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Im Internetzeitalter gibt es keine Grenze mehr zwischen Arbeit und Freizeit. Doch das hat Folgen für das soziale Miteinander. In der Evangelischen Akademie in Bad Boll diskutierten Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen über die Zeitgestaltung in der Arbeitswelt 2.0.

Von Peter Leusch | 28.02.2013
    "Als Wirtschafts- und Sozialpfarrerin bekomme ich viele Menschen mit, die sehr darunter leiden, unter der entgrenzten Arbeit, der verdichteten Arbeit, - unter diesem ständigen Zeitdruck, dass es nicht mehr so klare gemeinsame Zeiten gibt, … Familie und Freundschaft – das ist schon ein Problem, wenn der eine am Donnerstag Zeit hat, und der andere am Mittwoch und der nächste am Sonntag."

    Esther Kuhn-Luz, Wirtschafts- und Sozialpfarrerin im Raum Stuttgart spricht über die Kehrseiten der flexibilisierten Arbeitswelt. Zwar sind hier individuelle Freiräume entstanden, die der Einzelne gestalten und bestimmen kann, wann er arbeiten, einkaufen, verreisen oder andere Dinge tun will, aber diese Individualisierung geht auf Kosten der gemeinsamen Rhythmen, des sozialen Miteinanders. Was früher nur bestimmte Gruppen, vor allem Schichtarbeiter oder in der Gastronomie Tätige betraf, prägt heute den Alltag von immer mehr Erwerbstätigen.
    Die durchrationalisierte, auf Leistung getrimmte Arbeitswelt hat den klassischen Feierabend abgeschafft. Via Internet und Smartphone ist der Mitarbeiter 24 Stunden am Tag und die ganze Woche lang, auch sonn- und feiertags erreichbar. Hier macht sich eine Unkultur ständiger Verfügbarkeit breit. Mit besorgtem Blick auf befristete Arbeitsplätze und drohenden Personalabbau geben viele Arbeitnehmer der Erwartung des Chefs oder dem allgemeinen Sog nach und ziehen mit. Und irgendwann können sie selber nicht mehr loslassen. Esther Kuhn-Luz:

    "Das ist gerade das große Problem, dass es so individualisiert wird, dass ich selbst entscheiden muss, jetzt klappe ich mal das Ding zu, denn jetzt ist für mich genug – und nicht geschaut wird, darf ich das jetzt zuklappen oder darf ich es nicht – es ist nicht mehr der Achtstundentag, sondern ich muss das Projekt fertig machen, aber das kann nicht sein auf Dauer, dass nur meine absolute Erschöpfung die Grenze ist, um zu sagen jetzt höre ich auf zu arbeiten."

    Burnout ist nur die dramatische Zuspitzung, der Extremfall, der schockiert. Psychische Belastungen, Schlafstörungen, Motivations- und Antriebsprobleme, so klagen Betriebsärzte, seien unter Krankheitsursachen im Vormarsch. Inzwischen gibt es bereits einzelne Unternehmen, die aufgrund der Arbeitsausfälle gegensteuern und versuchen den Stressfaktor ständiger Erreichbarkeit auszuschalten, erklärt Petra Pinzler, Wirtschafts- und Politikredakteurin der Wochenzeitung "Die Zeit":

    "Es ist inzwischen so, dass manche Firmen tatsächlich die Mail-Adressen ihrer Mitarbeiter abschalten, weil sie merken, die Leute brauchen Zeit für die Muße, sie brauchen Zeit für die Ruhe. Es ist kein Zufall, dass es immer mehr Menschen gibt, die in der Mittagspause Yoga machen, das dann auch von der Firma bezahlt wird, oder denen geraten wird von Zeit- und Lebensberatern, doch vielleicht mal durchzuatmen, - das Problem das dabei besteht, ist, dass dabei die Mußezeit immer wieder nur in ihrer Funktion für die Arbeitszeit gesehen wird, das heißt ich betreibe jetzt Musse, damit ich hinterher umso aktiver bin, dabei ist die Muße doch eigentlich an sich ein Selbstzweck, die Zeit, die ich angenehm verbringen kann, und auch die Arbeitszeit sollte an sich angenehm sein."

    In einer globalisierten Leistungsgesellschaft, wo alle Ressourcen mobilisiert werden sollen, wirkt das Wort Muße fast schon altfränkisch. Die neue Arbeitswelt 2.0 führt zu einem Umbruch auf vielen Ebenen, insbesondere im Umgang mit der Zeit. Welf Schröter vom gewerkschaftsnahen Netzwerk "Forum soziale Technikgestaltung" vergleicht in der Rückschau die verschiedenen Zeit- und Arbeitsauffassungen vergangener Jahrhunderte:

    "Wenn wir den Wandel der Arbeitswelt anschauen, dann sehen wir dass es da ganz viele Schichten an Erfahrungen und Bewusstsein gibt: man kommt aus der alten Welt des Bauernhofs, kommt in die Manufaktur, kommt in die schnellen Takte der Industriewelt und jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts beginnt eine ganz neue Phase der digitalen, der virtuellen Arbeitswelten - im Kopf sind wir noch auf dem Bauernhof, mit den Gliedmaßen in der Industriegesellschaft und gleichzeitig wird von uns erwartet, wir müssen eigentlich schon mit dem Virtuellen schon zu Rande kommen."

    Im menschlichen Bewusstsein und in der Kultur sind unterschiedliche Vorstellungen von Zeit und Arbeit nebeneinander wirksam, die verschiedenen Epochen entstammen. Welf Schröter spricht von einer Ungleichzeitigkeit, ein Begriff, den der Philosoph Ernst Bloch in anderem Zusammenhang prägte.

    Wir orientieren uns in Teilen immer noch an einer zyklischen Zeitvorstellung, dem biologischen Kreislauf von Geburt und Tod, der Wiederkehr der Jahreszeiten und Feste. Daran orientierte sich auch die bäuerliche Arbeit. Es ging nicht um Stundensoll oder Pünktlichkeit, es ging darum die Dinge zur rechten Zeit zu tun. Eine harte Arbeit zwar, diktiert von Natur und Notwendigkeit, aber in ihrem zeitlichen Ablauf vom Bauer selbst geordnet. Welf Schröter:

    "Wer in den alten bäuerlichen Arbeitswelten tätig war, hat seinen Tagesablauf gehabt, aber er hat sozusagen in einem zeitsouveränen Verfahren die Arbeit für sich selbst organisiert: wann das Vieh dran ist, wann man auf den Acker geht, wann man einkaufen geht, wann es das Abendessen gibt, - es war für sich ein zeitsouveränes Arbeiten: das ist in der Vertaktung der industriellen Arbeitswelt verschwunden, da schien es so, als ob die Maschine das Diktat führt."

    Die sogenannten Maschinenstürmer zu Beginn der Industrialisierung richteten ihre Aggressionen zunächst gar nicht gegen die Maschinen, sondern, wie Sozialhistoriker herausgefunden haben, gegen die Uhren über den Fabriktoren. Gegen diese verhassten Symbole und Kontrollorgane einer neuen Tyrannei, die den menschlichen lebendigen Rhythmus durch den mechanischen Takt ersetzte und den Arbeiter zwang, sich der Maschine zu unterwerfen. Charley Chaplin hat es seinem Film "Modern Times" bitterkomisch vorgeführt.

    Die industrielle Revolution war auch eine Revolution des Zeitverständnisses. Sie bedeutete, dass der rein quantitative Zeitbegriff der Physik, zunächst auf Produktion und Wirtschaft und heute auf immer mehr Bereiche des sozialen Lebens übertragen wurde. Zeit kann man messen, zählen, gewinnen und verlieren, und vor allem – man kann sie zu Geld machen. Time is money. Petra Pinzler:

    "Das Problem, was wir haben, ist das wir in unserem Umgang mit der Zeit viele Begriffe aus der Ökonomie übernommen haben, wir glauben heute, wenn wir effektiver sind, wenn wir Multitasking betreiben, also viele Dinge gleichzeitig tun, dass wir dann Zeit sparen könnten, die wir irgendwann dann möglichst effizient genießen können – das ist eine völlig irrige Annahme über die Zeit, denn die Zeit empfinden wir immer nur im Hier und Jetzt, wir können nicht Zeit sparen und am Ende steht dann so etwas wie eine glückliche Zeit, am Ende jeder Lebenszeit steht der Tod und nicht das Glück, das heißt es geht immer darum, die Balance zu finden, die Zeit, die wir jetzt haben, sinnvoll zu nutzen. Und nicht zu glauben, wir könnten sie sparen."

    Petra Pinzler hat die herrschenden Vorstellungen von Glück und gutem Leben untersucht und in ihrem Buch "Immer mehr ist nicht genug. Vom Wachstumswahn zum Bruttosozialglück" die einseitige Fixierung auf materielle Dinge kritisiert. Zu einer wirklichen Lebensqualität und zur Zufriedenheit gehörten vergessene Güter immaterieller Natur, vor allem Zeitwohlstand, überhaupt ein anderer gelassenerer Umgang mit der Zeit, auch in der Arbeitswelt.

    Die Politikwissenschaftlerin und Ethnologin Sabine Fandrych hat 14 Jahre in afrikanischen Ländern gelebt und dabei kulturell andere Auffassungen von Zeit kennengelernt:

    "Es ist auf jeden Fall so, dass es in vielen Kulturen nicht so sehr um die Sache und um die Abarbeitung von Agenda-Punkten geht, sondern sehr viel stärker um das Ereignis, dass es auf die Beziehungen der Leute untereinander ankommt, da kann man als Beispiel nennen, dass der Bus nicht um Punkt zehn nach fünf abfährt, sondern dann, wenn er voll ist – oder dass man sagt, die Versammlung beginnt dann, wenn alle da sind. … Das ist etwas was uns ein bisschen abhanden gekommen ist, wir schauen immer nur auf die Sache, und wie wir die Dinge erledigen können, dabei gehen uns die gemeinsamen Zeiten immer mehr verloren."

    Die westliche moderne Gesellschaft will nicht verweilen. Sie ist in ihrer Dynamik ganz auf die Zukunft ausgerichtet. Vergangenheit zählt nicht, ist etwas für alte Leute, und die Gegenwart nur Sprungbrett nach vorn, es gilt die Zukunft zu gewinnen und mit Hilfe von Terminen, Kalendern, Programmen und Projekten in Besitz zu nehmen und gewinnbringend zu gestalten. Anders in Afrika. Sabine Fandrych:

    "Zum Beispiel bin ich auf Unverständnis gestoßen bei einer schwangeren Kollegin, die ich gefragt habe, wie soll denn das Kind heißen, wenn es auf die Welt kommt. Da war verlegene Ablehnung zu spüren, denn man vergibt keinen Namen an ein ungeborenes Kind, das bringt Unglück. Das Kind bekommt einen Namen, wenn es auf der Welt ist. Ebenso mit dem Wetterbericht - wenn man darüber Small Talk machen will und sagt, wie wird wohl das Wetter morgen, wird das teilweise mit Unverständnis aufgenommen, weil es etwas ist, was sich unserer Kenntnis entzieht und was eigentlich Gott vorbehalten ist. Also unsere sehr auf die Zukunft gerichtete Besessenheit mit der Planbarkeit von Dingen, die ist da weniger präsent. Man nimmt stärker hin, dass man auch warten und abwarten muss, während wir eher die Anpassungsprozesse der Hast und der Hetze verinnerlicht haben."

    Natürlich kann die moderne westliche Gesellschaft nicht einfach Zeitauffassungen außereuropäischer Kulturen übernehmen oder sich aufpfropfen. Ebenso wenig kommt eine Rückkehr zur agrarischen Vergangenheit Europas in Betracht. Das bäuerliche Leben mit seiner Mühsal und Enge darf nicht verklärt werden. Aber im Spiegel anderer Zeitauffassungen werden die Einseitigkeiten und Defizite der modernen Gesellschaft deutlich, der Preis, den sie für ihre Dynamik zahlen muss.
    Und den Vergleichen könnte man Hinweise entnehmen, welche Momente im gegenwärtigen Umbruch von der industriellen zur globalen informationellen Arbeitswelt gestärkt oder entwickelt werden müssten, um eine neue Balance zu finden. Auch in der Gegenwart findet man Beispiele einer qualitativ erfüllten und deshalb zufriedenstellenden Arbeitszeit. Insbesondere bei Außenseitern.

    "Man kann wenn man den richtigen Umgang mit der Zeit betreiben will, glaube ich, viel von Künstlern lernen. Das wissen mittlerweile die Neurologen, dass die Menschen, die sozusagen "im flow" sind, also - eins mit dem, was sie tun – dass das diejenigen sind, die zufrieden sind mit ihrem Umgang mit der Zeit, mit ihrem Leben, das heißt es geht darum im Hier und Jetzt etwas zu tun, was man sinnvoll findet, das funktioniert natürlich nicht immer, nicht in jedem Augenblick, möglicherweise wenn man früh aufstehen muss und ein Langschläfer ist, es gibt Zeiten in denen einen das Wetter betrübt – aber grundsätzlich ist das Gefühl von Lebensqualität dann gut, wenn man etwas tut, was man mit Freude tut."

    Petra Pinzler spricht hier die individuelle Ebene an, worauf der Einzelne achten kann. Aber nicht jeder ist Künstler, und gerade Freiberuflern, die doch den Schlüssel zu einer selbstbestimmten und autonom geregelten Arbeitszeit in Händen halten, misslingt oft das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben, zumal sie auf Aufträge und Terminarbeiten angewiesen sind. Grundsätzlich biete, so Welf Schröter, der technologische Fortschritt in der Informations- und Kommunikationstechnologie durchaus Potenziale, eine Flexibilität im Arbeitsleben herzustellen, die nicht nur auf die konjunkturelle Situation des Unternehmens reagiert, sondern auch zugunsten des Arbeitnehmers, sodass er seine Arbeitszeit der jeweiligen Lebensphase anpassen kann:

    "Um dies aber zu realisieren, bedarf es dafür in einer solidarischen Gesellschaft der Rahmenbedingungen, man braucht ein anderes Konzept von Lebensarbeitszeit, man braucht ein anderes Konzept von Wochenarbeitszeit, man kann nicht Zeitsouveränität in einer virtuellen Gesellschaft nach den Taktmodellen der alten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts organisieren, das ist so ähnlich, wie wenn ich sage: 'Machen Sie Telearbeit, aber Sie müssen jeden Tag hier sein.'"

    In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in Deutschland die kapitalistische Wirtschaft gesetzlich eingehegt und zivilisiert worden. Doch die Instrumentarien dieser Humanisierung der Arbeitswelt, das Betriebsverfassungsgesetz und die gewachsene Mitbestimmungskultur sind von der Globalisierung ausgehebelt worden.
    Denn das geltende Arbeitsrecht und die Mitbestimmungskonzepte, erläutert Werner Wild von der Gewerkschaft Ver.di. seien am Betrieb als Wirtschaftseinheit ausgerichtet. Das aber treffe nicht mehr die Realität:

    "Wir haben die Situation, dass über Unternehmensgrenzen hinweg Entscheidungen getroffen werden, wir haben heute Warenwirtschaftssysteme, automatische Bestellwesen, das heißt irgendwo wird bestellt und in einer anderen Firma oder einem anderen Unternehmen wird dann die Produktion ausgelöst, das heißt es wird woanders entschieden, wann wo und wie die Menschen arbeiten."

    Werner Wild spricht von einer Entortung der Arbeit, dass also über Produktion, Personal und Arbeitszeit immer weniger im Betrieb selber entschieden wird, sondern in einer fernen Zentrale, die gleichsam wie eine dunkle Schicksalsmacht ins Unternehmen eingreift.

    Trotzdem sind gerade die großen Unternehmen, insbesondere die Global Player in der Pflicht. Und in der jungen Generation, dort wo Führungskräfte gesucht werden, gibt es Gegenwind. Es mehren sich Stimmen beim Nachwuchs, die nicht nur Karriere, Geld und Aufstiegschancen wollen, sondern auch eine Work-Life-balance suchen, ein Arbeitsleben, das sich mit anderen Interessen, mit Freizeit und Familie verbinden lässt. Esther Kuhn-Luz:

    "Ich weiß beim Daimler zum Beispiel, dass sie Schwierigkeiten haben junge Leute zu finden, die sich für eine globale Führungskarriere zur Verfügung stellen, weil sie sagen: 'Ich will nicht alle meine Lebenszeit und Lebensenergie meiner Karriere zur Verfügung stellen, sondern mir ist es wichtig, dass ich auch noch Zeit habe für Familie, für Freundschaft, für Sport, für die Kirchengemeinde, für den Chor, fürs Kegeln oder sonst was.'"

    Neben der individuellen und betrieblichen Herausforderung ist es auch eine Aufgabe für Politik und Gesellschaft. Denn auch die soziale Marktwirtschaft braucht Schraken, braucht gesetzliche Regeln, die den Rhythmus des gesellschaftlichen Lebens garantieren. Daran sollte man unbedingt denken, wenn über die Ladenöffnungszeiten, wenn über den Sonntag diskutiert wird.

    Petra Pinzler: "Es gibt auch so etwas wie Räume, Zeiträume, die man schützen sollte, es gibt ja eine Menge an ehrenamtlichen Dingen, die für eine Gesellschaft wichtig sind, die eine Gesellschaft braucht, wo die Menschen hingehen können, wenn das immer schwieriger wird, wenn alle Arbeitszeiten komplett individualisiert werden, dann sehe ich ein wenig schwarz für die Gesellschaft."