Kernbotschaft seines Zarathustra.
"Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen, pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke."
In diesem Augenblick ereignete sich einer jener Geistesblitze, die Philosophiegeschichte schrieben. Nietzsche schildert den magischen Moment in seiner autobiographischen Schrift "Ecce Homo" später als explosionsartige Eingebung in der Art einer religiösen Offenbarung:
"Hat jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im andren Falle will ich’s beschreiben. Man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Tränenstrom auslöst ...; ein vollkommenes Außer-sich-Sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fußzehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als notwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses. Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturm von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit."
Nietzsche glaubte, ins Wesen der Welt zu blicken: Was, wenn alles, was ist, zwar vergeht, aber doch ewig ist, weil es unendliche Male wiederkehrt? Die Einsicht, dass die Welt zyklisch sei, ohne letztes Ziel, sollte dem christlichen Jenseitsversprechen die höchste Form des "Ja-Sagens" zum Dasein entgegensetzen, dem Leben im Hier und Jetzt und jedem diesseitigen Augenblick "den Stempel der Ewigkeit" aufdrücken. Man müsse Jahrtausende zurückgehen, um eine ähnliche Inspiration zu entdecken, behauptete Nietzsche mit großer Emphase. Ob er den Gedanken der Ewigen Wiederkunft im kosmologischen Sinn tatsächlich für wahr hielt, darüber allerdings streiten sich bis heute die Experten.
"Es wird Nietzsche oft vorgeworfen, er habe keine rationale Erklärung für diesen eigentlich unlogischen Gedanken gegeben. Nietzsche hat das eingesehen. Es ging ihm auch gar nicht um eine wissenschaftliche Erklärung, sondern um den Gedanken als Hypothese. Das heißt, wenn die Menschen heute an den Gedanken der Ewigen Wiederkehr glauben würden, wie würden sie dann leben? Wie intensiv würden wir jede Stunde des Tages verbringen, wenn wir wüssten, diese Stunde kehrt wieder? Es ist ein Versuch, die Menschen zu ermutigen, ihr Leben bewusst und verantwortungsvoll zu leben. Um zu jeder Stunde eben sagen zu können, ich habe sie so gelebt, wie ich sie leben wollte. Oder wenn ein Schicksalsschlag kommt, sich zu fragen, wie kann ich diesen Schicksalsschlag sinnvoll machen, damit ich bereit bin, das, was mir einmal zugestoßen ist, ewige Male wiederzuerleben. Das Zweite ist die Tatsache, dass durch den Gedanken der Ewigen Wiederkehr die Ewigkeit aus der transzendentalen Ebene ins Diesseits gezogen wird. Es gibt nicht mehr den Gott als Anfang und Ende aller Dinge. Gott ist tot. Die Ewigkeit liegt jetzt im Diesseits."
Es gibt Gedanken, die vielleicht nur an einem bestimmten Ort gedacht werden können. Nietzsche war davon überzeugt, dass die Gegenden, in denen sich ein Mensch aufhält, für den Geist nicht gleichgültig sind und hat Zeit seines Lebens mit der unterschiedlichen Inspirationskraft von Orten experimentiert. In einer bereits mediterran geprägten Alpenlandschaft am Tor zu Italien, an der Schnittstelle "zwischen Eis und Süden", wo die Welt für ihn eine Mitte hatte, stieß er zu seinem ultimativen Gedanken der Gedanken vor.
Den Schauplatz dieser Eingebung hat Nietzsche ebenso genau lokalisiert wie metaphysisch verklärt. Im Oberengadin fand er das "Land der Verheißung", sein "heiliges Sils Maria". Der pyramidenförmige Stein am Silvaplaner See, dessen Anblick einen so wichtigen Moment in der Geschichte des Geistes ausgelöst hatte ("Unsterblich ist der Augenblick, wo ich die Wiederkunft zeugte"), wurde nicht nur für Generationen von Nietzsche-Adepten, sondern schon für den Philosophen selbst zur Kultstätte. Immer wieder, in den eigenen Spuren gehend, suchte er seinen Erleuchtungsfelsen auf, um sich in einen Zustand geistiger Hochspannung zu versetzen, wie er ihn an dieser Stelle einmal erfahren hatte.
Im Januar 1889 brach Nietzsche in Turin, fern seines Kraftorts, geistig zusammen. Ein Eintrag zu seiner letzten Abreise aus Sils Maria wenige Monate zuvor hält sein persönliches Vermächtnis an den Ort fest:
"Erst am 20. September verließ ich Sils-Maria, durch Überschwemmungen zurückgehalten, zuletzt bei weitem der einzige Gast dieses wunderbaren Orts, dem meine Dankbarkeit das Geschenk eines unsterblichen Namens machen will."
In Spuren gehen
Von Friedrich Nietzsches Namen zehrt der Ort seit mehr als 125 Jahren. Wer heute den Denkwegen des Philosophen nachgehen will, dem bietet das Kulturbüro Sils unter der Leitung von Mirella Carbone und Joachim Jung Themenwanderungen in die Engadiner Landschaft, die Nietzsche so sehr beflügelte und der er seine Gedanken eingeschrieben hat.
Das Kulturprogramm gilt überdies anderen namhaften Besuchern, ihrerseits meist ausgewiesene Spurengänger, die zum Ruhm des kleinen Alpendorfs beitrugen. Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, die Familie Mann, Kurt Tucholsky, Emil Nolde, Marc Chagall, Gerhard Richter – um nur einige zu nennen, aber auch Künstler, die sich dauerhaft in der Region niederließen, wie die exzentrische Literatin Annemarie Schwarzenbach oder der Maler Giovanni Segantini: Sie alle waren hier schöpferisch.
"Klaus Mann war auch ganz begeistert von dieser Landschaft. Er wanderte oft mit Nietzsche-Briefen oder hat diese vor und nach seinen Wanderungen gelesen. Er hat die Landschaft dann so intensiv gesehen und erlebt, weil er sie schon aus den Texten Nietzsches kannte. Auch Otto Dix hat immer wieder, wenn er hierher kam, Bezug genommen auf Werke und Briefe Nietzsches. Ich glaube schon, wenn heute Gäste kommen und mit uns Kunst- und Kulturwanderungen auf Nietzsches Spuren unternehmen, dass sie dann eine besondere Erfahrung machen. Es hat eine ganz andere Intensität, wenn man weiß, dass jemand hier seine Inspiration gefunden hat, hier so kreativ sein konnte."
Ziel aller Sils-Maria-Pilger ist das Nietzsche-Haus. Sein Kernstück bildet die bescheidene Dachkammer, Nietzsches sogenannte Höhle, in die er nach weiten Gängen in die Natur seine unterwegs gemachte Gedankenbeute hineintrug.
Wer in dieser dämmrigen, spärlich ausgestatteten Stube dem Philosophen nachsinnt, der hier einst zwischen oft tagelangen Kopfschmerzattacken geniale Einsichten zu Papier brachte, den würde es vielleicht nicht wundern, wenn der Meister selbst, ganz im Sinne der ewigen Wiederkehr, im gleichen Augenblick zur Tür hereinkäme. Doch werden die Besucher wohl mit den ihnen hinterlassenen Erinnerungsstücken vorlieb nehmen müssen. Dazu gehört auch ein leicht zu übersehendes Detail des Zimmers, das einen unvermuteten Einblick in das Seelenleben seines früheren Bewohners gewährt: eine kleine Aussparung in der später angebrachten Holzvertäfelung der Wand nämlich, die ein Stück grüner Tapete mit ornamentalem Muster freigibt. Nietzsche hatte sie einst selbst ausgewählt und den Raum auf eigene Kosten damit auskleiden lassen. Die grüne Tapete – sie erscheint wie der versteckt liegende Hinweis auf die Sehnsucht des "umherirrenden Flüchtlings", als der sich Nietzsche sah, nach Sesshaftigkeit, auf den fast anrührenden Versuch des Philosophen, der den Übermenschen lehrte, in seiner Zuflucht in der schroffen Bergwelt auf allzu menschliche Weise heimisch zu werden.
"Hier will ich lange bleiben", hatte Nietzsche bei seinem ersten Besuch in Sils Maria begeistert verkündet. In der Via da Marias Nr. 67 fand er als Untermieter des Gemeindesvorstands Gian Durisch schließlich jene Adresse, die er während sieben Sommern sein "Zuhause" nannte. "Lange bleiben" können aber auch heutige Besucher des Nietzsche-Hauses, wenn sie dem Philosophen besonders nahe kommen wollen. Denn das Museum ist nicht nur zu besichtigen, man kann es dem berühmten Gast gleichtun und darin sogar wohnen. Auch wenn damit die Ideen nicht automatisch einschlagen wie der Blitz.