Friedbert Meurer: Die Schweiz stimmt per Volksentscheid gegen Masseneinwanderung. Das Ergebnis am Sonntag war ziemlich knapp: 50,3 zu 49,7 Prozent. Dieses Votum kann jetzt Folgen haben. Die Europäische Union besteht ja auf Freizügigkeit, sonst steht der gemeinsame Handel und Austausch zur Disposition. Alles gehöre zusammen.
Was kommt jetzt? Paul Rechsteiner ist der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB. Das ist das Pendant zu unserem Deutschen Gewerkschaftsbund DGB. Der SGB ist Dachverband mit 16 Einzelgewerkschaften und 370.000 Mitgliedern. Guten Morgen, Herr Rechsteiner.
Paul Rechsteiner: Guten Morgen.
Meurer: In einer Erklärung nach der Volksabstimmung haben Sie gesagt, Sie nehmen das Ergebnis mit großer Sorge zur Kenntnis. Was macht Ihnen Sorgen?
Rechsteiner: Das Abstimmungsergebnis ist ja auch für die Gewerkschaften in der Schweiz ein schwarzer Tag. Die Gewerkschaften organisieren ja die arbeitenden Menschen in der Schweiz, unabhängig von der Farbe des Passes. Mit dem Abstimmungsergebnis, das ja äußerst knapp war – die Schweiz ist ja fast gespalten in zwei Hälften -, ist es so, dass die Lage derjenigen, die keinen Schweizer Pass haben, aber doch einen bedeutenden Teil der arbeitenden Bevölkerung in der Schweiz ausmachen, jetzt nicht besser geworden ist, sondern es bestehen da große Gefahren. Allerdings es ist ein Abstimmungsergebnis und die Frage wird sein, was jetzt passieren wird.
Meurer: Welche Gefahren bestehen denn für ausländische Arbeitnehmer bei Ihnen, also auch für deutsche?
Rechsteiner: Die Logik der Initiative ist eine Logik, die sich verabschiedet vom Prinzip der gleichen Rechte für die arbeitenden Menschen. Das ist so die Logik der Initiative. Sie will, oder mindestens ist das mit angedacht, auch wieder zurück zur Diskriminierung. Und die Frage stellt sich, weil ja da jetzt widersprüchliche Bestimmungen in der Schweiz anwendbar sind. Es gibt bilaterale Verträge mit der EU, die in Kraft sind, die neu verhandelt werden müssten nach den Vorstellungen der Initiative. Hier ist eine offene Situation gegeben, aber die Initiative selber ist geprägt von einem Geist, der mit Diskriminierung vorsieht.
Meurer: Über die EU unterhalten wir uns gleich. Weil Sie sagen, Diskriminierung für ausländische Arbeitnehmer bei Ihnen im Land: Wird es denn für die einheimischen Arbeitnehmer besser? Das war ja vermutlich ein Motiv der 50,3 Prozent gewesen, die Ja gesagt haben.
Rechsteiner: Das ist aus unserer Sicht nicht der Fall, sondern die schlechteren Bedingungen für die Immigrierenden oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Schweiz hatte immer Immigration, immer in den Zeiten, als es der Schweiz wirtschaftlich gut ging. Die Schweiz war ein Auswanderungsland in jener Zeit, als die Schweiz auch ein armes Land war, aber seit es der Schweiz besser geht wirtschaftlich, war sie, wie das überall auf der Welt ist die prosperierenden Regionen kennen, Einwanderungsland. So gesehen haben die schlechteren Rechte für Immigrierende einen Lohndruck zur Folge auch für die einheimische Bevölkerung. Das ist aber bei einer ganz knappen Mehrheit jetzt anders gesehen worden.
Die Problematik ist die, dass es einen Stock von Fremdenfeindlichkeit gibt in der Schweiz, wie in anderen Ländern auch. Das hätte aber nicht gereicht. Das Fatale an dieser Abstimmung war, dass im Unterschied zu den erfolgreichen Volksabstimmungen der letzten zehn, zwölf Jahre bei dieser Abstimmung jetzt keine sozialen Schutzmaßnahmen für die Arbeitnehmenden, für die Bevölkerung vorgesehen waren. Die Behörden in Bern haben gemeint, sie kämen durch ohne solche Schutzmaßnahmen, und da haben sie sich getäuscht.
Meurer: Nehmen wir mal an, es kommt jetzt aufgrund all dessen, über das wir jetzt reden, zu einem Fachkräftemangel in der Schweiz, oder zu einem Arbeitskräftemangel. Hätte das nicht den Vorteil für diejenigen, die schon da sind, dass sie dann höhere Löhne bekommen?
Rechsteiner: Wir haben ja durchaus die Position vertreten, gewerkschaftlich, dass zunächst ja die Leute, die im Inland sind, unabhängig von der Farbe des Passes, Arbeit haben sollen, bevor auf Immigration gesetzt wird. Nur ist das Mittel, mit dem das umgesetzt werden sollte, aus gewerkschaftlicher Sicht – und wir haben ja durchaus Erfolge erzielt -, das sind nicht diskriminierende Schutzbestimmungen für die Löhne: Die Bestimmungen, die durchsetzen, dass in der Schweiz Schweizer Löhne bezahlt werden müssen. Dieses Schutz-Dispositiv hat aber Lücken. Das ist der intelligentere Schutz der inländischen Arbeitskräfte, also eine Diskriminierung, die jetzt neue Schranken setzt für die Immigration.
Hoher Lohndruck in Branchen ohne Tarifverträge
Meurer: In welchen Bereichen ist es denn besonders schlimm? Im Baugewerbe beispielsweise, dass da Niedriglöhne bezahlt werden für ausländische Bauarbeiter?
Rechsteiner: Im Bau haben wir gute Gesamtarbeitsverträge, ein Lohnniveau, das sich durch die Öffnung, die Personenfreizügigkeit verbunden mit neuen Schutzmaßnahmen, sehr stark angehoben hat. Auch im Gastgewerbe ist das der Fall. Aber es gibt viele Branchen, die keine Abdeckung durch Gesamtarbeitsverträge – das sind Tarifverträge, die werden Gesamtarbeitsverträge genannt bei uns -, die keinen Lohnschutz kennen. Das ist auch der Grund, weshalb die schweizerischen Gewerkschaften jetzt eine sogenannte Mindestlohn-Initiative lanciert haben, um in den Branchen, wo es keine Schutzbestimmungen gibt, die wirken würde, da auch den Schutz zu verbessern. Insgesamt haben diejenigen, die jetzt ein Unbehagen hatten am mangelnden Schutz der Löhne, am mangelnden Schutz der Arbeitsplätze, das hat zusammen mit denjenigen, die gegen Ausländer generell sind, das hat eine knappe Mehrheit gemacht. Der Verzicht und die Weigerung der Arbeitgeberverbände und der Behörden, jetzt den Schutz zu verbessern durch Tarifverträge, das hat sich jetzt fatal ausgewirkt und zu einer Mehrheit geführt jener, die wieder abkehren wollen von bilateralen Verträgen mit Personenfreizügigkeit mit der EU.
Meurer: Es gibt jetzt aus der Nacht schon eine direkte Reaktion der Europäischen Union. Sie hat die Gespräche mit der Schweiz über den grenzüberschreitenden Stromhandel ausgesetzt. Was blüht der Schweiz noch von der EU?
Rechsteiner: Es wird eine Situation geben, wo alles offen ist. Es ist durchaus eine kritische Situation. Aus gewerkschaftlicher Sicht vertreten wir das Prinzip der Nichtdiskriminierung der arbeitenden Menschen. Da sind wir uns einig aus gewerkschaftlicher Sicht mit den Positionen der EU. Wir vertreten auch die Position, und das ist eine ganz entscheidende Geschichte in der Schweiz, dass es mehr Schutzbestimmungen braucht für die Löhne und die Arbeitsbedingungen, nicht weniger, oder dass es auch in den Branchen, die keine Tarifverträge kennen, wo die Löhne nur ungenügend geschützt sind, dass da mehr geschehen muss. Das ist etwas Wichtiges. Und wir als Gewerkschaften sind für die bilateralen Verträge.
Der Bundesrat, unsere Regierung wird jetzt überlegen müssen, was passiert. Es gibt hier unterschiedliche Tendenzen auch bei den Parteien, die in der Regierung sind. Aber wir gehen davon aus, dass Wege gefunden werden können, Wege gefunden werden müssen, wie diese bilateralen Verträge aufrecht erhalten werden können, und die Gefahren, die durch diese Annahme in der Volksabstimmung entstehen, dass die am Schluss bekämpft werden können.
Meurer: Paul Rechsteiner, der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, macht sich Sorgen, was auf die Schweiz und die Arbeitnehmer zukommen kann, nach dem Ergebnis der Volksabstimmung vom Sonntag. Herr Rechsteiner, ich bedanke mich für das Gespräch, auf Wiederhören in die Schweiz.
Rechsteiner: Guten Tag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.