Unter Sozialwissenschaftlern ist immer noch umstritten, ob und wie man den "guten" Patriotismus" vom "bösen" Nationalismus unterscheiden könne. Meist wird Patriotismus als Liebe zum Vaterland und Eintreten für das Gemeinwohl definiert, während Nationalismus das Ausgrenzen und die Unterordnung anderer Nationalitäten meint. Beide Begriffe sind älter, aber seit dem ersten Weltkrieg und besonders noch einmal im zweiten hat das Thema Brisanz gewonnen. In Deutschland ist Patriotismus erst "salonfähig", seit es mit dem Mauerfall wieder einen Nationalstaat gibt.
Der Beitrag in voller Länge:
"Fußball ist ein Phänomen, das sich einmal einer sozialen Akzeptanz, quer durch alle Schichten hindurch erfreut, zum anderen von den Politikern aufgegriffen wird, vielleicht als eine Art Spielball für eigene Popularität, und das dritte: Es hat immer wieder Perioden gegeben, wo der Fußball in Deutschland eine Antwort gegeben hat auf die Frage: Wer sind wir?"
Ein nationales Wir-Gefühl wird für Professor Gunter Gebauer, Sportphilosoph von der FU Berlin, durch Fußball demonstriert und erlebt. Und in Zeiten internationaler Fußballereignisse dürfen inzwischen auch hierzulande die Nationalhymne lauthals mitgesungen, schwarz-rot-goldene Fahnen geschwungen und Deutschland bejubelt werden - nicht nationalistisch, sondern patriotisch, im Sinne von Johannes Rau in seiner Rede nach der Wahl zum Bundespräsidenten 1999:
"Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet."
Patriotismus und Nationalismus
Auch sonst wird meist der gute Patriotismus vom bösen Nationalismus unterschieden. So auch von Professor Volker Kronenberg, Direktor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Uni Bonn. Der neuere Patriotismus entstand in der Französischen Revolution:
"Der Patriotismus ist ja ein Begriff der Aufklärung, der Bürgergesellschaft gegen den Obrigkeitsstaat - Emanzipation, die Bürger gegen den Feudalismus, und er gehört weder nach rechts noch nach links, sondern in die Mitte, in die Bürgerschaft, und das verbindet sich dann sukzessive damit, dass die Patrioten auch so etwas schaffen wollen wie einen gemeinsamen Raum, den es ja damals so in dem Sinne nicht gab, einen Nationalstaat, einen modernen."
Patriotismus will demnach den Nationalstaat als eine "offene Gemeinschaft von Staatsbürgern", wo jeder dazu gehören kann - unabhängig von seiner Herkunft - jeder, der die Grundwerte akzeptiert und sich mit der Kultur identifizieren kann. Es ist nicht nur die altrömische "amor patriae", die Liebe zum Vaterland, nicht bloß ein Gefühl, sondern eine sozialpolitische Haltung.
"Denn beim Patriotismus kommt das tätige Einstehen für die res publica, für das Gemeinwesen, dazu."
Das ausschließlich "Gefühlige" führt in die Ideologie des Nationalismus. Der dominierte eigentlich erst im 19. Jahrhundert, als sich verschiedene Nationalstaaten bildeten oder festigten. Entsprechend kriegerisch klingen viele der damals verfassten Nationalhymnen. Unsicherheit und Bedrohung bestimmen diesen Prozess, sagt Patriotismusforscher Kronenberg.
"Das ist so das Kämpferische, auch das Blutige und die Auseinandersetzung zwischen den Nationalstaaten, die Über- und Unterordnung, das Absolutsetzen des Eigenen, all das würde man ja mit dem Nationalismus, so wie ich ihn auch abgrenze vom Patriotismus, verstehen. Natürlich hat der Nationalismus auch viele Präfixe, und man kann auch von einem Freiheitsnationalismus und anderem sprechen, und im Angelsächsischen ist die Nationalismusforschung auch wertneutral."
Patriotismus im Lauf der Geschichte
Tatsächlich ist im Lauf der Geschichte Patriotismus immer wieder schnell in Nationalismus umgeschlagen. 1942 schrieb der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga:
"Unter den Feen, die an der Wiege der Nationen standen, haben Hochmut, Habsucht, Hass und Neid niemals gefehlt".
In Deutschland richtet die Politik-Forschung ihr Augenmerk auf die Unterscheidung von Patriotismus und Nationalismus. Charakteristisch ist hier zunächst, dass es sich im Zuge der Befreiungsbewegung von 1848 um eine "verspätete Nation" handelte.
"Da ging es zunächst gar nicht um die Frage, was ist des Deutschen Vaterland, sondern das war sozusagen diese weltbürgerliche Konnotation, die wir auch bei Schiller und anderswo beobachten können. Aber sehr schnell dann doch ist das eine Bewegung, die über die Intellektuellen hinausführt, wird die Frage explizit thematisiert, ob es nicht so etwas wie einen deutschen Nationalstaat geben solle, aber 1870/71 dann die bismarcksche Reichsgründung ist eben doch deutlich von dem entfernt, was man sich ursprünglich erhofft und erwünscht hatte. Und das ist tatsächlich eine verspätete Nationsgründung."
Eine Nation, nach einem Krieg entstanden, die sich permanent bedroht, umzingelt fühlt. Kaiser Wilhelm II. aktivierte die "Vaterlandsliebe" zunächst als Mittel der Innenpolitik, als er dem Reichstag am 4. August 1914 zurief:
"Ich kenne keine Partei mehr, ich kenne nur Deutsche!"
... und er nutzte sie dann zwei Tage später in seinem "Aufruf an das deutsche Volk":
"Es muss denn das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen! Jedes Schwanken wäre Verrat am Vaterlande."
Diesen Duktus übernahmen Viele, von denen man das nie vermuten würde. So schrieb im Mai 1915 der gesellschaftskritische Maler George Grosz:
"Wunderbares Preußenland, herrliches, großes geeinigtes Deutschland mit Deinem prächtigen Militär! Du allein bist berufen, den Samen der Kultur in alle Barbarennationen zu träufeln, gegen die wir kämpfen müssen."
Vom deutschen "Hurra-Patriotismus" ist landläufig die Rede - ein unzutreffender Begriff, sagt der Bonner Politologe Volker Kronenberg:
"Es ist tatsächlich der schiere Nationalismus, der hier um sich greift, es geht um die Erhöhung des Eigenen, die Herabsetzung des Anderen, es geht um Konflikt und Krieg."
Kein typisch deutsches Phänomen
Die Professorin für Zeitgeschichte an der Uni Hamburg, Dorothee Wieling, sieht hier auch kein typisch deutsches Phänomen. Im April 2014 sagte sie in einer Diskussionsveranstaltung der Gerda-Henkel-Stiftung zum Thema "Krieg der Emotionen":
"Auch heute sehen wir ja, nicht bei uns, aber in anderen Gesellschaften, dass überall da, wo die Nation so eine Gemeinschaftsfantasie anbietet, da lassen sich ja Leute noch dafür töten und sie töten auch. Die emotionale Konditionierung, die läuft glaube ich weitgehend bis heute über die Idee der Nation, der gefährdeten Nation."
Nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg gab es kein Zurück zum "friedlichen, weltoffenen Patriotismus" in Europa. In England zum Beispiel startete man im Zuge der Weltwirtschaftskrise die Kampagne "Buy British". Besonders anfällig aber für aggressiven Nationalismus war das "gekränkte" Deutschland, gipfelnd dann im Nationalsozialismus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die anderen Nationen als gefestigte Demokratien relativ unproblematisch zurückgekehrt zum Patriotismus im ursprünglichen Sinn. In Deutschland verbot sich das lange. Zudem gab es nach der Teilung keinen deutschen Nationalstaat. Während Ostdeutschland an Stelle der Nation die "Arbeiterklasse" setzte, tat man sich in Westdeutschland immer schwer mit einer Identitätsstiftung. Da erschien es noch ungewöhnlich, als Gustav Heinemann 1969 seine erste Ansprache als Bundespräsident mit den Worten schloss:
"Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland."
Schließlich fand sich in Westdeutschland die Lösung im Begriff "Verfassungspatriotismus", den der Publizist Dolf Sternberger 1979 prägte. Der Patriotismusforscher Volker Kronenberg:
"Den einen deutschen Nationalstaat, als Referenzobjekt eines Patriotismus gibt es nicht. Und vor dem Hintergrund des Ersten und Zweiten Weltkrieges war es dann doch für viele und auch für bestimmte politische Strömungen gar nicht erstrebenswert, einen Patriotismus zu reklamieren, der die Patria als Nationalstaat begreifen wollte, sondern mit dem Verfassungspatriotismus verband sich bei vielen auch die Hoffnung, sozusagen Nationalstaatlichkeit im klassischen Sinne überwinden zu wollen, hin zu einem Europa, dass die klassischen Nationalstaaten hinter sich lässt."
"Sie hören Nachrichten. Die deutsche Zweistaatlichkeit ist beendet. Um Mitternacht wurde der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland wirksam."
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands
Erst nach der Wiedervereinigung ist Deutschland formal ein ganz normaler Staat in Europa und kann ein eigenes Nationalbewusstsein entwickeln. Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum Staatsakt am 3. Oktober 1990:
"Wir können den gewachsenen Verfassungspatriotismus der einen mit der erlebten menschlichen Solidarität der anderen Seite zu einem kräftigen Ganzen zusammenfügen."
Allerdings ging das hierzulande immer noch nicht ohne Bedenken ab. Oder, in den Worten von Karl Kraus:
"Deutsch ist, dass die Frage nach dem, was deutsch ist, niemals ausstirbt."
Nur ein Beispiel ist die "Leitkulturdebatte" vom Ende der 1990er-Jahre, im Zusammenhang mit Einwanderung und Integration immer wieder aufkommend. Oder die Diskussion über Nationalstolz, ab den 1980er-Jahren Slogan der Rechtsextremisten. Als der CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer 2001 öffentlich bekennt, er sei "stolz, ein Deutscher zu sein", handelt er sich von Jürgen Trittin die Bezeichnung "Skinhead" ein. Bundespräsident Johannes Rau schaltete sich mit der Bemerkung ein, man könne doch nur stolz auf etwas selbst Geleistetes sein.
"Du bist Deutschland. Du bist Deutschland!"
Diese Social-Marketing-Kampagne 2005/2006 sollte das neue deutsche Nationalgefühl unterstützen - laut Umfragen bei vielen positiv angekommen, aber auch heftig kritisiert. Die "taz" etwa titelte:
"Du bist von gestern!"
Der "Durchbruch", wenn man das so nennen möchte, gelang dann 2006, bei der Fußball-WM in Deutschland: Die Vereinigung von Ost und West hatte international auch Ängste vor der neuen mächtigen Nation ausgelöst. Umso wichtiger war es, dass sich das Land als freundlicher Gastgeber präsentierte. Dazu gehörte durchaus, dass die Deutschen ihre Nation feierten - frei von Skepsis und Skrupeln der Nachkriegsgeneration. Der Berliner Sportphilosoph Gunter Gebauer:
"Ich fand seit langer Zeit, dass in Deutschland auch so eine Art von gebändigtem Nationalstolz, oder wie immer man das nennen will, möglich sein soll, einfach die Erfolge ihrer Mannschaft mit dem Bild ihres Landes zu verbinden, ich finde, wenn man ein Fest hat und es geht um Nationalmannschaften, das find ich absolut nicht abartig, dass man ne Flagge schwenkt oder vielleicht, wenn man im Stadion sitzt, „Deutschland, Deutschland" brüllt, damit verbindet man ja nicht Gott weiß welche glühende Heimatliebe oder sonst etwas, ich finde das verkrampft, das hat meine Generation versucht sich vom Leib zu halten, das ist insofern eine dumme Haltung, als sie ja zum Ausdruck bringt, dass man letzen Endes sein eigenes Land doch lieben möchte. Bloß nicht den Weg dahin findet."
Regelmäßige Untersuchung zum nationalen Bewusstsein
Sozialwissenschaftliche Forschungen zeigten allerdings etwas Anderes: Bedeutend ist in diesem Zusammenhang die Langzeitstudie "Deutsche Zustände" des Bielefelder Konfliktforschers Wilhelm Heitmeyer zusammen mit anderen Soziologen und Psychologen, in der das nationale Bewusstsein seit 2002 regelmäßig untersucht wird. Bereits zur WM 2006 hatte Heitmeyer gesagt, dass dieser "neue Patriotismus" von politischen Themen und Engagement ablenke, gewissermaßen als neues Opium fürs Volk. Die Sozialwissenschaftler warnten daher vor jeglicher Unterscheidung zwischen gutem Patriotismus und bösem Nationalismus. Beides gehe Hand in Hand. Dagegen argumentiert der Bonner Politikwissenschaftler Professor Volker Kronenberg, auch in seinem Buch "Patriotismus 2.0 - Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland".
"Es gibt immer diese Grundsatzkonflikte oder Auseinandersetzungen, inwieweit das eine doch das andere mitbedingt oder nicht, ich vertrete da dezidiert eine andere Auffassung, dass man sehr genau doch unterscheiden soll, mit was man sich beschäftigt, und da würde ich reklamieren wollen, dass die deutsche Debatte nicht isoliert zu führen ist, sondern wir international uns diesen Debatten anschließen sollten, dass die Deutschen durch die Wiedervereinigung ein neues Verhältnis zu Nation und Nationalstaat zu finden hatten, und eben auch eine Nationalstaatlichkeit der Bundesrepublik im Westen seit sechs Jahrzehnten, die eine eigene Geschichte hat und die gerade übrigens ja von linksliberaler Seite heute als geglückte Demokratie begriffen wird, weil Demokratie und Republik im Sinne von res publica ja nichts ist, was sich von selbst versteht, sondern des freiwilligen Engagements der Bürgerschaft bedarf."
... und für Kronenberg ist genau das mit "Patriotismus" gemeint ...
"... das freiwillige solidarische Eintreten für das Gemeinwesen, für die Republik, ob man den Begriff nun will oder nicht, man muss es ja nicht Patriotismus nennen, aber ohne das, für das er steht, kann ein freiheitliches Gemeinwesen nicht funktionieren, das scheint mir sehr wichtig zu sein."
Doch hat die Bielefelder Langzeituntersuchung ja gerade gezeigt, dass das Werte-Fundament der Gesellschaft nicht stabil ist. Angesichts der Krise in Europa stehen gerade die bürgerlichen, "patriotischen" Kernnormen immer mehr zur Disposition, sagt Wilhelm Heitmeyer:
"Dazu gehört Solidarität, Fairness und auch Gerechtigkeit, und eine große Anzahl in der Bevölkerung ist der Auffassung, dass man die nicht mehr für realisierbar hält."
Ebenso wie seine Kollegen und Nachfolger in Bielefeld spricht Heitmeyer von einer zunehmenden "rohen Bürgerlichkeit", die zu einer "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" führt - man könnte auch sagen zu nationalistischen Verhaltensweisen:
"Wir haben ja nicht eine Krise, sondern wir müssen das ja im Plural sehen, und unter den Bedingungen von Krisen geraten insbesondere auch die mittleren Soziallagen unter Druck, wir haben es mit einem Prozess zu tun, wo der Aufzug für bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht mehr nach oben geht, sondern bestenfalls stagniert, und auf der anderen Seite können wir sehen, dass es sozialstrukturell eine Abwärtsmobilität gibt. Und das wissen wir auch aus historischen Gründen: Statusgefährdung oder Prestigegefährdung ist ein außerordentlicher Motor für Neid und auch für Abwertung anderer, da geht es ja darum, andere abzuwerten, um sich selbst aufzuwerten."
Ein Beleg dafür sind nicht zuletzt die Erfolge der Bücher von Thilo Sarrazin, beispielsweise "Deutschland schafft sich ab", die auf den fruchtbaren Boden der Ausgrenzung fielen.
Europäischer Patriotismus
Auch in Europa lässt sich beobachten, wie nahe sich Patriotismus und Nationalismus immer wieder kommen. Patriotismus stand als Ausdruck für demokratisches und bürgerschaftliches Verhalten an der Wiege der europäischen Nationalstaaten zu Zeiten der Französischen Revolution, und die spätere EU sollte einen europäischen Patriotismus befördern:
In der Präambel der Europäische Verfassung heißt es, dass Europa am stärksten sei "in der Gewissheit, dass Europa in Vielfalt geeint ist", zugleich auch, "dass die Völker Europas, stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte" seien.
Aber immer wieder und womöglich zunehmend macht sich ein aggressiver, fremdenfeindlicher Nationalismus in vielen europäischen Ländern breit, wie die Europawahl 2014 gezeigt hat. Und das nicht nur in Deutschland. Wenn Europa den einzelnen Nationen keine Sicherheit mehr bietet, dann funktioniert auch das übernationale "Projekt Patriotismus" nicht, weil Menschen in Angst sich auf Vertrautes, das "Eigene" zurückziehen - und alles Fremde abwehren.