Mindestens vier Menschen sind an einem einzigen Juni-Wochenende allein in Nordrhein-Westfalen ertrunken. Einige von ihnen badeten in einem Baggersee, andere im Rhein. Es sind keine ungewöhnlichen Meldungen, jeden Sommer kommt es in Deutschland zu zahlreichen Badeunfällen wie diesen.
Die meisten solcher tödlichen Unfälle ereignen sich an unbewachten Naturgewässern, warnt die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG.) Selbstüberschätzung ist eine der Ursachen für das Ertrinken, die nachlassende Schwimmfähigkeit der Bevölkerung eine andere.
Experten bereitet es deshalb besondere Sorgen, dass Schwimmbäder dichtmachen und Schwimmkurse für Schulkinder wegfallen. Die Pandemie hat diese Entwicklung noch verschärft: Die Zahl der Grundschülerinnen und -schüler, die nicht schwimmen können, ist gestiegen.
Doch nicht nur Kinder können schlechter schwimmen. Auch bei Erwachsenen beobachtet die DLRG diesen Trend, den sie auch auf die fehlende Übung in den Coronajahren zurückführt. Fast täglich muss sie Leben retten.
Warum gibt es so viele Badeunfälle in Seen und Flüssen?
Im Jahr 2022 ertranken mindestens 355 Menschen in Deutschland, dokumentiert eine Statistik der DLRG. Das sind 56 Todesfälle mehr als im Vorjahr, ein Anstieg um knapp ein Fünftel. Unter den Opfern sind am häufigsten erwachsene Männer. Doch auch fast 50 Kinder und Jugendliche ertranken 2022.
Die weitaus meisten Opfer – 87 Prozent – ertranken in Binnengewässern, vor allem in Seen und Flüssen. Das könnte zwar auch daran liegen, dass besonders viele Deutsche im Sommer in Seen und Flüssen baden - und nicht im Meer oder im Pool. Genaue Angaben darüber gibt es nicht. Trotzdem betonen Rettungsschwimmer, dass gerade Binnengewässer gefährlich sein können.
Insbesondere ein Fluss kann zur tödlichen Falle werden, weil er meist eine „Straße“ ist: eine Schifffahrtsstraße. Das sei an sich schon gefährlich genug, warnt DLRG-Sprecher Achim Wiese. Schiffe verursachen nach seinen Worten auch sogenannte „Soge“ beim Vorbeifahren: Zunächst kommt das Wasser, dann zieht es sich wieder zurück. Dabei kann man in die Flussmitte gezogen werden – mitten in die Strömung des Flusses. Der Rhein fließt laut Wiese teils mehr als zehn Kilometer pro Stunde schnell. Dagegen könne man nicht „anschwimmen“.
Obwohl die DLRG seit Langem vor dem Schwimmen dort warnt, gibt es jährlich rund 60 Badeunfälle im Rhein.
Warum Baggerseen so gefährlich sind
Eine große Gefahr sieht der DLRG-Rettungsschwimmer Carsten Rosenberg in Baggerseen: Durch Abbruchkanten kann der Boden schlagartig mehrere Meter in die Tiefe gehen. Für geübte Schwimmer ist der Schritt ins Leere meist zwar kein Problem. Ungeübte oder Nichtschwimmer geraten aber schnell in Panik, selbst wenn das Ufer nur wenige Meter entfernt ist. „Da haben wir leider die Gefahr eines schweren Badeunfalls“, sagt Rosenberg.
Oft sind beim Baden Leichtsinn und Selbstüberschätzung im Spiel, beobachtet der Rettungsschwimmer. Zum Beispiel, wenn man im Frühjahr in einen See steigt: Selbst, wenn es draußen und im oberen Wasserbereich schon warm sei, könne in unteren Schichten noch Kälte herrschen. Die Folge: Herz-Kreislaufprobleme – eine der häufigsten Ursachen für das Ertrinken.
Wie gut lernen Kinder in Deutschland schwimmen?
„Die Bevölkerung kann bei Weitem nicht mehr so gut schwimmen wie Ende der 80er-Jahre“, sagt Rettungsschwimmer Rosenberg.
Für die Zeit zwischen 2017 und 2022 hat eine Forsa-Umfrage im Auftrag der DLRG vor allem bei Grundschülern alarmierende Zahlen zutage gefördert: Danach kann jedes fünfte Kind zwischen sechs und zehn Jahren nicht schwimmen – eine Verdoppelung binnen fünf Jahren. Knapp 60 Prozent sind nach Einschätzung der DLRG am Ende der Grundschule keine sicheren Schwimmer. Die Pandemie hat die Situation verschärft: Über längere Zeit konnte keine Schwimmausbildung stattfinden.
Sicher schwimmen kann man aus Sicht der Schwimmverbände erst ab dem Schwimmabzeichen in Bronze, dem Freischwimmer. Ein „Seepferdchen“, für das man sich lediglich 25 Meter über Wasser halten muss, ist völlig unzureichend.
20 Prozent der Kinder sind wirkliche Nichtschwimmer, die nicht einmal ein paar Meter schwimmen können.
Achim Wiese, DLRG-Sprecher
Ein weiterer Grund für die abnehmende Schwimmfähigkeit: „Immer mehr Schwimmbäder werden geschlossen“, beklagt Rettungsschwimmer Rosenberg. Es waren bereits vor Corona durchschnittlich 70 pro Jahr. Derzeit gibt es noch rund 6.500 frei zugängliche Bäder.
Zu teuer, zu wenig Personal - lauten oft die Begründungen der Kommunen, wenn sie wieder ein Bad schließen. So gibt es bundesweit nur noch 860 Lehrschwimmbecken. Das reicht für die Schulen nicht aus, um jedem Kind Schwimmunterricht anzubieten, wie es der Lehrplan eigentlich vorsieht.
Zwei Jahre auf den Schwimmkurs warten
Um überhaupt an einen Schwimmkurs zu kommen, liegen die Wartezeiten laut DLRG bei bis zu zwei Jahren. Und die Preise für private Kurse sind oft besonders hoch.
Eine Situation, die auch die sogenannte Bäderallianz Alarm schlagen lässt. Der Zusammenschluss von Sport-, Berufs- und Branchenverbänden beklagt, dass mindestens 2.500 Fachangestellte für das Badewesen und Schwimmmeister fehlen. Neben der Personalnot leiden die Bäder unter einem massiven Sanierungsstau, der schon 2016 bei rund 4,5 Milliarden Euro lag.
Wie kann man Badeunfälle vermeiden?
Grundsätzlich sollte man nur an offizielle und bewachte Badestellen gehen, wo die Wasserrettung aktiv ist, betont Rettungsschwimmer Carsten Rosenberg. Von Naturgewässern, die man nicht kennt, rät er ab.
Außerdem sollte man seine eigenen Schwimmfähigkeiten realistisch einschätzen. Insbesondere männliche Jugendliche und überhaupt Männer seien oft „leichtsinnig und übermütig“, sagt DLRG-Sprecher Wiese. „Sie unterschätzen die Gefahren, liegen den ganzen Tag in der Sonne und stehen auf und rennen ins Wasser. Das kann selbst für einen jungen Körper und den Kreislauf sehr gefährlich werden.“
Die Baderegeln, die Kinder ab dem Schwimmabzeichen in Bronze auswendig kennen müssen, gelten auch für Erwachsene.
Wenn man selbst einen Notfall im Wasser beobachtet, sollte man den Notruf 112 wählen, so Rettungsschwimmer Rosenberg. Und Hilfe leisten, ohne sich selbst zu gefährden: Als guter Schwimmer könne man bei kürzeren Strecken zu dem Menschen in Not schwimmen.
Im Zweifel lieber nur Hilfsmittel zuwerfen wie Rettungsringe oder andere Dinge, die eine Schwimmhilfe sein können: ein Surfboard, eine Kühltasche, einen großen Kanister – alles, was irgendwie schwimmt.
Sekundäres Ertrinken ist ein Risiko
Sobald ein Verunglückter aus dem Wasser geborgen werden kann, ist der Zeitpunkt für Erste Hilfe gekommen. Jeder Laie kann bei einem bewusstlosen und nicht normal atmenden Menschen Wiederbelebungsmaßnahmen beginnen:
Die Person erst auf die Seite drehen, um Wasser herauslaufen zu lassen, dann flach auf den Rücken legen und abwechselnd in den Mund atmen und den Brustkorb mit der Herzdruckmassage pressen. Rhythmus: zwei Mal beatmen, dann 30 Mal schnelles Drücken.
Wer überlebt, hat für die 48 Stunden danach aber noch ein weiteres Risiko: das sogenannte sekundäre Ertrinken. Denn das eingeatmete Wasser kann auch im Nachgang die Lunge noch lebensbedrohlich schädigen. Solche Patienten sollten daher diese Zeit im Krankenhaus unter Beobachtung verbringen.
bth, Tobias Oelmaier, Daniela Siebert, Werner Nording, dpa