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Schwierige Wahl

Medizin. - Jedes Jahr stellen die Weltgesundheitsorganisation und andere Fachstellen den Mix des Grippeimpfstoffs zusammen, der gegen die voraussichtlichen Erreger der kommenden Grippewelle immunisiert. Der wird dann großtechnisch hergestellt und geimpft. Falls die Mexikanische Grippe sich zur Pandemie auswachsen sollte, könnte die Produktion umgestellt werden, allerdings wäre dann für die nächste normale Grippewelle kein Impfstoff vorhanden.

Von Martin Winkelheide |
    Der Erreger der Mexikanischen Grippe ist ein neues Virus, so Professor Otto Haller, Direktor der Abteilung für Virologie der Universität Freiburg.

    "Jeder von uns ist sozusagen empfänglich – immunologisch gesehen. Wir haben nicht schon eine erworbene Immunität gegen dieses neue Grippevirus."

    Das Immunsystem eines Menschen, der sich schon einmal mit einem anderen H1N1-Influenza-Virus angesteckt hat, würde das Virus womöglich nicht erkennen.

    "Der Aufbau und die einzelnen Bestandteile sind natürlich ähnlich. Es ist immer noch ein Influenza-Virus. Aber die spezifischen Komponenten, die das Immunsystem erkennt, sind eben neu."

    Es muss also auch ein neuer Impfstoff entwickelt werden. Er soll zwei Dinge leisten: Zum einen jeden einzelnen Geimpften vor einer Ansteckung mit der Mexikanischen Grippe schützen – zumindest aber den Krankheitsverlauf abmildern. Und zum andern soll die Schutzimpfung die Ausbreitung des neuen Virus verhindern. Die Impfstoffentwicklung läuft in mehreren Schritten ab.

    Schritt Nummer eins: Das neue Virus wird isoliert.

    Das neue Virus ist bekannt. Es wurde bereits aus Patientenproben gewonnen. Auch die genetischen Eigenschaften des neuen H1N1-Virus haben Forscher bereits beschrieben.

    Schritt Nummer zwei: Aus dem krank machenden Virus wird ein Impfvirus.

    Ein Impfstoff muss sicher sein. Daher werden für die Impfstoffentwicklung spezielle Grippe-Virus-Stämme verwendet. Alle krank machenden Eigenschaften sind entfernt. In das Erbgut dieser abgeschwächten Grippe-Viren wird Erbinformation des neuen H1N1-Virus eingebaut – vor allem die Erbinformation, die wichtig ist für den Aufbau der Virushülle. Damit das Immunsystem von Geimpften lernen kann, zielgenaue Abwehrmoleküle gegen den Erreger zu bilden.

    "Dieser Prozess wird im Moment schon begonnen und bedeutet, dass wir im Rahmen von zehn, zwölf Wochen zu einem potenziellen Impfvirus kommen werden."

    Professor Klaus Cichutek, stellvertretender Direktor des Paul-Ehrlich-Instituts in Langen bei Frankfurt.

    Schritt Nummer drei: Das Impfvirus wird vermehrt zu "Saatvirus".

    Cichutek:

    "Also schon eine mittlere Menge von Virus, die sehr gut auf – entweder Hühnerei wächst oder auf bestimmten Säugetierzellen, die beide geeignet sind, eine große Menge Impfvirus da zu haben."

    Schritt Nummer vier: Von der Saat - zur Ernte.

    Mit diesem Saatgut können dann wieder routinemäßig sehr große Chargen von Impfstoff hergestellt werden. Der Impfstoff selber enthält dann nicht mehr Impfvirus sondern entweder inaktiviertes Virusmaterial oder gar nur die relevanten Antigene nämlich das H- und das N-Protein.

    Schritt Nummer fünf: Der Impfstoff wird von den Behörden zugelassen.

    Eine Impfung soll vor einer Infektion schützen, aber keine unerwünschten Nebenwirkungen haben. Cichutek:

    "Normalerweise müsste ein ganz neuer Impfstoff erst eine lange Phase von mehreren klinischen Prüfungen durchlaufen, der Unternehmer müsste seine Herstellung erst langsam anpassen und upscalen. Und das sind Schritte, die kann man niemandem im Falle einer Pandemie zumuten, und deswegen haben wir vorausgedacht."

    Impfstoffhersteller haben bereits Pandemie-Impfstoffe entwickelt und klinisch getestet. Sie sollen vor dem Vogelgrippe-Virus H5N1 schützen. Es sind so genannte Muster-Impfstoffe. Cichutek:

    "Es stehen momentan vier Zulassungen zur Verfügung. In diesen Zulassungen wird im Detail die Qualität und Herstellung von pandemischen Impfstoffen an Hand zum Beispiel des H5N1-Stammes beschrieben. Es sind klinische Studien durchgeführt worden, so dass wir wissen, dass die Sicherheit und die Wirksamkeit dieser Impfstoffe sehr gut ist."

    Im Falle einer Pandemie kann das Muster-Virus H5N1 ausgetauscht werden, zum Beispiel gegen das neue H1N1-Virus. Der Vorteil: ein neu entwickelter Impfstoff kann innerhalb kürzester Zeit von den Behörden zugelassen werden. Nach sechs Monaten bereits könnten also die ersten Menschen gegen das neue Influenza-Virus geimpft werden, schätzt Klaus Cichutek.

    "Insgesamt bei diesen Schritten reden wir von Zeiträumen von zwölf Wochen dann bis zum Saatgut, zwölf Wochen dann, bis wir die erste Charge eines Impfstoffes haben, und zwölf Wochen, bis zum Beispiel die Bevölkerung in Deutschland zwei Mal geimpft wurde und einen ausreichenden Impfschutz hätte gegen das kursierende – in diesem Fall das mexikanische Grippevirus."

    Forscher weltweit arbeiten bereits an der Entwicklung einer Schutzimpfung gegen H1N1. Ob der Impfstoff aber produziert werden wird, das ist noch nicht entschieden. Otto Haller von der Universität Freiburg:

    "Wir hoffen ja alle, also das hoffe ich doch auch, dass sich das Virus wieder verliert. Aber aus der Erfahrung wissen wir, dass dem wohl kaum so ist. Dass das Virus dann schon über den Erdball hinwegfegt. Insofern wäre es schon gut, einen Impfstoff zu haben. Aber die Entscheidung nun, wirklich loszulegen, hat natürlich Konsequenzen. Weil im Moment wir ja die Impfstoffe für die saisonale Grippe erzeugen."

    Die Impfstoffe gegen die jährliche Grippe, die saisonale Influenza werden jedes Jahr auf die jeweils kursierenden Grippestämme angepasst. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat sich bereits festgelegt: Der Impfstoff für die kommende Grippe-Saison soll vor einem Influenza B-Virus-Stamm und zwei Influenza-A-Stämmen schützen: vor einem gängigen H1N1 sowie H3N2. Das Problem: Die Schutzimpfung gegen die saisonale Grippe kann nicht so erweitert werden, dass sie auch vor der Mexikanischen Grippe schützt. Vor dem neuen H1N1-Virus könnte nur der Impfstoff zuverlässig schützen, der gerade entwickelt wird. Cichutek:

    "Zu irgendeinem Zeitpunkt müssen wir international entscheiden, ob wir die saisonale Impfstoffherstellung umstellen wollen auf eine pandemische Impfstoffherstellung. Dazu muss der Pandemiefall eingetreten sein und andere Voraussetzungen gegeben sein. Und wenn das dann so ist, würde tatsächlich konkret und sehr schnell die Impfstoffproduktion umgestellt vom saisonalen auf den pandemischen Impfstoff, und der würde dann auch konkret verimpft, um uns zu schützen vor einer Welle von Infektionen mit dem pandemischen Virus."

    Die Impfstoffhersteller produzieren also entweder den saisonalen Impfstoff oder einen pandemischen Impfstoff, betont Klaus Cichutek vom Paul-Ehrlich-Institut.

    "Man kann nicht beides gleichzeitig machen, weil die Kapazitäten nicht vorhanden sind. Impfstoffproduktion ist schon High-Tech, braucht große Anlagen, braucht sehr viel Geld. Das könnte man nicht machen."

    Sollte also entschieden werden, einen pandemischen Impfstoff zum Schutz vor der Mexikanischen Grippe zu produzieren, dann bedeutet das: Im Herbst, zu Beginn der saisonalen Grippe-Welle könnte es zu einem Versorgungs-Engpass mit dem saisonalen Impfstoff kommen. Cichutek:

    "Genau das ist ja der Diskussionspunkt: Wo haben wir mehr Schaden, mehr Bedrohung für die Bevölkerung zu erwarten? Von dem Virus, was als pandemisches Virus kursiert, oder von den Viren, die als saisonale Viren später im Jahr uns bedrohen werden?"