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Schweizer Volksabstimmung
Masseneinwanderung - "ein Phantomproblem"

"Diese sogenannte Masseneinwanderungsinitiative war eindeutig auch eine xenophobe Initiative", sagte der Schweizer Historiker Georg Kreis im Deutschlandfunk. Der Ausgang sei der Angst vor einem Wohlstandsverlust geschuldet. Klar sei aber auch, dass eine solche Entscheidung den Wohlstand eigentlich gefährde.

Georg Kreis im Gespräch mit Thielko Grieß | 10.02.2014
    Ein Poster der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gegen "Masseneinwanderung" steht am 04.01.2014 auf dem Bahnhof SBB in Basel (Schweiz). Auch in der Schweiz tobt ein Zuwanderungsstreit - mit Deutschen statt Bulgaren als abschreckenden Beispielen. «Masseneinwanderung stoppen», fordern Rechtspopulisten. Verträge mit der EU sollen geändert werden.
    Ein Poster der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gegen "Masseneinwanderung" (picture alliance / dpa / Foto: Thomas Burmeister)
    Thielko Grieß: Von der Wirtschaft nun zu einer historischen Einordnung, gemeinsam mit Georg Kreis, Schweizer und Historiker an der Universität Basel. Auch an ihn zunächst die Frage, wie er gestern abgestimmt hat.
    Georg Kreis: Es gibt das Abstimmungsgeheimnis. Aber ich habe natürlich im Übrigen schriftlich abgestimmt und habe diese Initiative abgelehnt. Das ist völlig klar. Im Übrigen war ich 20 Jahre lang Leiter eines Europainstituts. Das heißt nicht, dass man automatisch mit fliegenden Fahnen für einen EU-Beitritt ist, aber doch eine wesentlich positivere Einstellung dem Gemeinschaftsprojekt gegenüber hat, als es in dieser Initiative und in diesem Volksvotum zum Ausdruck gekommen ist.
    Grieß: Und deswegen sagen Sie, haben Sie natürlich so abgestimmt, wie Sie abgestimmt haben. Ganz anders sehen das ja viele Menschen zum Beispiel in der Westschweiz, in ländlichen Regionen, in denen gar nicht so sehr viele Ausländer leben. Wie erklären Sie das?
    Kreis: Es ist ja auffallend, dass in Regionen, wo der sogenannte Dichtestress vorhanden ist, man eigentlich kein Problem hat mit der Zuwanderung, oder wenigstens nicht auf Zuwanderung derart ablehnend reagiert, während in lockeren Siedlungen man das als Phantomproblem wahrnimmt und mit einer sehr unrealistischen Antwort versieht. Ich muss im Übrigen auch noch erklären, wenn Sie Westschweiz sagen und damit die französische Schweiz meinen. Die hat die Initiative entschieden abgelehnt, und das ist ja eine Wiederholung einer Abstimmung vor 20 Jahren. Da ist nämlich die französische Schweiz auch gegenüber der EU im Fall des EWR wesentlich positiver gewesen als die deutsche Schweiz.
    Grieß: Ich meinte vor allem den deutschsprachigen Teil der ländlichen Schweiz. - Sagen Sie, sich abzuschotten und das Ausland Ausland sein zu lassen hinter den Bergen, ist das ein wiederkehrendes Motiv der schweizerischen Geschichte?
    Kreis: Ich gehe schon davon aus, dass diese kleinstaatliche Identität sich über Abgrenzung stark konstituiert und dass das, was außerhalb des Territoriums liegt, als problematisch bis negativ eingestuft wird. Diese sogenannte Masseneinwanderungsinitiative war eindeutig auch eine xenophobe Initiative, und die haben das ja dann auch mit Inseraten noch deutlich gemacht, indem sie sagten, in einer bestimmten Zeit wird man eine Million Muslime im Land haben und der Muslim ist in diesem Fall der Inbegriff des Fremden, was vorher vielleicht an den Juden durchexerziert wurde.
    Einmal mehr hat man Hochrechnungen präsentiert, dass bis im Jahr 2060 eine Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung nicht schweizerisch sein wird, und damit hat man natürlich versucht, auch Angst zu schüren. Aber es ist eigentlich nicht nur Angst vor dem Fremden – das ist, glaube ich, zu kurz gegriffen -, sondern es ist Angst vor einem Wohlstandsverlust, und diese Ängste kann man ja nur haben, wenn man im Wohlstand lebt, wie das bei der Schweiz in einem hohen Maße der Fall ist. Das Widersprüchliche, aber typisch Widersprüchliche ist, dass man aus Angst vor Wohlstandsverlust Ja sagt zu einer Vorlage, die den Wohlstand eigentlich gefährdet.
    Grieß: Sie führen vor allem die Angst an als einen Grund für das Verhalten der Mehrheit, die gestern so abgestimmt hat, wie sie abgestimmt hat. Aber, Herr Kreis, ist es nicht irreführend, oder zumindest nicht besonders hilfreich, mit diesen Menschen, die, wie Sie sagen, Angst haben, die Rationalität abzusprechen?
    Kreis: Es hat auch immer wieder Voten gegeben, die sagen, man muss Angst immer ernst nehmen. Vielleicht muss man das auch aus politischen Gründen. Aber Ängste müssten sich selber auch wiederum rechtfertigen. Wenn man sich, ich sage jetzt, verkürzt, falsch verhält, dann kann man nicht einfach sagen, ich habe eben Angst gehabt. Angst muss auch immer noch irgendwie diskutierbar sein. Es kommt im übrigen noch hinzu, was vielleicht gar nichts mit Angst zu tun hat. Das ist auch in den gestrigen Abstimmungskommentaren deutlich gezeigt worden. Es ist auch ein Votum gegen Bern, gegen die Regierung, gegen die Landesväter, die mittlerweile teils auch weiblich sind, und das hat auch immer eine ganz große Tradition. Es ist der Wutbürger, der ja mittlerweile nicht nur in der Schweiz, sondern andernorts ein bekanntes Phänomen ist, aber in der Schweiz eigentlich auch im übrigen wegen der direkten Demokratie sich das auch ausleben lässt, dass man der Zentrale in Bern erklärt, sie seien eigentlich Landesverräter, sie würden die Basis nicht ernst nehmen etc. Diese Bewegung hat immer zwei Hauptgegner: Es ist das Ausland und es ist das sogenannte Machtzentrum im eigenen Land.
    Grieß: Ist es ein Kreuz mit den vielen Kreuzen bei direkten Abstimmungen, Volksbefragungen in der Schweiz?
    Kreis: Sicher. Und ohne das jetzt zu verharmlosen: Ich gehe davon aus, dass Sie an anderen Orten, in Deutschland, in Frankreich, wenn man über dieses Instrument der Initiative und der Sachabstimmungen spricht, auch unsachliche Reaktionen dieser Art vorfinden würden.
    Grieß: Der Schweizer Historiker Georg Kreis heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk. Danke schön nach Basel.
    Kreis: Bitte.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.