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Schweres Geschoss

Das Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum ist das größte medizinische Gerät der Welt und eines der teuersten. Es gilt schon vor seiner Eröffnung als Meilenstein in der Krebsmedizin. Allerdings warnen Gesundheitsökonomen schon lange vor den explodierenden Kosten der Krebstherapie, denen kaum gesunkene Opferzahlen gegenüberstehen. Wird die neue Heidelberger Strahlenkanone daran etwas ändern?

Von Thomas Liesen |
    Genau hier soll es zu finden sein: Das weltweit größte Gerät der Medizintechnik. Auf dem Gelände der Universität Heidelberg, zwischen zwei hohen Klinikgebäuden, ist nur braune, nackte Erde zu sehen. Ein Hügel, mehrere Meter hoch, einem gigantischen Maulwurfshaufen ähnlich. Aber tatsächlich liegt sie genau hier, die gesuchte Strahlenkanone, tief unter der Erde, aus Sicherheitsgründen perfekt abgeschirmt.

    "Hinter dieser Tür ist das Synchrotron, da können wir jetzt nicht hinein..."

    Unterwegs in das Innerste des Ionenstrahl-Therapiezentrums. Es geht erst einmal zwei Etagen abwärts unter die Erde. In Kürze sollen hier die ersten Patienten behandelt werden, vor allem Krebspatienten. Strahlen werden dann gezielt auf den Tumor gelenkt und sollen ihn zerstören. Es sind aber nicht die üblichen elektromagnetischen Röntgen- oder Gammastrahlen. Auch keine anderen radioaktiven Strahlen. Vielmehr soll ein Strahl aus Ionen auf den Tumor geschossen werden. Mit Ionen, also geladenen Atomen, könne man den Krebs viel präziser und erfolgreicher bekämpfen als bisher, glauben die Forscher. Doch das Ganze hat auch eine Kehrseite: Der technische Aufwand ist riesig.

    "So, hier sind wir jetzt im Bereich Ionenstrahl-Erzeugung, hier wird ein Ionenstrahl präpariert, wobei wir das mit zwei Ionenquellen tun, die eine läuft für Protonen, die andere für Kohlenstoff-Ionen, aus zwei Ionenquellen, die immer parallel laufen."

    Dr. Thomas Haberer ist wissenschaftlicher Direktor der Anlage. Er hat sie mitentwickelt, es ist sein Kind. Das Ganze ist im Prinzip ein Teilchenbeschleuniger, nicht so groß wie der Beschleuniger am berühmten Cern in der Schweiz, aber für ein Medizingerät eine doch gewaltige Anlage. Kosten: rund 100 Millionen Euro. Dafür hat der erzeugte Ionenstrahl aber auch ganz besondere Eigenschaften: Er dringt viel tiefer ein ins menschliche Gewebe als Gammastrahlen. Auch versteckte Tumoren, zum Beispiel mitten im Kopf, sind erreichbar – für die schweren Kohlenstoff-Ionen noch besser als für die ebenfalls erzeugten leichten Wasserstoffionen. Die Anlage ist weltweit die einzige, die gerade die Schwerionen dreidimensional und millimetergenau führen und fokussieren kann. Haberer:

    "Wir stehen jetzt direkt an den beiden Ionenquellen, man sieht die beiden Ionenquellen, das erste Stück Strahlführung, und dann geht es hinter diese Wand, wo Sie ein bisschen versetzt die gelben Abschirmsteine sehen, in den Bunker des Linearbeschleunigers. Der ist schon abgeschirmt, weil in diesem Linearbeschleuniger relativ viel Röntgenstrahlung entsteht, deshalb ist das schon ein gekapselter Strahlenschutzbereich."

    Mitten im Raum stehen zwei fassförmige Behälter. Sie enthalten Kohlendioxid und Methan. Diese Gasteilchen werden später auf den Tumor geschossen. Es ist extrem aufwendig, aus einem Gas einen Ionenstrahl zu gewinnen. Dazu benötigt man eine Art Katapult, das einzelne, geladene Teilchen ansaugt und dann extrem beschleunigt. Dieser Linearbeschleuniger ist eine fünf Meter lange Röhre, umgeben von Magneten. Die Ionen werden auf ihrem kurzen Weg darin auf ein Zehntel der Lichtgeschwindigkeit gebracht, also auf 30.000 Kilometer pro Sekunde. Das geht nur mit Hilfe einer Energiemenge, die fast eine Kleinstadt versorgen könnte, sagt Thomas Haberer.

    "Wir holen im typischen Betrieb zwei bis drei Megawatt aus einer speziellen Zuleitung, die wir mit dem lokalen Energieversorger bereitgestellt haben. Das ist wirklich Neuland für eine Klinikumgebung, und man muss auch Maßnahmen treffen, dass wenn man die Leistung gezogen hat, dass die gesamte Klinik nicht unter Netzschwankungen leidet."

    Noch immer ist der Ionenstrahl nicht stark genug für die Krebsbestrahlung. Die Teilchen müssen jetzt in das Herzstück der Anlage, den Ringbeschleuniger. Es ist eine Art Kreisverkehr für die Ionen, Durchmesser 20 Meter. Die Teilchen werden darin weiter angetrieben, am Ende auf rund 70 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. In einer einzigen Sekunde rasen sie mehr als 3 Millionen Mal durch den Ring. Und dann ist es soweit: Der Strahl hat genug Energie, jetzt muss er nur noch zum Patienten. Zu diesem Zweck gibt es mehrere Ausfahrten aus dem Kreisverkehr, wiederum lange Röhren. Sie enden in mehreren Behandlungsräumen. Und die gleichen eher einem Bunker. Haberer:

    "Wir sind hier im ersten unterirdischen Niveau und wir sind in einem Raum, der in alle Raumrichtungen von zwei Meter Beton umgeben ist."

    Der ist nötig, um die Außenwelt gegen die Teilchenstrahlung abzuschirmen. Im Raum herrscht dennoch eine halbwegs behagliche Atmosphäre, weil der Beton hinter einer Holzverkleidung versteckt ist. Aus einer Wand ragt ein dickes Rohr in den Raum. Die Mündung der – im wahrsten Sinne des Wortes – Strahlenkanone. Direkt davor die Patientenliege. Haberer:

    "Dort am Bestrahlungsplatz finden wir - das ist weltweit einmalig - zwei miteinander kooperierende Robotersysteme. Das eine ist der Positionierroboter, der eine Patientenliege aufnimmt, und ein deckenmontierter Roboter, das heißt, wir können CT-Aufnahmen mit diesem System machen."

    Die Präzision der Bestrahlung ist entscheidend. Der Tumor wird daher erst durch das CT, also durch Röntgenaufnahmen, lokalisiert und anschließend millimetergenau bestrahlt. Mit bisher nie gekannter Genauigkeit sollen die Teilchenstrahlen dann den Krebs zerstören - im Gegensatz zur Standard-Strahlentherapie weitgehend ohne Nebenwirkungen. Möglich macht das die besondere Physik der Ionenstrahlen: Sie dringen nicht nur besonders tief ins Gewebe ein, sie entfalten ihre größte Wirkung auch erst am Ende ihres Weges, dort wo der Krebsherd sitzt. Gesundes Gewebe in der Umgebung wird dagegen verschont. Weltweit wurden an Forschungsinstituten etwa 40.000 Patienten so behandelt. Eine größere Studie, die die Überlegenheit der Methode beweist, steht noch aus, doch schon jetzt schwärmen Mediziner von "Strahlentherapie in Vollendung". Auch die Industrie ist zufrieden. Siemens arbeitet zusammen mit den Heidelbergern daran, weitere Anlagen für den Weltmarkt zu entwickeln. Nur die Krankenkassen sind nicht ganz glücklich. Denn eine einzige Bestrahlungssitzung soll 1000 Euro kosten. Eine ganze Therapieeinheit sogar 18.000 Euro und damit fast dreimal so viel wie eine herkömmliche Strahlenbehandlung. Dennoch werden AOK und Co. die Kosten zumindest bei einigen, sonst schwer behandelbaren Tumorarten übernehmen. - Und damit das Dilemma vergrößern, in dem die gesamte Medizin und vor allem die Krebsmedizin ohnehin schon steckt.

    "Was wir feststellen können, ist, dass die Innovationen in der Medizin immer teurer werden. Das gilt sowohl für den Bereich Medikamente als auch für den Bereich der Medizintechnik. Und das ist ein großes Problem, in das das deutsche Gesundheitswesen reinläuft. Weil es ist absehbar, dass das Ganze sich auf Dauer nicht finanzieren lässt."

    Professor Oliver Schöffski von der Universität Erlangen ist Gesundheitsökonom. Er warnt vor der Kostenfalle, die sich im Gesundheitswesen auftut. Gerade in der Krebsmedizin: Die durchschnittlichen monatlichen Kosten für eine Behandlung haben sich in den letzten zehn Jahren nahezu verdoppelt. Demgegenüber steht eine andere, vollkommen ernüchternde Bilanz: Die Zahl der Tumoropfer ist im gleichen Zeitraum nur minimal gesunken. Zwar gibt es Fortschritte: Therapien sind verträglicher geworden. Das Leben der Patienten wird durch neuartige Behandlungen verlängert. Aber tatsächlich gerettet wird es kaum häufiger als früher. Wird die neue, 100 Millionen Euro teure Strahlenkanone daran endlich etwas ändern?

    "Medizin ist heute eine Kombination aus Kunst und Technik. Und vor allem die Technik wird immer teurer. Für mich hat es sich gelohnt."

    Ein Bankenviertel in einer großen Stadt. Luxusautos parken chromblitzend vor den aufstrebenden Fassaden. Thomas T. arbeitet hier. Mitte 30, jung, erfolgreich. Es traf ihn unvermutet.

    "Ich habe Doppelbilder gesehen. Was einem vor allem im Straßenverkehr auffällt, wenn man die Bordsteinkante nicht mehr einfach sieht, sondern doppelt und dann merkt man dann relativ schnell: Es ist irgendetwas anders also sonst. Die Ärzte waren sehr unsicher. Die dachten zuerst, es wäre Schlafmangel – wir hatten gerade ein kleines Kind gekriegt – und dachten: der Gute muss mal ein bisschen länger schlafen und dann hat er noch viel Besuch, das war die erste Vermutung. Die zweite Vermutung war Migräne, was ich in meinem Leben vorher noch nie gehabt hatte. Dann hat man gesagt: Entspannung. Ich war topfit, bin gelaufen, alles ging gut, nur die Doppelbilder gingen nicht weg. Und dann hat man als nächstes eine Kernspintomographie gemacht und dann war es dann mit Kontrastmittel sofort sichtbar."

    Ein Tumor an der Schädelbasis, hinter dem linken Auge, direkt an der Schlagader. Der Nerv, der die Bewegung des Auges kontrolliert, war eingeklemmt. Eine extrem schwierige Operation stand bevor. Thomas T:

    "Im ersten Moment kann man das gar nicht so richtig glauben, vor allem, weil es mir ja auch gar nicht schlecht ging. Aber man entwickelt doch ziemlich schnell einen starken Lebenswillen, so eine Kämpfernatur und hat gesagt: Das müssen wir jetzt hinkriegen."

    Tatsächlich schaffte Thomas T. die erste Hürde. Die Operation verlief gut. Aber klar war auch: Der Tumor konnte angesichts des hochsensiblen Umfelds nicht restlos entfernt werden. Aber wenn er überleben wollte, musste alles raus. T.:

    "Man googelt, man fragt Leute, die sich in der Medizinerszene gut auskennen. Der Kreis derjenigen, die was wissen, verengt sich und der Kreis derjenigen, die wirklich auf dem Gebiet was können, noch mehr. Und da stach ziemlich klar heraus, dass die GSI die sinnvolle Nachbehandlung sei."

    GSI, das ist die Gesellschaft für Schwerionenforschung in Darmstadt. Dort steht bereits eine ähnliche Strahlenkanone wie in Heidelberg. Entwickelt wurde sie zu einem ganz anderen Zweck: um atomare Teilchen zu erforschen. Praktisch nebenbei untersuchte man seit Ende der 90er Jahre aber auch die medizinischen Möglichkeiten. Und so wurden dort im Laufe der Jahre einige 100 Tumorpatienten pro Jahr im Rahmen von Studien mit Ionen bestrahlt.

    Thomas T. stellte sich in Darmstadt vor. Seine Krankenkasse sagte zu, die Kosten zu übernehmen. Und dann begann die Behandlung. Ganz fest fixiert auf der Patientenliege, der Kopf eingeklemmt in eine Art Maske, so dass er sich noch nicht einmal um einen Millimeter bewegen konnte. T.:

    "Ich habe gar nichts gespürt. Man sagt, dass man dabei so Blitze sehen kann, das hatte ich überhaupt nicht, ich habe deswegen keine richtigen Auswirkungen gespürt."

    Thomas T. ist einer von einigen 100 Patienten mit Schädelbasistumor, die bisher in den Genuss der Ionenstrahltherapie gekommen sind. In mehreren kleinen Studien wurden diese Patienten über einige Jahre begleitet. Die Überlebensrate nach fünf Jahren beziffert die GSI mit rund 90 Prozent, wobei die Zahlen wegen der geringen Patientenzahl noch nicht sehr aussagekräftig sind. Tatsächlich gibt es Experten, die deshalb die Überlegenheit der Ionenstrahltherapie insgesamt noch in Zweifel ziehen. Thomas T. ist sich dennoch sicher. Er hat profitiert.

    "Ich habe Familie, mehrere Kinder, für die bin ich da, ich bin fit, wahrscheinlich fitter als vorher, weil das ein Tumor ist, der über lange Zeit wächst und ich lebe ohne Doppelbilder und ohne Kopfschmerzen. Für mich hat es sich gelohnt."

    Im Augenblick ist es noch Konsens im Gesundheitswesen, dass bei Krebs das medizinisch Notwendige die Richtschnur für jede Therapie ist – und nicht deren Kosten. Die Kassen zahlen also, auch wenn die Behandlung Zigtausende verschlingt. Für die Investoren rechnet sich das 100 Millionen Euro teurer Heidelberger Großgerät daher. Trotzdem soll die neue Strahlentherapie erst einmal nur bei ganz bestimmten Patienten angewendet werden, sagt der wissenschaftliche Direktor Thomas Haberer.

    "Der Kandidat für die schweren Ionen ist ein tiefliegender Tumor, strahlenunempfindlich und damit typischerweise langsam wachsend und in der Nähe von Risikoorganen."

    "Wenn die Technologie da ist und im Rahmen der gesetzlichen Krankenkassen erstattet wird, dann ist es sehr schwierig, eine Mengensteuerung vorzunehmen. Das ist eben auch bei der Technologie der Protonentherapie zu befürchten, dass am Anfang erst ganz wenige Anlagen da sind, und dann wird man sich sicherlich auf die Patienten beschränken, die am meisten davon profitieren, wo man auch die besten Ergebnisse erzielen kann, aber wenn dann mehr Geräte auf den Markt kommen und das Ganze deutschlandweit verbreitet wird, dann besteht natürlich die Notwendigkeit für die Betreiber, dass sich die großen Kosten auch amortisieren und dann wird man zwangsläufig in eine Indikationsausweitung gehen müssen."

    Ganz unabhängig von den Profitabsichten der Betreiber solcher Anlagen - die Einführung neuer Therapien, neuer Geräte, neuer Medikamente, entwickelt fast immer eine Eigendynamik, sagt Oliver Schöffski.

    "Dann wissen die Ärzte, dass es dieses Produkt gibt und dass es nicht nur bei den Patienten mit der Erkrankung A etwas nützt, sondern auch bei Patienten mit der Erkrankung B oder mit dem etwas geringeren Schweregrad und dann haben natürlich die Ärzte einen harten Anreiz, diese Technologie auch zu verwenden. Und die Patienten selber erhalten natürlich auch diese Information von ihren Ärzten, von Selbsthilfegruppen, aus dem Internet, wo auch immer. Und die fragen dann sehr aktiv nach und fordern diese Technologie ein und dann gibt es quasi kaum noch ein Halten."

    Und selbst wenn die entscheidenden gesundheitspolitischen Gremien beschließen: Die Kosten für diese neue Therapie werden nur erstattet bei genau diesem Patienten, genau diesem Krebs oder genau diesem Krankheitsstadium – spätestens mit dem Anrufen der ersten Gerichte ist damit Schluss, kritisiert der Gesundheitsökonom:

    "Gerichte gehen – aus ökonomischer Sicht ist das durchaus dramatisch – immer davon aus, dass wir eine Situation des Schlaraffenlandes haben, dass also genug Geld zur Verfügung steht und damit kommen wir natürlich automatisch zu einer Mengenausweitung, die dann schwierig wird, zu finanzieren."

    Trotzdem: Die Protonenstrahltherapie mit ihrem enormen Aufwand wird in naher Zukunft keine Massenanwendung sein, allein schon wegen einiger technischer Hürden. Aber die Mechanismen des Marktes fangen dennoch an zu greifen. So haben seriöse Berechnungen ergeben, dass etwa zehn Anlagen in Deutschland ausreichen, damit alle Patienten mit schwer behandelbaren oder teilweise inoperablen Tumoren versorgt sein können. Zehn Anlagen. Doch dabei wird es nicht bleiben.

    "Also in den Schubladen von Chefärzten gibt es sicherlich 20 Anlagen","

    gibt der Chef der Heidelberger Anlage Thomas Haberer zu. Nicht umsonst hat sich zum Beispiel Siemens stark bei Entwicklung und Bau des Großgeräts engagiert. Schon jetzt gibt es weltweit einige Protonenstrahlzentren, im Bau oder definitiv geplant sind in Deutschland weitere in sechs Städten, darunter München, Marburg und Kiel. Das alles ist möglicherweise gut für die Patienten. Sicher gut für die Wirtschaft. Denn Krebs verspricht Rendite - bei Großgeräten und noch mehr bei Medikamenten.

    Frage: Weshalb ist Krebs ein interessantes Gebiet für die Industrie? Antwort: Erstens gibt es sehr viele Patienten, die daran leiden, und deshalb einen hohen medizinischen Bedarf. Zweitens sind die Behörden sehr interessiert, neue Medikamente auf den Markt zu bringen, und sind daher bereit, selbst bei Medikamenten, die eine geringe neue Wirksamkeit bringen, Nebenwirkungen zu tolerieren. Drittens können die Pharmafirmen für neue Krebsmedikamente hohe Preise erzielen und damit ihre Margen erhöhen.

    Zitat des Analysten Luis Correira von der Bank Credit Suisse. Goldgräberstimmung in Sachen Krebs also. 15 Prozent Wachstum pro Jahr sind realistisch. Für neue Präparate berechnen die Hersteller bis zu 10.000 Euro monatlich. Nach Ansicht von Kritikern sind diese Preise überzogen. Die Industrie nutze die Bereitschaft aller Akteure des Gesundheitswesens aus, angesichts der Schrecken von Krebs sich jede öffentliche Diskussion über Preise zu verkneifen. Tatsächlich gibt es dafür Belege. Beispiel Thalidomid. Der seit Jahrzehnten bekannte Wirkstoff steckte in den berüchtigten Contergan-Tabletten. Doch er wird in letzter Zeit neu entdeckt. Die Kosten sind gering: Keine vier Euro für eine Kapsel, erhältlich zum Beispiel in englischen Apotheken. Jetzt hat eine US-Firma daraus ein Mittel gegen Blutkrebs gemacht. Es heißt Lenadilomid und ist bis auf eine geringfügige, leicht und billig einzubauende chemische Modifikation mit Thalidomid identisch. Der Preis: Nicht vier, sondern 400 Euro pro Kapsel, 80.000 Euro für eine Jahresbehandlung.

    Thomas T. ist gesund, er arbeitet wieder im Bankenviertel seiner Stadt. Er hat seiner teuren Behandlung wahrscheinlich sein Leben zu verdanken.

    ""Wenn ich an mich denke, ich meine, ich war ja jung, als es passiert ist, ist ja auch noch nicht so lange her, also mir eröffnet das eine Perspektive, ohne Schmerzen und ohne Schäden zu leben, die ich natürlich nicht missen möchte. Es ist natürlich ein Projekt, das offensichtlich mit hohen Kosten verbunden ist, aber es werden viele Vorteile medizinischer Möglichkeiten realisiert, die, wenn man es überhaupt mit Medizintechnik machen will, hier eine besondere Berechtigung haben. Ganz andere Probleme haben wir wahrscheinlich in der Diskussion, wenn man versucht, jetzt diese ganze Parameter, die mit rein spielen – einen habe ich ja selbst gebracht, das Alter – da mit abzuwägen."

    Teure Therapien nur noch für die, für die es sich "lohnt"? Zum Beispiel für junge Menschen? Oder Nichtraucher? Oder besonders Versicherte? Wie viel darf ein gewonnenes Lebensjahr kosten? Eine Diskussion, die in Deutschland nicht geführt wird, geradezu undenkbar erscheint. Doch das ist Heuchelei, meint Gesundheitsökonom Oliver Schöffski. Denn rationiert wird bei uns schon längst.

    "Was wir zurzeit feststellen, ist, dass wir eine verdeckte Rationierung haben. Das heißt, dass zwar jeder im Hinterkopf hat, dass nicht alles finanziert werden kann, aber dass das nicht offen diskutiert wird. Und das führt dann zu unangenehmen Rationierungsfolgen. Dass zum Beispiel der Patient, der aufgeklärt ist, der intelligent ist, der sich im Internet erkundigt hat und weiß, dass es eine neue, teure und innovative Therapie gibt, der wird die aktiv beim Arzt einfordern. Und wenn er das bei dem Arzt nicht bekommt, dann wird er zum nächsten Arzt gehen und irgendwann bekommt er diese Therapie. Dann gibt es aber vielleicht einen Versicherten, der nicht so intelligent ist, der nicht im Internet zu Hause ist, der seinem Arzt vertraut und sagt: Ich gehe schon seit 30 Jahren da hin und was mein Arzt verordnet, das wird schon richtig sein. Aber der Arzt steht auch unter Druck und kann nicht jedem seiner Patienten die teuren Medikamente verordnen und wird es sicherlich bei dem Patienten, der es nicht aktiv fordert, nicht verwenden."

    Doch selbst die teuersten Krebsmedikamente können in den meisten Fällen nicht heilen, sondern das Leben nur verlängern. Die leicht fallende Zahl der Tumoropfer ist denn auch kaum neuen Therapien zu verdanken. Sondern vor allem einer besseren Krebsfrüherkennung.

    Ist also Prävention, die Krebsvorsorge im großen Maßstab der Königsweg, um Krebs – bezahlbar – zu bekämpfen?

    "Nehmen Sie einmal die Füße hoch. Liegen sie so bequemer?"

    Radiologische Klinik der Universität Bonn. Eine 42-jährige Frau wird in einem Computertomographen platziert. Es ist eine Röhre, rund zwei Meter hoch. Genau in die Mitte wird die Frau gleich eingefahren.

    "Die Arme fallen gleich ins Gerät rein, dann liegen sie nicht mehr so unbequem. Sie bleiben jetzt bitte ganz ruhig liegen, die Brust wird jetzt links und rechts eingespannt. Geht das noch? Ja. Gut."

    Die Brust der Patientin soll auf Anzeichen von Krebs untersucht werden. Doch es ist keine Mammographie, die die Ärzte hier anwenden. Die Patientin wird mit Hilfe der Magnetresonanz- oder Kernspintomographie untersucht.

    "So, ich gebe Ihnen noch eine Klingel in die Hand, wenn irgend etwas ist, drücken Sie drauf, wir hören Sie dann draußen. Alles in Ordnung? Ja. Dann geht es jetzt los."

    Das Brustdrüsengewebe wird jetzt nicht geröntgt, wie bei der üblichen Mammographie. Vielmehr sind Magnetfelder und Radiowellen die entscheidenden Zutaten, aus denen ein computergestütztes Rechenverfahren detailreiche Bilder des Körpers erzeugt. Forscher der Universität Bonn haben das Magnetresonanzverfahren jetzt so weiterentwickelt, dass es speziell für die Früherkennung von Brustkrebs eingesetzt werden kann. Federführend mitgewirkt hat dabei die Radiologin Professor Christiane Kuhl.

    "Ganz sicher klar ist, dass die Röntgenmammographie ein gutes, aber kein ideales Werkzeug für die Früherkennung darstellt. Ganz einfach, weil die Sicherheit, mit der wir röntgenmammographisch Brustkrebs diagnostizieren können, sehr stark abhängt von einer Frau zur nächsten, im wesentlichen davon abhängig ist, wie dicht das Drüsengewebe ist. Dieses Drüsengewebe ist, ganz platt gesprochen, weiß auf dem Röntgenfilm. Und die Erkrankung, die wir suchen, nämlich Brustkrebs, ist ebenfalls weiß. Und das ist dann so, wie wenn Sie einen Schneehasen im Hochgebirge suchen, nämlich weiß auf weiß, das ist ein schlechter Kontrast, im Zweifelsfall überhaupt kein Kontrast, das heißt, dass Sie auch größere Krebserkrankungen in der Brust mit der Röntgenmammographie nicht diagnostizieren können."

    Die Folge: Die normale Röntgenmammographie hat eine niedrige so genannte Sensitivität. Das heißt ihre Trefferquote liegt nach neuesten Untersuchungen sogar nur bei rund 50 Prozent. Viele Tumore bleiben also unerkannt. Anders bei der Magnetresonanztomographie. Kuhl:

    "Die Studien, die wir zu dem Thema haben – und das sind mittlerweile eine ganze Reihe von Studien – zeigen, dass mit der Magnetresonanztomographie etwa doppelt, in einigen Studien sogar dreifach höhere Empfindlichkeiten für Brustkrebs erzielt werden können als mit der Mammographie allein. Das sind drastisch bessere Ergebnisse."

    Die Konsequenz müsste demnach sein: Brustkrebsfrüherkennung in Zukunft nur noch mit der neuen Methode. Schließlich will man so viele Leben retten, wie möglich. Doch es gibt einen Haken: Die Magnetresonanz-Untersuchung kostet rund 600 Euro. Die alte, wenn auch ungenauere Mammographie nur 70 Euro. Der Gesundheitsökonom Oliver Schöffski:

    "Wir können das Problem ja mal anhand einer kleinen Milchmädchenrechnung skizzieren. Ich improvisiere jetzt mal ein bisschen, ich weiß nicht, ob ich mich nicht verrechne. Wir haben in Deutschland etwa 80 Millionen Menschen, davon ist rund die Hälfte Frauen. Also von den 40 Millionen Frauen sind es rund ein Viertel, für die ein Brustkrebsscreening in Frage kommt, also rund zehn Millionen. Zehn Millionen mal 600 Euro Kosten sind sechs Milliarden zusätzliche Ausgaben im Gesundheitswesen. Jetzt ist die Frage: Ist das einmal pro Jahr oder alle zwei Jahre? Sagen wir alle zwei Jahre, dann sind wir bei drei Milliarden zusätzlicher Ausgaben. Insgesamt geben wir in der GKV rund 140 Milliarden Euro aus. Das heißt, drei Milliarden mehr heißt zwei Prozent Wachstum nur wegen dieser einen Technologie. Und da gibt es eben nicht nur dieses neue Brustkrebs-Screening, da gibt es dann auch die Protonentherapie, da gibt es die teuren Arzneimittel. Und diese zwei Prozent, die man sich sicherlich noch leisten könnte – aber das addiert sich sehr schnell und dann kommen Sie eben von einem Jahr aufs nächste auf 30 Prozent Wachstum der Ausgaben im Gesundheitswesen und da wird es kritisch."

    "Also man kann im Augenblick nicht und auf absehbare Zeit nicht die Kernspintomographie zur flächendeckenden Früherkennung fordern. Das würde die Kosten im Gesundheitssystem einfach sprengen","

    gesteht daher Christiane Kuhl. Also im Klartext: Es gibt eine Methode, die wissenschaftlich bewiesen Brustkrebs besser erkennt als die alte Mammographie, die daher eine Reihe von Leben retten kann, die sogar schonender für die Frauen ist, weil sie ohne schädliche Röntgenstrahlen arbeitet. Aber diese Methode wird nicht für alle kommen. Und zwar aus Kostengründen. Aber es ist wie bei allen anderen Beispielen auch: So sagt das niemand. Die Krankenkassen sagen statt dessen: Die Methode ist nicht etabliert genug. Sie zahlen daher nur in ganz wenigen Ausnahmefällen.

    Die 42 jährige Frau, die an der Uni Bonn in der MRT-Röhre liegt, bezahlt ihre Untersuchung selbst. Dr. Simone Schrading, Mitarbeiterin von Christiane Kuhl, führt sie anschließend ins Besprechungszimmer.

    ""Ich habe sehr gute Nachrichten für Sie. Der Befund in der rechten Brust, der im Ultraschall auffällig war, ist eine Zyste. Das heißt es gibt keinen Tumor, auch keine Tumor-Vorstufe in ihrer rechten Brust. Es ist ein ganz harmloser Befund, der auch keiner weiteren Behandlung bedarf."

    "Wunderbar, Erleichterung!"

    Brustkrebsfrüherkennung mit neuester Technik. Das kann Sorgen nehmen, sogar Leben retten. Und wie die Statistiken beweisen: Mit Früherkennung werden die meisten Leben gerettet, mehr als mit neuen Behandlungsformen. Aber ob Vorsorge oder Therapie – jeder verhinderte Krebstod, jede verkürzte Krebserkrankung, ist das nicht auch ökonomisch ein Gewinn? Wäre das nicht ein Argument, um die Krankenkassen zur großzügigen Übernahme der Kosten zu bewegen? Auch Thomas Haberer, der Direktor der sündhaft teuren Protonenstrahlanlage in Heidelberg, führt gerade Kosten als Argument für seine Strahlenkanone ins Feld.

    "Jetzt muss man das vergleichen auf der anderen Seite – und das ist fast ein volkswirtschaftliches Argument – wenn wir es schaffen, und bei den Patienten, die wir in Darmstadt bestrahlt haben, haben wir sehr gute Ergebnisse gesehen, dass der Patient in einer einmaligen Strahlentherapie auch wirklich eine Heilungschance hat, die sehr hoch ist und nicht über Reha und Re-Bestrahlung und noch eine OP massive Folgekosten aufbringt, dann ist er ja auch schneller wieder arbeitsfähig und die Gesamtkosten im System sind dann geringer. Also im Gesamtbild, behaupte ich, wird es eher günstiger für die Kostenträger."

    Doch so überzeugend das klingt – es trifft nicht zu, sagt Gesundheitsökonom Oliver Schöffski.

    "Man spart durch Prävention kein Geld ein. Von dieser Vorstellung muss man sich verabschieden."

    Kürzlich ist in den Niederlanden eine Studie erschienen, die für Aufsehen sorgte. Denn sie stellt eindeutig fest - und zwar am Beispiel des Rauchens: Prävention funktioniert. Der nichtrauchende Mensch lebt länger. Doch genau das ist ökonomisch gesehen eine Sackgasse. Schöffski:

    "Aus dem einfachen Grund, weil er sieben Jahre älter wird und an irgendwelchen anderen Erkrankungen erkrankt, die dann auch durch das Gesundheitssystem finanziert werden müssen. Das gleiche bei der Brustkrebsprävention: Man wird dadurch kein Geld einsparen können in der Summe. Man bekommt dadurch mehr Lebenserwartung, eine bessere Lebensqualität, das ist ja auch das Ziel des Gesundheitswesens, aber wir sparen dadurch kein Geld ein. Am preiswertesten ist es, wenn Sie keine Früherkennung machen, weil dann die Leute einfach an ihrer Krebserkrankung sterben. Und ein toter Patient ist viel preiswerter als einer, der mit einer teuren Erkrankung lebt."

    Frust macht sich breit bei der Ärztin Christiane Kuhl, schließlich ist es ihr Beruf, Menschen zu heilen. Die Krebsmedizin läuft nicht nur in ein finanzielles, sondern in ein ethisches Dilemma hinein.

    "Diese Fragen also sind gesellschaftliche Fragen: Was möchte sich ein Land für die Gesundheitserhaltung seiner Bevölkerung leisten? Oder was möchte jeder einzelne investieren, um gesund zu bleiben? Das sind ja übergeordnete Ziele, die nach Möglichkeit für jeden Patienten und jeden Menschen anzustreben sind. Dass das mit zunehmender Technik teurer wird, liegt auf der Hand. Ich habe keine Lösung für das Problem."

    Für wen wird diese Medizin in Zukunft zur Verfügung stehen, die Magnetresonanztomographie, das neueste biotechnologische Medikament oder das größte medizintechnische Gerät der Welt, die 100 Millionen-Euro-Strahlenkanone in Heidelberg, die in diesem Jahr den Betrieb aufnehmen wird? Soviel steht fest: Nicht für alle. Thomas Haberer:

    "Das ist die Drehstruktur, die die weltweit erste drehbare Strahlführung für einen Ionenstrahl beinhaltet, die erlaubt es uns, 360 Grad um den Patienten herum in den Patienten einzustrahlen. Wir sind jetzt hier in einem Raum, der ungefähr 25 Meter Länge und 15 Meter Breite...Wir sehen in dem Raum zwischen zwei drehbaren Lagern, die etwa fünf Meter Durchmesser haben, eine Drehstruktur angebracht, das ist eine Gitterrohrstruktur…"