Wenn eine Poetik des Comics gezeichnet ist, dann besteht kaum die Gefahr, dass die Theorie den Genuss ruiniert. Es erhöht den Spaßfaktor sogar deutlich, wenn man über das Handwerk theoretisch Bescheid weiß. Über das "Schreiben mit Bildern", über die "Establishing Shoots", über "Entfernung, Blickwinkel und Perspektive" oder über "Die Fünf Schritte". Also - "die Wahl des Augenblicks, die Wahl des Bildausschnitts, die Gestaltung der Bilder, die Gestaltung des Textes und die Gestaltung des Leseflusses". Es gibt zahllose weitere Kriterien, die Scott McCloud in gezeichneten Werkstattbüchern vorgestellt hat. Somit kann der Lernwillige durchaus die Theorie in der Praxis prüfen, oder auch umgekehrt. Aber interessanter ist bei dem jetzt erschienenen 500-Seiten Werk "Der Bildhauer" die Frage: Verbindet sich hier die sequentielle Kunst des Comics mit einer dramatischen Geschichte zu einer guten Graphic Novel? Scott McCloud fühlt sich beiden Sphären verpflichtet:
Geschichte zwischen Faust-Erzählung und Superhelden-Genre
"Für mich bedeutet der Comic als Kunstform schlicht und einfach, ein Bild ans andere zu reihen, um eine Geschichte zu erzählen, dabei kann jede Art von Geschichte erzählt werden. Die entscheidende Herausforderung für Autoren von Graphic Novels ist die: erreichen wir etwas von jenem Reichtum, der Intensität und der Gedankentiefe, die wir von einem Roman erwarten, eine tolle Geschichte, die zum Denken anregt, die Gefühle weckt, die unsere eigene Sicht der Dinge herausfordert."
Die Geschichte selbst ist ein Sujet zwischen Faust-Erzählung und Superhelden-Genre der 1980er Jahre: Der junge Bildhauer David Smith will in New York etwas werden, er scheitert nach dem ersten Anlauf und geht einen Pakt mit dem Tod ein, denn die Kunst ist ihm mehr wert als das Leben: allein mit seinen Händen wird er jedes ihm erreichbare Material gestalten können, dafür muss er nach 200 Tagen sterben. Im ersten Schaffensrausch produziert David fantastische Skulpturen, aber am Ende ist es nur sentimental-narzistischer Kitsch. Nun beginnt der künstlerische Erkenntnisprozess: Technisches Können ist noch lange nicht schöpferisches Genie, aber: Woher kommen die Ideen? Als David sich in die junge Schauspielerin Meg verliebt, reift der persönliche Konflikt zur existentiellen Grundsatzfrage: Was soll meine Kunst überhaupt? Und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Bildnerisch wird hier viel geboten, McClouds Adaptionen japanischer Manga-Kunst zur subjektiven Darstellung des Schaffensrausches sind ein Genuss für echte Comic-Leser. Aber der entscheidende Dreh beginnt mit dem Einsatz der Fotografie und führt zu einem doppelten Subjekt:
"New York ist eine Landschaft aus Gebäuden, aber New York ist auch eine Landschaft aus Menschen. Für mich war das Schöne: aus diesen zehntausenden von Fotos, die ich aufnahm, um zu erfahren, wie die Menschen aussehen, resultierten Schicksale, selbst im Hintergrund der Zeichnungen haben alle ihr eigenes Leben. New York, das sind Millionen von Geschichten, und wann und wo immer ich eine Figur durchwandern lasse, will ich sicher sein, dass diese Figur auch der Held ihrer Geschichte ist. Sie sind zwar nur unterstützende Charaktere für meine Stars David und Meg, zufällig dabei, aber ich will erreichen, dass der Leser ein Gefühl für sie bekommt, dass er spürt: ja, diese Person geht von hier nach dort aus einem bestimmten Grund."
Blick in alle gesellschaftlichen Schichten
McCloud will nicht nur oberflächliche Bilder einer Stadt, er will etwas von der Wirklichkeit der Stadt New York ausdrücken, und entsprechend der ihr typischen Vertikale bewegt sich auch das dramatische Personal: von ganz unten auf den Straßen Manhattans bis nach ganz oben in die Wolkenkratzersuite des reichen Sammlerpaares, aus der Einsamkeit des erfolglosen Einzelgängers zu den tagelangen Chanukka Festlichkeiten des jüdischen Freundeskreises. Dabei entstehen zahllose Handlungsstränge, oft betont minimalistisch gezeichnet, die auf der entsprechenden Seite durch ein einziges Panel komplexer Stadtlandschaft belebt werden können. McCloud hat in Bezug auf die Komposition sehr klare Vorstellungen:
"Ich glaube, viele von uns wollen eine schöne Seite machen. Wir wollen eine harmonische Komposition, wir wollen, dass dieses erste Bild hier oben von diesem Bild dort unten ausbalanciert wird, und das dunkle Schwarz hier von den Lichtern dort drüben, und das Ganze soll eine wunderschöne Komposition sein. Aber eine wunderschöne Komposition bedeutet: Du kannst aufhören zu Schauen, das Bild ist fertig - aber eine Comicseite sollte nie fertig sein. Sie sollte immer schwanken und in die nächste Seite fallen, sie muss aus der Balance fallen, sie muss dir das Gefühl geben, dass es weitergeht."
Das ist Schritt Fünf, der berühmte Lesefluss, den McCloud in seinem Buch "Comics machen" erklärt. Dort zeigt er auch im Detail, wie man ihn rein technisch umsetzt. Dabei führt ihn der Weg innerhalb von wenigen Jahren von Marderhaarpinsel und Rabenfeder zu Keyboard und Bildschirm, "Der Bildhauer" von 2015 ist sogar eine vollständig papierlose Produktion, am digitalen Zeichenbrett skizziert und entworfen, mit der passenden Software gelettert und durchgeführt. Das technische Profil bei Scott McCloud ist sehr ausgeprägt, er filmt sogar Modelle zur Erfassung perfekter Bewegungsabläufe und gibt offen zu, dass er schon immer das ihm fehlende "Naturtalent" mit technischen Mitteln auszugleichen sucht:
Fehlendes "Naturtalent" mit technischen Mitteln ausgeglichen
"Aber es war technisch auf der Suche nach dem Mysterium. Ich nutzte technische Mittel um etwas dahinter zu finden, für diesen einen magischen Moment, wo alles passte, jede Handposition, jeder Fuß, jeder Ausdruck, wie sich die Gesichter begegneten, wo das alles magisch real wirkte, wissen Sie, diese Echtheit."
Visuell bietet Scott McClouds "Der Bildhauer" einige dieser magischen Momente. Leider wird der Zauber der sequentiellen Kunst durch die banale Geschichte sehr geschwächt. Das Echte der zeichnerischen Repräsentationen von New York und den New Yorkern, auch der überzeugende emotionale Ausdruck der Liebenden David und Meg, die komplexe Bilderzählung eines tragischen Künstlerschicksals, das passt nicht so recht zur narrativen Intuition eines Superhelden-Comic, dessen Konflikte sich ja per se magisch auflösen. Und wenn Dr. Faustus fliegen kann, dann führt das direkt in die Imaginationsräume des Lesers, wenn aber der gezeichnete Bildhauer David mit den Händen einen Wolkenkratzer ummodelt, führt das zu grandiosem Kitsch. Hier funktioniert die Beziehung zwischen Tragödie und Comic nicht so recht, und so kommt diese Graphic Novel an den Reichtum eines Romans, wovon McCloud träumt, lange nicht heran. Sie passt schon besser zur amerikanischen Tradition der laufenden Bilder, Hollywood hat bereits zugegriffen.