Peter Kapern: Ziehen unsere Schweizer Nachbarn die Zugbrücken ihrer Alpenfestung hoch? Eine hauchdünne Mehrheit hat gestern für ein Volksbegehren gestimmt, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Masseneinwanderung zu begrenzen. In der Tat: 25 Prozent der Einwohner der Schweiz haben einen ausländischen Pass. Andererseits: Die Schweiz profitiert wie nur wenige andere Länder von ihrer Weltoffenheit. Das Land ist de facto Teil des EU-Binnenmarkts, Schweizer Unternehmen exportieren in alle Welt. Warum dann also diese Wagenburg-Mentalität? – Die Frage soll uns Andy Tschuemperlin beantworten, der Fraktionspräsident der Sozialdemokraten im Schweizer Nationalrat. Guten Morgen!
Andy Tschuemperlin: Guten Morgen.
Kapern: Herr Tschuemperlin, warum wollen Ihre Landsleute die Zugbrücken der Alpenfestung hochziehen?
Tschuemperlin: Das hat mit gewissen Problemen zu tun, die wir in unserem Land haben. Das zeigt sich vor allem im Tessin, wo die Leute darunter leiden, dass der Lohndruck enorm geworden ist. Vor allem durch die Krise in Italien ist der Lohndruck wirklich groß und die Leute haben einfach hier eine Notbremse gezogen.
Kapern: Bis zum Schluss hatten ja Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften und viele Parteien für ein Nein zu diesem Volksentscheid geworben, weil sie die Wirtschaftsinteressen des Landes gefährdet sehen. Hat jetzt ausgerechnet die ökonomisch so ausgefuchsten Schweizer der wirtschaftliche Sachverstand verlassen?
Tschuemperlin: Entscheidend ist ja, dass in diesen Wirtschaftszentren die Leute diese Initiative abgelehnt haben. Die Leute, die diese wirtschaftlichen Interessen vertreten, die haben für ein Nein sich eingesetzt. Das Problem war oder ist, dass man die flankierenden Maßnahmen, die nötig wären, innenpolitisch nicht setzt. Zum Beispiel braucht es dringend einen Mindestlohn in diesen Branchen, die vor allem unter Druck sind, und dort weigert sich die Wirtschaft, vor allem die Wirtschaftspartei, die FDP, diese Maßnahmen umzusetzen. Das Vertrauen in diese Migrationspolitik, in diese offene Politik weiterhin zu stützen.
Kapern: Wie, Herr Tschuemperlin, muss denn nun die Politik in der Schweiz mit diesem Abstimmungsergebnis umgehen? Wie wird das umgesetzt werden?
Tschuemperlin: Das ist die große Frage, die man heute zu diesem Zeitpunkt so nicht beantworten kann, weil einerseits wird der Bundesrat sehr stark gefordert sein, da die Außenpolitik eine Sache des Bundesrates ist, auch in der Zusammenarbeit mit der EU, und andererseits haben die Initianten ja nicht gesagt, wie die Lösung genau aussehen sollte. Sie haben nur gesagt, dass wir die Einwanderung selber steuern sollen und wieder Kontingente einführen sollen. Wie diese Kontingente dann aussehen und wer diese Kontingente dann am Schluss bestimmen soll, über diese Frage haben sie nie Antworten gegeben.
Kapern: Halten Sie eine Situation für denkbar, in der am Ende des Tages deutsche Ärzte weiter willkommen sind, somalische Flüchtlinge aber nicht?
Tschuemperlin: Das ist ein weiteres Problem dieser Initiative, weil sie genau in diesen Fragen überhaupt keine Antworten gibt. Die Initianten haben alle migrationspolitischen Fragen miteinander vermischt und haben gesagt, wir wollen wieder selber steuern. Wie diese Steuerung genau bei diesen unterschiedlichsten Einwanderungen aussehen soll und wie man diese völkerrechtlichen Verträge dann umsetzen soll, dazu gibt diese Initiative überhaupt keine Antworten. Das ist genau die Frage, die uns dann wirklich auch in den nächsten Jahren stark beschäftigen wird.
Abwarten auf die Reaktion der EU
Kapern: Was denken Sie denn, wie die EU nun reagieren wird auf dieses Abstimmungsergebnis von gestern? Wird man dort mit den Schultern zucken, oder was schätzen Sie, was dort passiert?
Tschuemperlin: Ich denke nicht, dass man mit den Schultern zucken kann. Die EU kann das sicher nicht, weil die Personenfreizügigkeit ist ein Teil der bilateralen Verträge, die wir seit zehn Jahren umsetzen. Im Grundsatz sind ja diese bilateralen Verträge und auch die Personenfreizügigkeit grundsätzlich gut für unser Land. Die Wirtschaft brummt wie noch nie. Und wie gesagt: Wir haben vor allem innenpolitische Fragen zu lösen. Die außenpolitischen Fragen, da wird der Bundesrat sehr, sehr stark gefordert sein und wird erklären müssen, wie diese innenpolitische Meinungsbildung vom Sonntag zu verstehen ist.
Kapern: Herr Tschuemperlin, es ist ja noch nicht lange her, da haben die Schweizer auch für ein Minarett-Verbot gestimmt in so einer Volksabstimmung. In den letzten Jahren gab es viele Berichte über Aversionen gegen Deutsche, die in die Schweiz gekommen sind. Gibt es eigentlich einen wachsenden Bodensatz von Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz?
Tschuemperlin: Fremdenfeindlichkeit würde ich das nicht nur nennen. Es ist sicher eine Frage des nationalen Verständnisses vor allem von der Landbevölkerung, die die Nation auch mystifiziert. Wir haben Leute, die die Schweiz nach wie vor als absolut eigenständiges Land ansehen, und sie vergessen immer wieder, dass die Welt international geworden ist. Das sind dann diese Leute, die jährlich einmal irgendwo hin in die Ferien reisen, aber sich nationalpolitisch zurückziehen. Die Welt sieht nicht mehr so aus, wie sie auch schon war.
Kapern: Andy Tschuemperlin, der Fraktionspräsident der Sozialdemokraten im Schweizer Nationalrat. Herr Tschuemperlin, danke und auf Wiederhören. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Tschuemperlin: Ja, wünsche ich Ihnen auch. Auf Wiederhören!
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