Die Gravitationskonstante G wird üblicherweise mit extrem komplizierten Pendelexperimenten gemessen. Dummerweise ist es dabei immer wieder zu großen Problemen gekommen: Die Ergebnisse, die Physiker in aller Welt erzielt haben, weichen deutlich voneinander ab. Bislang hat man diese Abweichungen durch Messfehler erklärt. Nun aber bieten Jean-Paul Mbeiek und Marc Lachieze-Rey vom französischen Kernforschungszentrum CEA in der Nähe von Paris eine andere Erklärung an: Die Gravitationskonstante sei gar keine Konstante, sagen sie, sondern sie sei vom Magnetfeld der Erde abhängig. Zu dieser ziemlich kühnen Behauptung gelangen sie auf der Grundlage einer - man höre und staunte - fünfdimensionalen physikalischen Theorie. Bei diesem mathematischen Gedankengebäude handelt es sich nun aber nicht um eine der ebenso neuen wie unausgereiften Theorien der Physik - die String-Theorie oder die Supersymmetrie. Diese Theorien bemühen sich zwar, alle Naturkräfte gemeinsam zu beschreiben. Sie sind aber noch zu kompliziert, erklärt Marc Lachieze Rey.
Diese Theorien sind heute noch zu kompliziert, als das wir sie gut beherrschen könnten. Wir haben darum eine vereinfachte Version der Theorie, eine sogenannte effektive Theorie, entwickelt. Dabei handelt es sich nicht um eine "echte" Theorie der Natur sondern um eine Theorie, die nur bestimmte Charakteristika enthält und die auf viele Details verzichtet.
Diese vereinfachte Theorie der Franzosen versucht, Gravitationskraft und elektromagnetische Kraft, die bisher getrennt betrachtet werden, unter einen Hut zu bringen. Und dabei ergibt sich: Die Gravitationskonstante G hängt vom Erdmagnetfeld ab. Das heißt: Sie ändert sich, je nach dem auf welchem Breitengrad man sich befindet. Physiker, die im chinesischen Wuhan, bei 30 Grad nördlicher Breite, gemessen haben, kommen demnach zu einem etwas höheren Wert als Physiker in Wuppertal, die in der Nähe des 51. Breitengrades arbeiten. Insgesamt haben die Franzosen die 17 besten Messwerte weltweit verglichen, unter Berücksichtigung der jeweiligen Breitengrade. Lachieze Rey:
Was wir finden ist, dass das alles sehr gut zusammenpasst mit unserer Theorie. Bisher gab es hier ein Rätsel, weil die Leute an vielen Orten ein und die selbe Sache gemessen haben - die Konstante G. Aber sie haben unterschiedliche Werte gefunden. Das war allen ein Rätsel - und wir haben dieses Rätsel gelöst.
Die meisten Experten sehen das anders: Das Rätsel ist noch lange nicht gelöst. Die Theorie der Franzosen enthält zwei sogenannte freie Parameter, mit deren Hilfe sie sich ihre Datenanalysen so zurechtlegen können, dass sie besonders überzeugend aussehen. Gut möglich, dass diese Theorie schnell vom Tisch ist, sobald neuere, verbesserte Messungen vorliegen. Immerhin hat die Theorie der Franzosen einen großen Vorteil: Sie lässt sich überprüfen. Sie sagt vorher, dass die Gravitationskonstante am Nordpol besonders klein und am Äquator besonders groß ist. Lachieze-Ray hat bereits mit russischen Physikern Kontakt aufgenommen:
Wir haben viel mit ihnen diskutiert, und sie sind einverstanden, dass man ihr Experiment an den Nordpol oder auf sehr hohe Breitengrade transportieren müsste. Sie würden es machen wollen. Aber nun gut. Ich zögere, solch ein Projekt anzugehen, denn das wäre schon ein aufwändiges und teures Unterfangen.
Sollte jemand tatsächlich versuchen, die Abhängigkeit der Gravitationskonstanten vom Magnetfeld der Erde zu messen, so ist es sehr wahrscheinlich, dass er die Theorie der Franzosen widerlegen wird. Aber es besteht durchaus die - wenn auch geringe - Chance, dass dabei ein völlig neuer Zusammenhang gefunden würde zwischen Gravitation und elektromagnetischer Kraft.