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Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 - 1933

Als er am 27. Dezember 1907 geboren wurde, wurde er auf den Namen Raimund Pretzel getauft, den Namen Sebastian Haffner nahm er erst im englischen Exil an. Haffner hat bedeutende Biographien über Hitler und Churchill vorgelegt, Preußen jenseits der Legende beschrieben und sich immer wieder engagiert und querköpfig zu den Themen geäußert, die die Republik beschäftigten. Nun ist im Nachlass des im letzten Jahr verstorbenen Publizisten eine Schrift gefunden worden, die Haffner bereits 1939 abgeschlossen hatte. Unter dem Titel "Geschichte eines Deutschen, Die Erinnerungen 1914 - 1933" ist jetzt bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienen. Unser Rezensent ist Robert Leicht.

Robert Leicht | 27.11.2000
    Vor nunmehr zweiundzwanzig Jahren erschien ein Buch mit dem Titel "Anmerkungen zu Hitler", das in seiner Prägnanz und Originalität regelrecht Furore machte. Diese Anmerkungen zu Hitler stammten aus der Feder des Publizisten Sebastian Haffner. Es war, wenn man so will, das Alterswerk eines gereiften und geprüften Mannes - ein Rückblick auf die deutsche Katastrophe schlechthin; eine Katastrophe übrigens, die den Autor im Jahr des Kriegsausbruchs, 1939 also, in die Emigration gezwungen hatte. Nun erschien, postum - denn Haffner starb im vorigen Jahr hochbetagt, zweiundneunzigjährig, ein wiederum faszinierendes Buch aus derselben Feder; ein Buch, das in vielfältiger Weise das genaue Gegenstück zu jenen "Anmerkungen zu Hitler" bildet. Das Manuskript zu dem Buch mit dem Titel "Geschichte eines Deutschen" war bereits im Jahr 1939, also im Jahr der Emigration Haffners, abgeschlossen - so als sei der Text auch als Selbst-Rechtfertigung zu diesem Trennungsbeschluss zu lesen. Und dies, obschon die Erinnerungen nur die Jahre bis 1933 umfassen, in dem der Gedanke an die Auswanderung bereits in Haffner virulent war. Schon für damals notierte er:

    "Nein, es war nichts mit dem Rückzug ins Private. Wohin immer man sich zurückzog - überall fand man gerade das wieder vor, wovor man hatte fliehen wollen. Ich lernte, dass die Nazi-Revolution die alte Trennung zwischen Politik und Privatleben aufgehoben hatte ... sie wirkte wie ein Giftgas, das durch alle Wände dringt. Wenn man diesem Giftgas wirklich entgehen wollte, gab es nur eins: physische Entfernung; Emigration; Abschied von dem Lande, zu dem man nach Geburt, Sprache, Erziehung gehörte, und von allen patriotischen Bindungen. In diesem Sommer 1933 schickte ich mich an, auch diesen Abschied zu nehmen. Ich war nun an Abschied im großen und kleinen bereits gewöhnt..."

    Giftgas, man höre auf: Das Wort fällt hier zwei Jahre vor der Wannsee-Konferenz und vor Auschwitz! Die Publikationsgeschichte stellt also die Reihenfolge der Texte auf den Kopf: Erst die "Anmerkungen zu Hitler", dann die "Geschichte eines Deutschen". In den "Anmerkungen zu Hitler", die man im Zusammenhang mit dem neusten Band doch noch einmal nachlesen sollte, gibt es ein Kapitel, in dem Haffner einer These des Hitler-Biographen Joachim Fest nachgeht. Fest hatte, wie Haffner damals schrieb, ein "interessantes Gedankenexperiment" angestellt:

    "Wenn Hitler Ende 1938"

    wir können also sagen: ein, zwei Monate, bevor Haffner seine Erinnerungen damals abgeschlossen hatte ...

    "Wenn Hitler Ende 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte, zu nennen."

    Und Haffner spielt diesen Gedanken eine Weile kritisch, aber auch neugierig nach und durch ... Aus seinen Erinnerungen - den Memoiren diesmal nicht eines gereiften und geprüften Mannes am Ende seines Lebens, sondern der Zwischenbericht eines jungen, hochbegabten, ja, doch!: genialen Mannes am Beginn seiner eigentlichen Prüfungen -, aus diesem Zwischenbericht wird jedoch schon in der atmosphärischen Verdichtung deutlich, dass und warum die Herrschaft Hitlers bereits längst vor allen täuschenden Anfangs-Erfolgen im Kern und in der Wurzel verrottet war. Man mag nun auf den ersten Anschein hin einwenden: Die Erinnerungen reichen bis 1933 - da war von blendenden, täuschenden Erfolgen eben noch kein Gemüt verführt worden und Haffner hatte es leichter, sich einen klaren Blick zu bewahren. Indessen: Das Manuskript ist erst 1939 verfasst und abgeschlossen worden. Eben diese sechs Jahre zwischen 1933 und 1939 fallen damals aus der Betrachtung heraus, jene Jahre also, von denen Haffner im Rückblick der "Anmerkungen zu Hitler" dann 1978 schreiben wird:

    "In den ersten sechs Jahren seiner zwölfjährigen Herrschaft überraschte Hitler Freund und Feind mit einer Reihe von Leistungen, die ihm vorher fast niemand zugetraut hatte. Es sind diese Leistungen, die damals seine Gegner - 1933 immerhin noch eine Mehrheit der Deutschen - verwirrten und innerlich entwaffneten und die ihm in Teilen der älteren Generation auch heute noch ein gewisses heimliches Renommee verschaffen."

    Warum also ließ Haffner, der junge Publizist, diese sechs Jahre aus seinen Erinnerungen heraus? Und weshalb wurde dieser Text nie veröffentlicht? Fürchtete Haffner, diese vordergründigen Erfolge Hitlers würden die Dramaturgie seines Lebensberichtes irritieren, sie würden gar den Text in den Augen der damaligen deutschen Leser als unglaubwürdige Nörgelei erscheinen lassen? Wir werden es nicht mehr erfahren ... Nun aber genug des rätselnden Fragens. Lassen wir uns unbefangen auf die Lektüre ein - vielleicht noch mit einer letzten Vorbemerkung, die allerdings schon das Handwerk Haffners und das gemeinsame dieser beiden Bücher betrifft: In beiden knappen Werken beherrscht Haffner eine - wenn der makabre Gegenstand das Wort erlaubt: bestrickende - Kunst, aus der Zentralperspektive einer Person die Epochengeschichte zu erhellen - und eben, das ist sein eminenter Vorzug, treffender auszuleuchten, als es die lange Zeit bevorzugte Strukturgeschichte vermag, ohne nun deren Verdienste herabsetzen zu wollen. Wählte Haffner im Rückblick der "Anmerkungen" die Person Hitlers zum Brennpunkt - so bildet in den "Erinnerungen" seine eigene Person den Focus. Sind die "Anmerkungen" in ihrer Kürze tendenziell gedachter, so sind die "Erinnerungen" ursprünglich erlebter. Aber weiche wache, überaus sensible Wahrnehmung, welche Fähigkeit, aus fast beiläufigen Episoden den Geist der Epoche zu erspüren und auf den erlebten Begriff zu bringen! Das gilt schon für die frühe Weimarer Zeit! Es bleibt frappierend, wie die frischen Beobachtungen und Reflexionen des in der Zeit 15- bis zwanzigjährigen jungen Mannes sich in dem Text eines schließlich 32jährigen Autors so erhalten haben, dass sie auch heute nicht nur nicht überholt sind, sondern geradezu im Wortsinne: unerhört aufschlussreich wirken. Zum Beispiel jene Bemerkung zu der Zwischenepoche Stresemann, zu den vergleichsweise stabilen und in der Lebenswelt des jungen Mannes geradezu biederen Jahren zwischen der Niederschlagung der Revolution von links unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg und dem Abdriften der Republik in die Revolution von rechts als Vorbereitung auf den 2. Weltkrieg:

    "Aber solange Stresemann da war, empfanden wir eine gewisse Sicherheit, das sie in Schach gehalten waren. Wir bewegten uns unter ihnen mit einer Sorglosigkeit, mit der die Menschen in einem modernen, käfiglosen Zoo zwischen den Raubtieren herumgehen, im Vertrauen darauf, dass die Gräben und Hecken alle gerade richtig berechnet sind...Sie machten in all den Jahren nicht einmal einen Mordanschlag auf Stresemann, obwohl es leicht gewesen wäre. Denn er hatte keine Leibwache und er verschanzte sich nicht. Öfters sahen wir ihn Unter den Linden spazieren gehen, einen unauffälligen, untersetzten Mann mit einem Derby-Hut. "ist das nicht Stresemann da drüben?", fragte einer, und richtig er war es. Man sah ihn etwa am Pariser Platz vor einem Blumenbeet stehen, eine Blume mit dem Spazierstock anheben und gedankenvoll mit seinen vorquellenden Augen betrachten. Vielleicht sann er nach, welches ihr botanischer Name war. Seltsam: Hitler, heutzutage, zeigt sich nur im Auto, in raschem Tempo, umgeben von zehn oder zwölf Autos mit schwer bewaffneter SS..."

    Wie ließe sich ein Epochenumschlag sinnhafter markieren als in dieser Skizze, die so vieles atmosphärisch verdichtet, dass ich seither noch jedes Mal, wenn ich von meiner nahegelegenen Berliner Wohnung aus den Pariser Platz passiere, mich am Blumenbeet umdrehe, ob da nicht Stresemann ... Genug! Dies ist eine stilistisch, sinnlich und intellektuell einerseits hypersensible, andererseits eine juristisch vorgebildete und zugleich nüchtern politische Annäherung an eine weltpolitische und moralische Katastrophe - in der trockenen Prosa des Rezensenten ist die atemberaubende Begabung des jungen Haffners kaum angemessen zu repräsentieren. Man lese also - und staune über die frühe geniale Essayistik eines Mannes, den wir erst nach der Rückkehr aus der Emigration kennen lernen konnten. An diesem spät entdeckten Jugendwerk wächst die Bewunderung - und das Staunen. Und die Trauer...

    Robert Leicht über Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen, Die Erinnerungen 1914 - 1933, Deutsche Verlags Anstalt, München, 200 Seiten, 39,80. Haffners Anmerkungen zu Hitler liegen in der 21. Auflage in einer Taschenbuchausgabe des Fischer Verlags vor. Damit sind wir am Ende unserer heutigen Revue politischer Literatur. Am Mikrophon war Hermann Theißen. Guten Abend.