Jan Drees: In der heutigen Büchermarkt-Sendung geht es um eines der ganz großen Science-Fiction-Motive, wir sprechen über Zeitmaschinen, genauer über das Phänomen der Zeitreise mithilfe dieser phantastischen Gerätschaften. Ist das eine Unter-Kategorie eines viel größeren Kosmos', Herr Kasper?
Hartmut Kasper: Ja, das würd' ich dagen, denn Reisen durch die Zeit hatte es bereits vor den Tagen der SF gegeben. Schon im Jahr 1771 - also noch vor der Französischen Revolution - erschien der Roman "Das Jahr 2440: ein Traum aller Träume" von Louis-Sébastien Mervier. Dieser Titel gilt als der erste Zeitreiseroman. Auch Johann Wolfgang Goethe schickt seinen Helden Faust auf eine - wenn auch nur imaginäre - Zeitreise: mit dem künstlichen Menschen Homunculus in die Zeit der schönen Helena. Damals reist man allerdings noch mit einem mephistophelischem Zaubermantel oder in einer Glasphiole.
Jan Drees: Nicht zu vergessen: Mark Twains Roman"'Ein Yankee aus Connecticut an König Arthus' Hof" aus dem Jahr 1889 - immerhin nur sechs Jahre vor jenem Roman H.G. Wells', der dann Epoche macht: "Die Zeitmaschine".
Die Ahnherren der Science Fiction
Hartmut Kasper: So gesehen ist auch Mark Twain, der ja ein Faible für das Phantastische hatte, einer der Ahnherren oder Gründerväter der SF. Zwei Jahre vor Twains Roman im Jahr 1887 hat es übrigens die tatsächlich erste Zeitreise mit Zeitmaschine gegeben: "El Anacronopte" von Enrique Gaspar y Rimbau. Aber mit Wells beginnt natürlich die wahre Geschichte der Zeitmaschine.
Jan Drees: Warum mit Wells? Man hat den Eindruck, sehr viele Ereignisse des SciFi-Universums beginnen mit H.G. Wells, über den wir schon im Zusammenhang mit dem "Krieg der Welten" und der Fake-Invasion der allerschrecklichsten Außerirdischen vom Mars in der vergangenen Sendung unserer Spezialausgabe.
Hartmut Kasper: Weil Enrique Gaspar y Rimbau seine Zeitreisenden, ganz der Tradition verhaftet, in die Vergangenheit schickt. Mit Wells aber geht es in die Zukunft.
"Ich holte tief Luft, biss die Zähne zusammen, packte den Starthebel mit beiden Händen und mit einem dumpfen Schlag ging es los. Das Labor verblasste und verschwamm, dann verblasste es immer mehr. Ich fürchte, ich kann keinen rechten Begriff von den eigentümlichen Empfindungen des Zeitreisens geben. Sie sind über alle Maßen unangenehm. Das Gefühl ist genau wie bei einer Berg- und Talbahn: hilflos kopfüber voran.
Welch ungeahnte Weiterentwicklungen der Menschheit, welch wunderbare Fortschritte hinaus über unsere noch in den Anfängen steckende Zivilisation mochten mir wohl begegnen! (...) Ich sah große und prächtige Bauwerke um mich herum aufschießen, kolossaler als alle Gebäude unserer Zeit (…) Ich sah ein satteres Grün den Hang überströmen und dort ohne jede Winterpause verbleiben. Selbst durch den Schleier meiner Verwirrung betrachtet erschien die Erde mir schön. Und so wuchs in mit der Entschluss anzuhalten."
Menschen von porzellaner Schönheit
Jan Drees: Wir zitieren hier aus der Übersetzung von Hans-Ulrich Möhring. Diese Übersetzung liegt seit 2017 in einer Ausgabe des Fischer Verlags vor, ergänzt mit einem klugen und informativen Nachwort von Elmar Schenkel - einem der großen H.G. Wells-Kenner im deutschen Sprachraum. Der Zeitreisende landet, wie die folgende Kapitelüberschrift sagt, "Im goldenen Zeitalter".
Hartmut Kasper: Er landet, wie es heißt, "im Jahre des Herrn 802 701". Und er findet sich in einer Art Parklandschaft wieder. Die Natur ist gezähmt; die Menschen wirken klein, kindlich, irgendwie geschrumpft; sie sind von einer porzellanenen Schönheit, sie ernähren sich nur noch von Obst, sind verspielt, aber eigentlich an allem desinteressiert, träge, müde, leicht erschöpft. Kurz: die Menschheit hat ihren Lebensabend erreicht.
"Eloi" nennen sich diese letzten Menschen. Bekanntlich stellen sie nur einen, nämlich den oberirdischen Teil der Menschheit dar. Unter der Erde hausen die Morlocks, die, in Ermangelung von Obst und anderer vitaminreichen Kost, sich auf den Verzehr von "Eloi" verlegt haben, also zu Kannibalen geworden sind.
Morlocks fressen die Elois, die letzten Menschen
Jan Drees: Das klingt schrecklich. Wells verlängert damit die britische, viktorianische Klassengesellschaft und treibt sie auf die Spitze: der Adel, das reiche, satte Bürgertum mit seiner Vorliebe für Parks und Gärten, hat sein Endziel erreicht, lebt ebenso sorg- wie arbeitslos in den Tag hinein. Die Arbeiter sind aus den Augen, aus dem Sinn, in die unterirdischen Geschosse der Gesellschaft verbannt. Im Roman heißen die verbannten Kreaturen "Morlocks".
Wobei die Silbe "Mor" im Englischen gerne genommen wird, um etwas Düsteres zu signalisieren. Man denke an den genialen Verbrecher Mor-iaty, den Gegenspieler des aufklärerischen Sherlock Holmes, oder an den finsteren Zauberer Volde-Mort.
Hartmut Kasper: Der Zeitreisende bekommt es mit Eloi wie mit Morlocks zu tun. Er rettet eine Eloi-Frau, Weena, verliebt sich wohl auch in sie. Warum auch nicht? Schließlich etabliert sich der Begriff der Science Fiction erst gegen Ende der 1920er Jahre; zu Wells Zeit spricht man eher von einer "Scientific Romance".
Die Morlocks stehlen die Zeitmaschine; der Reisende muss sie zurückerobern; darüber verliert er Weena.
Gelandet auf einer öden Erde, deren Drehung zum Stillstand gekommen ist
Jan Drees: Später setzt der Zeitreisende seine Reise in die Zukunft noch weiter fort, sozusagen bis ans Ende der Zeit, jedenfalls der Lebenszeit unseres Planeten. Er landet auf einer menschenleeren, öden Erde, deren Drehung zum Stillstand gekommen ist. Wenn man es religiös sagen will: in einer apokalyptischen Epoche, die nicht nur menschenleer, sondern auch gottverlassen ist. Einer Welt, die ihre Zukunft hinter sich hat.
"Ich habe keine Worte für die grauenhafte Trostlosigkeit, die über der Welt hing. (…) Ich hielt nach Spuren tierischen Lebens Ausschau. Eine unbestimmte Angst bewog mich, im Sattel der Maschine sitzen zu bleiben. Doch weder an Land, am Himmel noch im Meer regte sich etwas. Allein der grüne Schleim auf den Felsen bezeugte, dass das Leben nicht ausgestorben war. (…)
Die Dunkelheit nahm rasch zu, ein kalter Wind wehte in Böen von Osten auf, und die fallenden weißen Flocken wurden mehr. Vom Rand des Meeres kam ein Plätschern und Wispern. Außer diesen leblosen Geräuschen war die Welt still. Still? Es wäre schwer, einen Eindruck von dieser Stille zu geben. Alle Töne der Menschen, das Blöken der Schafe, die Rufe der Vögel, das Summen der Insekten, die Unruhe, die den Hintergrund des Lebens bildet - das alles war vorbei. (…) Der Himmel war vollkommen schwarz."
Hartmut Kasper: Und damit wäre die Weltgeschichte zu Ende erzählt, sogar über ihr Ende hinaus erzählt. Man könnte sagen: Wir sind wieder da, wo wir vor der Genesis waren. Die Erde ist wüst und leer, der Himmel ohne Licht, nur dass nun nicht einmal mehr der Geist Gottes über den trostlosen Wassern schwebt.
Wells ist ein prophetischer Gestus eigen
Jan Drees: Aber der Zeitreisende ist da, der das alles sieht, erlebt und später, wieder in seiner Heimatzeit, erzählen kann, als Augenzeuge. Und - kann man das sagen - als ferner Nachfahre der Propheten, denen sonst das Ende der Welt offenbart worden ist?
Hartmut Kasper: Ganz sicher. Wells ist, wie vielen SF-Autoren, wie vielleicht dem ganzen Genre der SF ein prophetischer Gestus eigen. Wells - oder besser: sein Zeitreisender ‒ ist nicht Johannes der Täufer; wenn der Zeitreisende getauft ist, dann auf den Namen Darwin.
Darwin und die ihm folgenden Wissenschaftler haben das Leben zu einem naturwissenschaftlichen Prozess erklärt, und wie alle physischen Prozesse, muss es enden - im einzelnen wie im Ganzen. Der Zeitreisende besichtigt dieses Ende. Zeitreisen sind deswegen etwas wie eine Chiffre für die SF überhaupt geworden: Der vorherrschende Impuls der SF ist es doch, in die Zukunft zu schauen, in die Zukunft vorzustoßen.
Jan Drees: Die Literatur selbst ist also die Zeitreise?
Hartmut Kasper: Was an sich ja nichts Neues wäre. Literatur ist immer gerne in die Zeit vorgestoßen, allerdings vorzugsweise in die Vergangenheit, die menschliche Historie. Literatur vergegenwärtigt, nicht nur im historischen Roman.
Jan Drees: Schließlich ist die gebräuchlichste Erzählzeit das Präteritum beziehungsweise das Imperfekt. Thomas Mann sagt im "Vorsatz" zu seinem Roman "Der Zauberberg": "Denn Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts."
Und Wells erzählt, das ist zunächst überraschend, auch nicht im Futur, oder?
Die Zukunft als vergangenes Ereignis
Hartmut Kasper: Nein. Wells verwendet allerdings einen narrativen Trick. Er lässt seinen Ich-Erzähler auf einen anderen Ich-Erzähler treffen, den Zeitreisenden nämlich. Und dieser Zeitreisende hat die Reise in die Zukunft bereits hinter sich, für ihn ist die Zukunft sozusagen Vergangenheit.
Diesem Ansatz folgt die futuristische, futurologische SF im Grund bis heute: Sie sieht die Zukunft, von der sie erzählt, als vergangenes Ereignis an.
Jan Drees: SF führt ja das Wort "Sciene" im Wappen, "Wissenschaft" - wie technisch exakt beschreibt Wells die Funktionsweise der Maschine?
Hartmut Kasper: Sparsam. Der namenlose Zeitreisende erklärt seinen Gästen das Modell seiner Zeitmaschine so: "Es ist mein Entwurf einer Maschine, mit der man durch die Zeit reisen kann. Sie werden bemerken, dass es auffällig schief ist und dass ein eigentümliches Funkeln dieses Stäbchen umgibt, als ob es irgendwie irreal wäre. (…) Außerdem hätten wir hier einen (…) weißen Hebel und hier noch einen. (…)
Machen Sie sich nun bitte klar, dass dieser Hebel, wenn er gedrückt wird, die Maschine in die Zukunft befördert und dieser andere die Bewegung umkehrt. Dieser Sattel stellt den Sitz eines Zeitreisenden dar."
Jan Drees: Das ist mit bewunderungswürdiger Präzision beschrieben, geradezu eine Bauanleitung. Und sehr bedienungsfreundlich. Ein Hebel hier, ein Hebel da. Dazu ein Sattel als Sitz. Man möchte sich draufschwingen und losfahren. Übrigens: mit diesem Sattel erinnert das Ganze ein wenig an ein Fahrrad, oder?
Wells prohezeite Zukunft des Fahrrads voraus
Hartmut Kasper: H. G. Wells war begeisterter Fahrradfahrer. Und das Fahrrad war zu Beginn der 1890er Jahre technisch der letzte Schrei. Allerdings war noch nicht entschieden, welche Art von Fahrrad das Rennen machen würde: Das Hochrad? Da war das Auf- und Absitzen nicht ohne. Das Tricycle, also das Dreirad? Das Dicycle, auf dem man zwischen den beiden Rädern saß wie in einem Hamsterrad? Oder das Bicycle mit den zwei gleich großen Rädern?
Wells, damals schon Mitte 20, entscheid sich zunächst für das Dreirad. Radfahren, wie wir es kennen, lernte er erst nach der Veröffentlichung der Zeitmaschine. Aber daran, dass dem Fahrrad die Zukunft gehören würde, hatte Wells offenbar keinen Zweifel.
Sein Roman "The Wheels of Chance", also "Die Räder des Glücks", sozusagen eine Art "Drei Mann in einem Boot" auf dem Rad, wird zum Bestseller. Er traf damit den Nerv der Zeit: Radfahren erlaubte es auch einfachen Leuten, preiswert weit zu reisen. Radfahren emanzipierte die Frau. Reisen wurde zur Freizeitbeschäftigung. All das modernisierte, prägte die Gesellschaft um. Allerdings ist dieser Roman heute weitgehend vergessen. "Die Zeitmaschine" nicht.
Jan Drees: Genau. Zeitreisen sind - wie die Zeit selbst - ein weites Feld, um kurz Theodor Fontane mit ins Boot zu holen. Kann man das Phänomen in irgendeiner Weise systematisieren, Herr Kasper?
Mehrheit der Zeitreisenden in die Vergangenheit
Hartmut Kasper: Wir können uns eine Zeitreisekarte ansehen. Ausgangspunkt der Reise ist meist die Gegenwart, und von hier aus sind zwei Richtungen denkbar: Richtung Vergangenheit, oder Richtung Zukunft. Die Mehrzahl der Zeitreisen führt wie bei Goethe, Rimbau oder Mark Twain in die Vergangenheit.
Auch einer der größten deutschen SF-Autoren hat von solchen Zeitreisen erzählt, Wolfgang Jeschke. Jeschkes erster Roman erschien 1981: "Der letzte Tag der Schöpfung". Im Roman sollen US-Amerikanische Zeitreisende, Chrononauten, in der Vergangenheit das Eröl des Nahen Ostens aus den uns bekannten Lagerstätten abpumpen und in die Nordsee umleiten; dort soll es in der Gegenwart durch Erdölplattformen gefördert werden, die zugleich getarnte Zeitmaschinen sind.
Das Projekt scheitert, weil es konkurrierende Zeitreisende gibt: Russen, natürlich, die sich mit den Arabern alliiert haben, Mexikaner einer fremden Zeitlinie, Reisende aus einer Epoche, die weit in der Zukunft liegt und von einer religiös geprägten Zivilisation geprägt ist.
In seinem Opus Magnus, dem "Cusanus-Spiel" aus dem Jahr 2005, wird eine junge Botanikerin, Domenica Ligrina, von einem vatikansichen Institut auf Zeitreise geschickt. Die Erde des Jahres 2052 ist - wegen Umweltzerstörung und Klimawandel - wieder wüst und leer. Die Sahara hat sich über fast ganz Afrika ausgebreitet; eine nukleare Katastrophe hat Teile Deutschlands unbewohnbar gemacht.
Die Botanikerin soll im Deutschland des 15. Jahrhunderts Pflanzensamen bergen, die in der Gegenwart wieder heimisch gemacht werden sollen. Aber die Reise führt zu universalen Irritationen, möglicherweise zum Auseinaderbrechen der Welt in diverse Universen.
Jan Drees: Die Zeitreise als zweite Gelegenheit, als Möglichkeit, die Geschichte und damit die Gegenwart zu korrigieren. Führt uns das dann nicht direkt Richtung Stephen King?
Hartmut Kasper: Ja, in einem großen Roman, der 2011 erschienen ist und im Original "11/22/63" heißt.
Jan Drees: Das ist das Datum des Mordanschlags auf John F. Kennedy. Deshalb heißt der Roman im Deutschen auch "Der Anschlag". Worum geht es?
Korrektur der Korrektur: Epping stirbt
Hartmut Kasper: Der Held der Geschichte, ein gewisser Jakob Epping, erhält die Möglichkeit, zurück in die frühen 1960er Jahre zu reisen und den Tod von John F. Kennedy zu verhindern. Dies gelingt zunächst, obwohl sich die Zeit selbst gegen diesen Eingriff aus der Zukunft zur Wehr setzt. Doch die veränderte Welt, die sich dieser Rettung verdankt, ist grauenvoll und furchtbar. Epping korrigiert seine Korrektur. Kennedy stirbt.
Jan Drees: Die Zeit als Hüterin ihrer selbst, als große, konservative Kraft. Also bleibt auch hier die Zeitreise vergangenheitsorientiert, geradezu nostalgisch, oder?
Hartmut Kasper: Ja. Und wie zu Zeiten Mark Twains findet diese Reise ohne maschinellen Antrieb statt. Jakob Epping muss hier nur das Zeitportal durchschreiten, das sich praktischerweise im Vorratsraum eines Schnellimbisses befindet. Mit Wells aber ist die Reise in die Zukunft thematisiert - und so wird die Zeitmaschine zum Symbol der SF.
Übrigens ist der Vorstoß in die Zukunft möglicherweise die einzig naturwissenschaftlich machbare Version einer Zeitreise: Der Einsteinschen Relativitätstheorie zufolge soll es ja bei Reisen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit zu Zeitdilatationseffekten kommen.
An Bord des Raumschiffes vergeht die Zeit langsamer; tausend Jahre erscheinen wie ein Tag; und am Ende soll der Astronaut, auf seiner Reise - sagen wir: zur Galaxis Andromeda - nur um 590, 60 Jahre gealtert sein - auf der Erde aber sind über fünf Millionen Jahre vergangen.
Jan Drees: Zukunftsmusik. Hat es denn auch Reisen aus der Zukunft in unsere Gegenwart gegeben, Gegenbesuche, gewissermaßen?
Maschinen aus der Zukunft ändern die Gegenwart
Hartmut Kasper: Hat es. Die Terminator-Saga, die von James Cameron und Gale Anne Hurd in Gang gesetzt worden ist, zeigt ja, wie Maschinen aus der Zukunft kommen, um die Gegenwart zu ihren Gunsten zu verändern, oder eben diese Veränderung zu verhindern.
Auch einer der faszinierendsten SF-Romane der letzten Jahre befasst sich mit dieser Spielidee: "Die Chronolithen" von Robert Charles Wilson. ("The Chronoliths", 2001) Die Handlung beginnt damit, dass im ländlichen Thailand ein Artefakt erscheint, über Nacht und förmlich aus dem Nichts.
"Weit voraus über den (…) Hügeln stach eine strahlend helle Säule aus dem Nebel oder Rauch in den Himmel. (…) Die Größe war ohne sichtbare Relation schwer abzuschätzen, doch ich ging davon aus, dass es mindestens hundert Meter hoch war. (…) Man stelle sich ein abgestumpftes Washington Monument aus himmelblauem Glas (…) vor (…) doch bei all seiner Fremdheit sah es eindeutig nach Menschenwerk aus, und Menschen fabrizierten solche Objekte nur zu einem Zweck: um sich kundzutun, um ihre Präsenz und Macht zu demonstrieren. (…)
Am Abend druckten die (…) Zeitungen den Text der Inschrift, die man am Fuß des Monuments entdeckt hatte (…). Die Inschrift, zolltief in das Material der Säule getrieben und verfasst in einem Pidgin-Mandarin und Basic-English, war ein schlichtes Statement zur Erinnerung an eine Schlacht. Wir hatten es also mit einer Art Siegessäule zu tun. Sie preis die Kapitulation von Süd-Thailand vor den alliierten Streitkräften von "Kuin", wer oder was immer das war. Unter dem Text stand das Datum dieser historischen Schlacht. 21. Dezember 2041. Zwanzig Jahre in der Zukunft."
Jan Drees: Aus welchem Grund werden in diesem Roman Artefakte aus der Zukunft in die Gegenwart geschickt?
Hartmut Kasper: Sie sind von den Siegern der Geschichte geschickt, die ja immer auch Geschichte schreiben wollen. Diese monumentalen Botschaften werden von Mal zu Mal gigantischer und sorgen für immer größere Verheerungen dort, wo sie erscheinen. Ihr Ziel: die Gegenwart einzuschüchtern, ihr klarzumachen, dass jeder Widerstand gegen den künftigen Feldherren, gegen Kuin, zwecklos ist.
So soll aus der Gegenwart genau die Zukunft werden, aus der die Botschaften kommen - self fulfilling prophecies im Wortsinn.
Jan Drees: Die Zukunft - die mächtige, weil technisch weit vorangeschrittene Zukunft - prägt die Gegenwart. Das ist sozusagen eine Umkehrung der Wellschen Zeitmaschinen-Idee. Man kennt das auch von der philosophischen Strömung der Akzelerationisten, die beobachtet haben, dass Entscheidungen unserer Zeit viel zu oft mit der Vergangenheit begründet werden – beispielsweise mit der Weltwirtschatskrise der 30er Jahre. Dagegen setzen die folgende Idee: Sie schauen von einer imaginierten Zukunft auf unsere Gegenwart, sie wenden also den Blick; wie Science-Fiction-Romane. Der Akzelerationismus ist eine der prägenden philosophischen Richtungen der Gegenwart. Ist die Zeitreise denn auch nach wie vor ein prägendes Motiv im SciFi-Genre?
Hartmut Kasper: Auf jeden Fall. Es gibt sogar nationale Zeitreise-Heroen, die in ihren Heimatländern und Heimatzeiten absolute Kultfiguren sind. Ich nennen mal den britischen Zeitreisenden "Doctor Who", der sage und schreibe seit 1963 in der Weltgeschichte unterwegs ist - und zwar im Fernsehen des Vereinigten Königreichs.
Seine Zeitmaschine ist die TARDIS - bekannt aus Film, Funk, Fernsehen, Comic-Adaptionen und Romanen. Der Doctor hat wie eine Katze viele Leben und reinkarniert sich gelegentlich neu - eine superschöne Begründung für den Wechsel der Schauspieler von Staffel zu Staffel.
In Frankreich gibt es ein zeitreisendes Paar, "Valerian und Laureline" beziehungsweise im Deutschen "Valerian und Veronique" von Jean-Claude Mézières und Pierre Christin. Die beiden Titelhelden arbeiten als Agenten im Auftrag des Raum-Zeit-Service, eines chronophilen Geheimdienstes, und ihre Abenteuer sind eben jetzt von Luc Besson verfilmt worden.
Jan Drees: Unsere Zeit ist leider um, aber mit unserem Podcast auf Deutschlandfunk.de können Sie noch einmal zurückreisen und sich die Sendung komplett anhören.
Bibliographie:
Stephen King: Der Anschlag (Original-Titel: "11/22/62", 2011). Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wulf Bergner. München 2011
H. G. Wells: Die Zeitmaschine. (Original-Titel: "The Time Machine", 1895). Aus dem Englischen neu übersetzt von Hans-Ulrich Möhring. Frankfurt am Main 2017
Robert Charles Wilson: Die Chronolithen (Original-Titel: "The Chroniliths". 2001). Aus dem Englischen übersetzt von Hendrik P. und Marianne Linckens. München 2005
H. G. Wells: Die Zeitmaschine. (Original-Titel: "The Time Machine", 1895). Aus dem Englischen neu übersetzt von Hans-Ulrich Möhring. Frankfurt am Main 2017
Robert Charles Wilson: Die Chronolithen (Original-Titel: "The Chroniliths". 2001). Aus dem Englischen übersetzt von Hendrik P. und Marianne Linckens. München 2005