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"Schwimmen mit Elefanten"
Der kleine Großmeister

Im Schach ist der Turm eine schwerfällige, starke Figur wie der Elefant, aus dessen Bild sich die Figur entwickelt hat. Rund um das königliche Spiel hat Yoko Ogawa ihren Roman "Schwimmen mit Elefanten" entwickelt, der in Japan zu ihrem erfolgreichsten Buch werden sollte.

Von Simone Hamm |
    Als er geboren wurde, waren die Lippen des kleinen Jungen zusammengewachsen. Und sein Leben lang wird der Junge nie mehr sprechen als irgend nötig. Er wächst bei seinen Großeltern auf. Seine Freunde stammen meist aus dem Reich der Imagination so wie die Elefantenkuh, die auf der Terrasse eines Kaufhauses lebte. Dort war sie dick und rund geworden, so rund, dass sie nicht mehr in den Aufzug passte und bis zu ihrem Tode auf dem Dach bleiben musste. Der Junge hat sie nie gesehen und doch träumt er davon, mit der Elefantenkuh zu schwimmen.
    "Schwimmen mit Elefanten" heißt der jetzt in deutscher Sprache erschienene Roman von Yoko Ogawa. Der scheue Knabe lernt einen ehemaligen Busfahrer mit einer Vorliebe für Süßes kennen. Weil dessen Bauch nicht mehr unters Lenkrad passt, lebt er zurückgezogen mit seiner schwarz-weißen Katze in einem ausrangierten Bus. Er begeistert den Jungen fürs Schachspiel.
    "Der Meister hatte sich stets geduldig gezeigt, nie hatte er unwirsch reagiert oder mich gedrängt. Er war mein Leitstern, immer einige Schritte voraus. Aber er hat still auf mich gewartet und mir den Weg gewiesen. Ohne sich zu brüsten, blieb er bescheiden im Hintergrund. Um seine Gefühle zu verbergen, hat er Unmengen von Kuchen in sich hineingestopft, und daran ist er dann gestorben."
    Der Junge sagt sich, dass es besser sei, nicht größer und nicht runder zu werden. Man käme dann nicht mehr vom Dach herunter oder aus dem Bus heraus und müsse kläglich sterben. Mit elf Jahren beschließt er, nicht mehr zu wachsen. Fast beiläufig erzählt Ogawa von diesem großen Schritt, als sei er etwa so folgerichtig, wie endlich zu lernen, Fahrrad zu fahren.
    Es ist dieses Beiläufige, Unaufgeregte, Unprätentiöse das die Romane von Yoko Ogawa so großartig macht. Sie kann die einfachsten Dinge im alltäglichen Leben mit ungeahnter Bedeutung aufladen, schreckliche Geheimnisse andeuten und dann wieder mühelos darüber hinweggehen. Wir ahnen mehr, als wir erfahren.
    Wie in all ihren Roman hat Yoko Ogawa auch in "Schwimmen mit Elefanten" ihren ganz eigenen Orbit geschaffen, in den der Leser immer tiefer hineingezogen wird. Die Personen in "Schwimmen mit Elefanten" sind sehr warmherzig porträtiert.
    Während einer Schachpartie kann der Junge sich am besten konzentrieren, wenn er unter dem Schachbrett sitzt. Genau das wird seinen weiteren Lebenslauf bestimmen. Er wird, klein wie er ist, in eine Puppe klettern und als Schachapparat gegen Menschen spielen. In einem ehemaligen unterirdischen Schwimmbad, im Schachklub am Grunde des Meeres. Man nennt ihn den kleinen Aljechin nach dem großen russischen Schachgroßmeister Alexander Alexandrowitsch Aljechin. Seinen wahren Namen erfahren die Leser nicht.
    Nicht von dieser Welt
    Beim Schachspielen braucht er eine Gehilfin, die die Figuren versetzt. Als man ihm ein schmales, bleiches Mädchen mit einer Taube auf der Schulter vorstellt, ist er sicher, sie zu kennen. Sie ist eine andere Freundin aus seiner Imagination. Sie hat in einem Häuserspalt gelebt und er hat sie Miira genannt. Das ist das japanische Wort für Mumie.
    "In den schmalen Spalt zum Nachbarhaus passte gerade einmal eine Hand hinein. Tief darin herrschte eine schaurige Finsternis, und einer alten Legende zufolge soll einmal ein Mädchen in den Spalt geraten sein. Das Mädchen ist nie wieder aufgetaucht, obwohl die besorgten Eltern überall nach ihm gesucht hatten. Irgendwann ist aus dem Mädchen eine Mumie geworden, die bis heute zwischen de Häusern herumspukt."
    Wie Märchenfiguren muten die Protagonisten aus "Schwimmen mit Elefanten" an. So zart sind sie gezeichnet, so sanft und freundlich und irgendwie nicht von der Welt sind sie.
    "Wenn sie aus dem Hotel traten, verschwamm Miiras Silhouette derart, dass er befürchtete, die könne zwischen Tag und Morgen lautlos aufgesogen werden. Nur das Weiß der Taube schimmerte hell."
    Sie sind allesamt Traumgestalten, irreal. Auch dem Busfahrer haftet etwas Unwirkliches an. Bei Ogawa ist der dicke Mann, wie er sich da an seinen Möbeln vorbei drückt, niemals lächerlich. Er ist freundlich, melancholisch und die Freundschaft zwischen dem stillen Kind und dem unentwegt Kuchen backenden Mann ist eine ganz besondere.
    Als er stirbt, kann die riesige Leiche nicht aus dem Bus geholt werden. Der Junge sieht die schwarz-weiße Katze davon springen. Für Immer. Als ahne sie das blanke Entsetzen, dass hereinbrechen wird nach dem idyllischen Zusammensein der drei im ausrangierten Bus.
    Zartes Grauen
    Selbst als das Grauen in die so mühsam austarierte heile Welt hereinbricht, als aus dem Traum ein Albtraum geworden ist, bleibt Ogawas Sprache ganz prosaisch. Ein Umstand kann noch so grotesk sein, bei ihr kommt er ganz leise daher. Und genau dadurch gelingt es ihr, die gewohnte Wahrnehmung, den üblichen Blick zu zerstören. Die absurdesten Situationen, die schrecklichsten Ereignisse schildert sie leicht, fast kühl.
    Man lässt einen Kran kommen, um den Bus zu zerstören. Als sich Gaffer mit Operngläsern und Fernsehteams mit Kameras und Scheinwerfern vor dem Bus drängen, fühlt der Junge sich hilflos.
    Yoko Ogawa notiert auch diese bizarre Situation knapp und distanziert.
    Man fühlt sich an die Filmszene aus "Irgendwo in Idaho" erinnert, als Gilbert alles tut, um die verstorbene fettleibige Mutter nicht noch im Tode der Lächerlichkeit auszusetzen. Er zündet mit seinen Geschwistern das Haus an, damit kein Kran kommen, kein Fernsehteam das Spektakel aufzeichnen kann.
    Bei Yoko Ogawa müssen die Leser ein solch grausames Spektakel ertragen. Ihre Erzählweise bleibt kontrolliert. Präzise beschreibt sie die zarten Gefühle des Knaben. Leicht und mühelos, ohne starke Adjektive, ohne jegliche Sentimentalität, fast ein wenig glatt schildert sie den Abtransport der Leiche, und gerade dadurch ist die Szene fast unerträglich für den Jungen (und die Leser) - und wirkt umso stärker. Ihre Bilder sind beklemmend stark. Und wirken lange nach.
    Das Grauen ist unterschwellig immer vorhanden in "Schwimmen mit Elefanten". Irgendwie fühlt man sich selbst in der schönsten Landschaft nicht wohl und möchte am liebsten unter den Tisch kriechen wie der Junge. Und irgendwie traut man auch nicht der Schönheit des Spiels, um das sich hier doch alles dreht: des Schachspiels.
    Wenn er während einer besonders gelungenen Partie unterm Tisch sitzt, überkommt den Jungen bisweilen ein sonderbares Gefühl:
    "Er war in einem Meer geschwommen, das sich auf dem Dach des Kaufhauses befand ... Neben ihm, mit flatternden Ohren und schwingendem Rüssel, paddelte der Elefant, ohne seine eiserne Fußfessel, losgelöst vom Betondach des Kaufhauses. Und Miira schwamm in einer riesigen Luftblase an Indiras Seite. Der Ozean des Schachs dehnte sich endlos aus und war unermesslich tief, aber sie hatten nichts zu befürchten."
    Der Junge glaubt, das Schachspielen sei eine Möglichkeit, ganz frei zu sein und losgelöst. Er glaubt, er könne alle Fesseln hinter sich lassen und ohne Angst mit seinen Freunden schwimmen.
    Doch das ist nur ein Traum.
    Ein betrunkener Schachspieler zerstört die Schachpuppe und der Junge muss - statt in die Puppe zu klettern - ein Schachspiel mit lebendigen Figuren dirigieren, das auf dem gekachelten Boden eines ehemaligen Schwimmbades stattfindet. Das Mädchen Miira aus dem Spalt ersetzt eine kranke Spielerin. Sie ist ein Bauer, den der Junge opfert.
    Bis zum grausamen Ende
    Und das, was bei Yoko Ogawa als völlig harmloses Spiel begonnen hat, endet grausam. Sie ändert ihre Sprache kaum, bleibt ruhig, distanziert. Da fließt kein Blut, da fließen zunächst noch nicht einmal Tränen. Langsam steigert sie die Spannung. Und in einem einzigen, unauffälligen Halbsatz fasst sie das Schaudern zusammen:
    "Der Dame das Feld überlassend glitt Miira wie ein weißer Kieselstein, der über die Wasseroberfläche schlittert, über das verwaiste Spielfeld, auf dem nur noch wenige Figuren standen ... Als (d)er (Junge), nachdem alle Zuschauer den Saal verlassen hatten, an die Tür der Männerumkleide klopfte, hielt ihn der Generalsekretär zurück ... Traurig wollte der Junge sich auf den Heimweg machen. Doch als er gerade im Begriff war, die Wendeltreppe hinaufzusteigen, hörte er ein seltsames Geräusch, nicht besonders laut, eher zurückhaltend, aber so eindringlich, dass der Junge stehen blieb und horchte.
    Der Generalsekretär hatte gelogen, als er behauptet hatte, es gäbe, verglichen mit der grenzenlosen Freude, die einem das Universum des Schachs bereite, nichts anderes, was von Bedeutung sei. Denn beim Lebendschach genoss man die eigentlichen Freuden nicht auf dem Spielfeld, sondern erst hinterher in der ehemaligen Männerumkleide."
    Für den Jungen ist das, was er unwissentlich getan hat, unentschuldbar. Weil er den Bauern, den Miira dargestellt hatte, geopfert hatte, war ihr Leid angetan worden. Er schämt sich. Er flieht aus dem Schachklub am Grunde des Meers.
    Der tieftraurige Roman Yoko Ogawas ist ein Roman über eine nie gelebte Liebe, eine ungestillte Leidenschaft, ein Roman über Ehre und Schuld und gutes Benehmen, und wie es einen daran hindern kann zu leben und zu lieben.
    Yoko Ogawa: "Schwimmen mit Elefanten"
    Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Liebeskind. 320 Seiten. 19,80 Euro