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Schwerpunktthema: Zwischen Model-Phantasien und schulischem Erwartungsdruck

Zwei Stunden schminken morgens vor der Schule? Junge Frauen übertreiben es in letzter Zeit schon mal gerne mit der Schminke. Doch nicht nur im Schminken sind sie stark, auch in der Schule sind die jungen Mädchen von heute längst an den Jungs vorbeigezogen. Es scheint als stünden vielen Mädchen heute alle Türen offen. Doch häufig trügt der Schein.

Von Anja Arp |
    In der professionellen Model-Szene spielt Heidi Klum´s Fernseh-Show "Germanys Next Top Model" keine Rolle. Doch bei jungen Mädchen ist die Serie super beliebt. Allein zur 5. Staffel haben sich über 23.000 Mädchen beworben. Die 14-jährige Vanessa aus München ist auch ein Fan - aber:

    ""Eigentlich habe ich jede Staffel gesehen, aber also die letzte, langsam finde ich es ein bisschen bekloppt. Also ich finde es ein bisschen übertrieben, die werden immer dünner und ich finde es nicht so toll."

    Vanessa distanziert sich inzwischen von der beliebten Model-Show, bei der es vor allem darum geht, gut auszusehen. Obwohl das auch Vanessa sehr wichtig ist:

    ""Ich habe ungefähr 30 verschiedene Nagel-Lacke zu Hause und das macht auch total viel Spaß und meine Haare tönen, da habe ich auch schon alle Farben ausprobiert – außer blond","
    sagt die momentan kastanien-braun getönte Vanessa aus München. Die 14-jährige hat strahlend blau lackierte Nägel und trägt beim Interview ein hautenges schwarzes T-Shirt-Kleid und dazu Leggings:

    """Also manchmal – wenn ich zunehme zum Beispiel und andere vielleicht sagen: Ja sie sind zu dick oder sie haben total die tolle Figur, dann nervt mich das schon manchmal. Aber ich versuche mit meinem Körper zufrieden zu sein – ja im Großen und Ganzen bin ich zufrieden."

    Mädchen von heute stehen unter einem enormen Druck. Wenn sie erfolgreich durchs Le-ben gehen wollen, dann müssen sie vielen verschiedenen Anforderungen gleichzeitig ge-recht werden. Soziologen wie Dr. Claudia Wallner aus Münster sprechen dabei von so-genannten additiven Mädchenbildern:

    "Das Mädchenbild hat sich gewandelt und es hat sich gleichzeitig auch nicht gewandelt. Man kann sagen, dass es sich im Grunde verdoppelt hat. Also wir haben die alten Mäd-chenbilder immer noch von den süßen Mädchen, wir haben noch Hannah Montana und wir haben noch die Barbie-Puppe und wir haben noch die Lilli-Fee auf der einen Seite. Aber wir haben sozusagen auch ganz neue Bilder von frechen Mädchen, von durchsetzungs-fähigen Mädchen, von coolen Mädchen. Insofern haben wir sozusagen nicht einen Wandel, sondern wir haben eine Addition von den alten typischen Mädchenbildern, um neue mo-dernere Mädchenbilder, die aber sehr stark angelehnt sind eigentlich an die alten coolen jungen Bilder."

    Zahlreiche Studien belegen, dass Mädchen in der Schule längst an den Jungs vorbei-gezogen sind und die besseren Noten nach Hause bringen. Doch dafür bekommen sie kaum Anerkennung. Lob und Aufmerksamkeit ernten sie – wie früher - vielmehr für ihr Aussehen. Vanessa über ihr Outfit:

    "Zufriedenstellend aber nicht perfekt. Ich bin 1,75 groß, habe schöne blaue Augen, wo ich auch oft drauf angesprochen werde, und habe halblange Haare - braune."

    Perfektion - das leben viele Models, Sängerinnen und Schauspielerinnen in den Medien vor – dem Bildbearbeitungs-Programm Photoshop sei Dank. Und dementsprechend streben viele junge Mädchen ein perfektes Outfit an. Von solchen Idealen kann man sich vor allem als ganz junge Teenagerin nur schwer befreien. Die heute 18-jährige Clara aus Bonn kann sich gut erinnern:

    "Im Vergleich zu heute war ich unsicherer und habe mir mehr Gedanken gemacht. Und ich glaube, ich habe mich damals auch mehr geschminkt. Und man ist viel, also weniger selbstbewusst ja."

    Clara hat naturblonde Haare und kommt gänzlich ungeschminkt daher. Ein enges tief aus-geschnittenes T-Shirt und eine ebenfalls enge Jeans betonen ihren runden weiblichen Typ. Damit entspricht sie natürlich nicht dem vorgegebenen Garde-Maß in der Model-Welt:

    "Früher war ich, also, gerade auch in Bezug auf meinen Körper hatte ich auch eher, also nicht richtige Komplexe, aber man möchte natürlich schon ganz viel ändern. Und heute denke ich halt, ich habe das, was ich habe. Und damit muss ich klarkommen. Und ich komme auch gut damit klar. Und das hat sich auf jeden Fall sehr stark geändert. Und ich glaube, bei mir war das noch relativ schwach ausgeprägt. Aber wenn ich jetzt ganz viele andere Freunde sehe oder auch jüngere Mädchen. Was die jetzt mittlerweile alles machen in der sechsten Klasse, die sich schon total überschminken und aussehen wie kleine Businessfrauen. Dann ist das schon sehr übertrieben, mittlerweile, finde ich."

    Auch sehr junge Mädchen inszenieren heute ihren Körper ganz selbstverständlich. Das wird ihnen teilweise sogar schon in die Wiege gelegt: Damit das Baby schon mal lernt, was das Mädchen hinterher auf jeden Fall tragen sollte, gibt es inzwischen Pumps für bis zu sechs Monate alte Babys. Die kleinen Mädchen müssen mit den hohen Absätzen ja noch nicht laufen, sondern nur im Kinderwagen sitzen. Da wundert es kaum, dass selbst 12-jährige Mädchen heute schon vom Scheitel bis zur Sohle gestylt in den Unterreicht kommen:

    "Der Regelfall ist auf jeden Fall, wirklich dieses totale immer top aussehen und immer topgestylt und keine großen Pullis, alles eng und alles kurz und alles klein. Und das ist im Prinzip dieses, was immer mehr hervorkommt."

    Das war nicht immer so. Es gab auch Zeiten, da wollten Mädchen vor allem frech und un-erschrocken sein:

    "Die Girlies waren ein Schritt auf dem Weg zu diesen modernen, additiven Mädchen-bildern. Weil das so die ersten Frauen waren, Madonna war ja so eine Cindy Lauper, Tictactoe damals. Wenn man sich überlegt, was es in den 80er-Jahren, 90er-Jahren für Auf-stände waren, als die so frech aufgetreten sind. Das waren die ersten Ansätze im Übergang zu neuen, modernen Bildern. Insofern würde ich sagen, das Girlie ist so ein Zwischen-stadium gewesen, die aber heute auch passé sind."

    Mädchen von heute, so die Soziologin, sind in der Regel viel angepasster. Junge Teenager wie Vanessa sind vor allem auf der Suche. Sie wollen ihren Platz in der Gesellschaft finden. Deshalb ist der Anpassungsdruck in diesem Alter besonders groß. Soziologen und Psycho-logen sprechen in dem Zusammenhang auch von Normalitätsdruck:

    "Ich will in diese Gesellschaft passen, also muss ich normal sein, ich muss so sein wie die anderen. Und wenn dann die Vorgaben eben ganz klar in eine Richtung gehen, in schlank und in groß und ich weiß nicht was, also alle diese Rollenklischees. Dann ver-suchen die Mädchen, sich danach zu strecken. Insofern ist es bei den Mädchen unter Um-ständen gar nicht so was Selbstgewünschtes, selbst gewähltes. Was man dann ja auch gerne, so in biologische Erklärungen hört. Die Mädchen wollen eben gerne mit Glitzer rum-laufen, sondern es ist einfach der Wunsch, so zu sein wie alle und der Wunsch, dazuzu-gehören."

    Wer dazugehören will, der muss halt dem aktuellen Ideal entsprechen. Und Schönheit scheint da wieder eine wichtige Rolle zu spielen. Auf gertenschlanke, bildschöne Mädchen trifft man in allen Medien, egal ob man sich Zeitschriften wie "Bravo" oder "Mädchen" oder die ganzen Vorabend-Serien anschaut.

    Gleichzeitig sind Mädchen in der Schule besser als ihre männlichen Kollegen. Immer wie-der ist deshalb von den neuen Alpha-Mädchen die Rede, also von den Mädchen, die das Ruder in die Hand nehmen und die Richtung bestimmen.

    "Ich finde, das ist ein gefährlicher Trend in den Medien gerade. Diese Alphamädchen so nach vorne zu stellen, um damit den Eindruck zu erwecken, dass Mädchen generell heute es sozusagen geschafft haben, dass ihnen alle Türen offenstehen, dass sie erreichen kön-nen, was sie wollen. Das ist zum einen gefährlich, weil eigentlich geht es nur um die schu-lische Bildung und da um den Gesamteindruck. Dass die Mädchen besser sind im Durch-schnitt als die Jungs. Aber das wird sozusagen stilisiert zu einem Großbild von Mädchen oder von Lebenslagen von Mädchen, der sagen will, dass es den Mädchen eben insgesamt besser geht als den Jungs. Und das stimmt natürlich nicht."

    Dass Mädchen in der Schule besser sind, ist keine neue Erkenntnis. Das weiß man seit Jahren. Doch für die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungs hat das keine nach-haltige Wirkung. Denn letztendlich haben Jungs dann doch die Nase vorn:

    "Sie sind nichtsdestotrotz in den oberen Leistungssegmenten weiterhin besser als die Mädchen. Und die Jungens lernen in der Schule eher technische und mathematische Fä-cher und Inhalte, und die Mädchen lernen eben weiter Sprachen und Kunst und musische Fächer. Und da kann man natürlich auch nicht davon sprechen, dass das alles Alpha sei."

    Wirklich starke Alpha-Mädchen und Vorbilder wie Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertocher gibt es im Kindesalter, aber dann brechen diese Vorbilder weg. An ihre Stelle treten bei vielen jungen Mädchen andere Werte:

    "So meine Freundinnen, viele haben auch so Bauchnabel-Piercing oder so, weil sie es schön finden schon mit 13 oder so oder mit 12 und auch so künstliche Fingernägel, manchmal auch so French-Nägel so gemacht im Nagelstudio sogar manche und ja, das mache ich jetzt nicht. Ich finde das ein bisschen übertrieben."

    Wie viele Mädchen empfindet die 14-jährige Vanessa den Druck, gut auszusehen, als groß. Sie lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter in München. Bei der gelernten Kosmetikerin holt sich das modebewusste junge Mädchen auch schon mal einen Schminktipp. Und shoppen gehen gehört natürlich auch zu einem richtigen Mädchen-Alltag dazu:

    "Bei mir muss es vor allem bunt sein, damit es mir nicht langweilig wird, weil sonst trage ich sie nur eine Woche und dann muss ich sie wieder wegschmeißen und das ist ja auch doof."

    Besonders wichtig ist ihr offenbar der Wohlfühl-Faktor:

    "Ich ziehe gerne körperbetonte Sachen an, also ich fühle mich wohl darin."

    Die 18-jährige Clara, die als junges Mädchen ziemlich verunsichert war, geht heute in die 13. Klasse und macht einen selbstsicheren Eindruck. Sie ist bei ihrer alleinerziehenden Mutter in Bonn aufgewachsen.

    "Ich denke, ich bin da auch ziemlich gut beeinflusst von meiner Mutter, muss ich sagen. Ich weiß gar nicht, woran das liegt, dass mein Selbstbewusstsein ein bisschen mehr nach oben gegangen ist. Vielleicht auch, dass man einfach mehr Bestätigung bekommt, auch von anderen Seiten. Ja, so was in der Richtung."

    Im Vergleich zu früher haben Mädchen heute in der Regel viel mehr Möglichkeiten ihren Lebensweg selbst zu bestimmen. Dennoch bestehen die alten Rollenklischees nach wie vor:

    "Und das heißt zum einen, dass Mädchen deutlich weniger leistungsorientiert lernen, deutlich weniger auf Karriere orientiert sich ausrichten in ihrem Leben, immer noch sehr viel stärker auf die klassischen weiblichen Werte ausgerichtet sind. Auf Sozialverhalten, auf Sorge, auf Familie, auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die letzten Shell-Studien haben das auch wieder herausgefunden. Und alles, was wir an Wertestudien haben, in den letzten 10, 15 Jahren, zeigen immer wieder das gleiche Bild. Die Jungs sind auf Macht und Einkommen orientiert, und die Mädchen sind auf soziale Faktoren orientiert. Immer noch. Also sehr klassisch rollenorientiert. Und das sind natürlich nicht die Orientierungen, die dazu führen, dass Frauen Karriereleitern erklimmen."

    Auch wenn häufig der Eindruck entsteht, den jungen Mädchen von heute stünden alle Tü-ren offen: Die Wirklichkeit sieht anders aus. Oft ist die Rollenvielfalt mehr Schein als Sein. Vielfach kehren die alten Stereotypen zurück:

    "Wenn wir in die Medien reingucken, dann sehen wir diese ganzen hippen Mädchen, die in den Musikkanälen die Sendungen moderieren, wir sehen sie in den Vorabend-Soaps, die ja viel von Jugendlichen geguckt werden. Diese mutigen und starken und coolen Mädchen, die sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen. Aber wir sehen auch gleichzeitig oder das ist das, was wir weniger sehen, dass die alten klassischen Mädchenwerte eben ganz stark auch weiter vermittelt werden. Sodass wir heute sagen müssen oder immer noch sagen müssen, das, was wir so medial auf der Oberfläche wahrnehmen von Veränderung und Gleichberechtigung, das bewegt sich sehr an der Oberfläche und bezieht sich tatsäch-lich auf Bilder oder auf Verhaltenskodexe an Mädchen und an Jungen. Das hat aber nicht viel zu tun mit den harten Fakten der Realität."

    Und das wiederum heißt, die Mädchen von heute müssen viele Widersprüche aushalten:

    "Die Mädchen können nicht auf der einen Seite sanftmütig und süß sein und auf der anderen Seite durchsetzungsfähig und cool. Trotzdem ist es genau das, das was von ihnen erwartet wird. Und das ist gerade für jugendliche Mädchen eines der größten Be-wältigungsthemen im Übergang zum Erwachsenenwerden. Wie kann ich denn ein richtiges modernes Mädchen sein, wenn ich doch merke, ich kann diese widersprüchlichen und sehr vielfältigen Anforderungen eigentlich gar nicht alle in mir vereinbaren und alle gar nicht bewältigen kann."

    Viele halten dem Druck auch nicht stand und entwickeln zum Beispiel Essstörungen. An-dere reagieren sich ab, indem sie über ihre Mitschüler lästern oder sie sogar mobben. Und wieder andere versuchen trotzdem, dem perfekten Anspruch zu genügen. Claudia Wallner:
    "Wo es vor zehn Jahren noch um Diäten ging oder um Hungern oder um Tabletten neh-men, um dünner zu werden, ist heute eine Schönheitsoperation inzwischen bei den 17-, 18-jährigen zumindest in der Vorstellung gang und gäbe. In der Realität inzwischen auch schon bei zehn bis 20 Prozent in dieser Altersklasse. Das heißt, auf der einen Seite gibt es tatsächlich noch mal eine Druckerhöhung an dieses klassische Schönheitsideal an die Mädchen. Und da sind wir wieder in ganz klassischen Rollenzuschreibungen von Weiblich-keit."

    Die Soziologin plädiert dafür, die Geschlechter nicht gegeneinander auszuspielen. Das bringt in ihren Augen weder für die Entwicklung der Mädchen noch für die Entwicklung die Jungs etwas. Viel wichtiger sei es, die Lebenswirklichkeit der Jungendlichen unter die Lupe zu nehmen. Und da spielen Faktoren wie Armut und Bildung nach wie vor eine wichtige Rolle.

    "Und der dritte Teil ist, dass wir aufhören müssen, über diese Bildungsdebatte und diese Alphamädchendebatte zu negieren, dass in wesentlichen gesellschaftlichen Be-reichen Frauen und Mädchen immer noch deutlich unterprivilegiert sind. Und da muss auch Frauenpolitik und Gleichberechtigungspolitik wieder ran und an diesen Stellen weiter-arbeiten. Das ist der Auftrag, den die Bundesregierung hat. Auch unter dem Gleich-berechtigungsgrundsatz des Grundgesetzes und auch unter den Vorgaben des Gendermainstream."

    Literatur:

    Doris Katheder: "Mädchenbilder in deutschen Jugendzeitschriften der Gegenwart"

    Waltraud Posch: "Projekt Körper – Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt"

    Claudia Wallner: "Mädchenbilder heute und ihre Bedeutung für die Mädchenarbeit"