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Sechs Monate nach den Anschlägen in Paris
Die Normalität des Ausnahmezustands

Es war ein Schock für die französische Gesellschaft, als islamistische Attentäter vor einem halben Jahr in Paris 130 Menschen töteten. Heute, sechs Monate nach den Anschlägen, herrscht scheinbar wieder Normalität. Cafés und Bars sind geöffnet und rege besucht. Doch der damals verhängte Ausnahmezustand gilt noch immer. Zugleich protestieren Zehntausende Jugendliche - sie fühlen sich abgehängt und chancenlos.

Von Suzanne Krause |
    Der Blick über die Innenstadt von Paris (Frankreich) am 16.08.2015. In der Mitte ist der Eiffelturm zu sehen, rechts im Bild der Invalidendom. Das Foto entstand vom Hochhaus Tour Maine-Montparnasse.
    Blick über die Innenstadt von Paris. Alles wieder normal? (picture alliance / dpa / Kevin Kurek)
    Zu Füßen der "Marianne", der hohen gusseisernen Statue auf der Place de la République, Herzstück des Pariser Ostens, türmen sich Plüschtiere, bunte Zeichnungen, halb verwischte Porträtfotos, Kerzen, Blumenstöcke. Ein Mann, womöglich ein Anwohner, gießt aus einer Plastikflasche gerade die Topfblumen. Touristen verharren für einen Schnappschuss vor der "Marianne". Als Symbolfigur der Französischen Republik gilt sie heute und mit ihr der ganze Platz weltweit als Ort des Gedenkens an die Opfer der Attentate, die Paris im vergangenen Jahr erschütterten. Die vorläufig letzte Anschlagsserie traf Frankreich am 13. November 2015. An jenem Abend war Gregoire Mauffrey zu einer Verabredung im Viertel unterwegs. In der Ferne hörte er Gewehrsalven. Als er um die nächste Ecke bog, stieß er vor einer Café-Terasse auf Tote – die ersten seines Lebens, die ersten an diesem Abend.
    Psychologische Notdienste nach den Attentaten
    "Was mir im Kopf bleiben wird, das ist natürlich vor allem der Anblick der ersten Leichen. Mit anderen Passanten wollte ich gerade einem Schwerverletzten helfen, als eine Massenpanik ausbrach. Wir stoben in alle Himmelsrichtungen davon, das ist mir noch nie zuvor passiert. Es kam mir vor, als müsste ich um mein Leben rennen, um mir keine Patrone einzufangen. Dieses Gefühl war eine sehr eigene Erfahrung."
    Unmittelbar nach der Schreckensnacht vor einem halben Jahr richtete die Verwaltung in den Rathäusern der betroffenen Stadtteile psychologische Notdienste ein. Der Andrang war wochenlang groß. Vor Kurzem weihte ein Pariser Krankenhaus eine Anlaufstelle für all diejenigen ein, die die Erlebnisse bis heute nicht verarbeitet haben. Dort testet man eine neue Therapie für posttraumatische Belastungsstörungen. Gregoire Mauffrey war nur einmal beim psychologischen Notdienst.
    Ein Polizeiauto nach den Anschlägen in Paris.
    Ein Polizeiauto nach den Anschlägen in Paris. (imago stock & people)
    "Schließlich bin ich ja kein Opfer! Das hat mir auch der Psychologe beim Notdienst gesagt. Er meinte: 'Sie sind zwar ein direkter Augenzeuge, aber kein Opfer'. Deshalb habe ich keine professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Aber dafür habe ich, sobald mich jemand nach meinen Erlebnissen in dieser Nacht fragte, alles ganz genau geschildert. Ich ging richtig in die Details – damit ich nichts vergesse. Damit nicht irgendwann einmal Schreckensbilder aus meinem Unterbewusstsein auftauchen und mich aus dem Gleis werfen."
    130 Menschen wurden in Paris am 13. November von islamistischen Terroristen kaltblütig ermordet – im Konzertsaal "Bataclan", auf Café-Terrassen. Bis auf das "Bataclan" haben alle Anschlagsorte wieder geöffnet, der Konzertsaal wird renoviert, erste Auftritte von Musikbands sind für Mitte November angekündigt. Die Kneipe "Le Carillon" machte exakt zwei Monate nach den Attentaten wieder auf. Hier waren neun Menschen ums Leben gekommen, beim Kambodschaner gegenüber fünf. Die Wiedereröffnung war für Camille Diao ein Pflichttermin: Die Mittzwanzigerin ist Stammkundin im "Carillon", sie wohnte damals nebenan.
    Die Vormieter: Opfer der Anschläge
    "Am Tag der Wiedereröffnung war ich auf eine sehr eigene Stimmung in der Kneipe eingestellt. Wie soll ich sagen – irgendwas zwischen Pilgergang und Hommage. Doch als ich dort eintraf, war die Stimmung stinknormal. Ich erwartete, ein Polizeiaufgebot zu sehen. Wahrscheinlich wurde das Lokal an dem Abend auch überwacht, mitbekommen habe ich davon jedoch nichts. Die Leute tranken, scherzten herum, die Stimmung war alles andere als bedrückt. Es war ein schöner Moment, ja, ein wirklich schöner Augenblick."
    Ab dem 14. November, Monate lang, waren die Tatorte Wallfahrtsorte, brachten Anwohner und Touristen zu Tausenden Trauergaben. Andenken, die nun im Stadtarchiv für die Nachwelt aufbewahrt werden. Die Normalität sei wieder eingekehrt in Paris, sagt Camille Diao. Aber der Eindruck täuscht.
    "Ich bin neulich im Viertel umgezogen. Für die Ummeldungen brauchte ich den Namen der Vormieter. Im Anschluss habe ich dann mal im Internet geschaut, wer die Leute waren, aus reiner Neugier. Und da fand ich heraus, dass es sich um ein junges Architekten-Pärchen handelte. Und dass die beiden zu den Toten im Carillon zählen. Hier im Lokal wurden sie erschossen. Ja, das sorgt für Gänsehaut. Dass ich nun weiterhin ins Carillon gehe - damit will ich auch den Beiden eine Art Hommage erweisen."
    Nach Hintermännern wird weiter gefahndet
    Die Attentäter, die im November mordend durch die Straßen von Paris zogen, waren junge Franzosen und Belgier arabischer Abstammung. Neun sind tot, ein Überlebender, Salah Abdeslam, wurde Ende März in Brüssel geschnappt - kurz vor den dortigen Anschlägen. Seit Ende April wartet er in einem französischen Gefängnis auf seinen Prozess. Nach weiteren Hintermännern der Anschläge von Paris und Brüssel wird nach wie vor gefahndet. Auch deshalb hofft Frankreich bislang vergeblich auf Entwarnung. Trotz aller Ermittlungserfolge hat der französische Premierminister Manuel Valls bislang kein Wort von seiner Rede Mitte Februar bei der Sicherheitskonferenz in München zurückgenommen. Anders als in Deutschland wählt die französische Regierung die Vokabel "Krieg". Manuel Valls:
    "Wir schulden unseren Völkern folgende Wahrheit: Es wird andere, schwere Anschläge geben."
    "Sentinelle", das französische Anti-Terrorprogramm, läuft weiterhin auf höchster Alarmstufe. Hunderte Soldaten patrouillieren täglich schwerbewaffnet durch Paris. Auf den Métro- und S-Bahnsteigen ertönen regelmäßig Warndurchsagen. An den Eingängen von Kaufhäusern, Behörden, öffentlichen Einrichtungen sind Taschenkontrollen Pflicht. Routine. Ein Glas auf der Café-Terrasse zu trinken, kommt heute dennoch nicht mehr einem "heroischen" Akt gleich, so wie unmittelbar nach dem 13. November, als die Gefahr noch greifbarer, bewusster war. Damals galt der Besuch im Bistro als politischer Akt. Im Restaurant sucht sich Gregoire Mauffrey nun nicht mehr unbedingt einen Platz weit weg vom Fenster. Dennoch merkt er an sich selbst: Im letzten halben Jahr hat sich manches sehr verändert. Das bekräftigt auch seine Mutter, Catherine Mauffrey.
    Junge Menschen in einer Bar in Paris
    Scheinbar wie früher: Junge Menschen in einer Bar in Paris (dpa / picture alliance / Nicolas Carvalho Ochoa)
    "Ich schule gerade meinen Blick im Alltagsleben um. Früher bin ich in die Métro oder in den Bus gestiegen und habe nicht mehr hoch geblickt. Nun aber schaue ich mir die anderen Fahrgäste immer ganz genau an. Schwitzt da jemand, obwohl es kalt ist? Lässt jemand einen prall gefüllten Rucksack einfach irgendwo stehen? Ich weiß, mein Verhalten ist eigentlich sinnlos. Aber es beruhigt mich."
    Ihr Sohn fügt hinzu: "Ja, die neue Wachsamkeit. Früher schaute man, ob Taschendiebe unterwegs sind. Heute, ob nicht jemand eine Kalaschnikow dabei hat."
    Der islamistische Radikalismus sei am Erstarken, vor allem in Frankreich, erklärte Premierminister Manuel Valls bei der Präsentation des neuen "Plans gegen Terrorismus und Radikalisierung", den er in dieser Woche vorstellte. Die Mittel werden von 20 auf 60 Millionen Euro aufgestockt, landesweit sollen Entradikalisierungsstellen eingerichtet, soll Dschihadisten-Propaganda mit Gegen-Kampagnen bekämpft werden. Bei der Prävention will Valls, über das Innenministerium hinaus, auch andere Ministerien einbinden: "Das Erziehungsministerium steht natürlich an vorderster Front. Private Bildungseinrichtungen sollen stärker kontrolliert werden. Eine bedeutende Rolle kommt auch der Kultur zu. Der Kampf gegen die Radikalisierung ist vor allem ein Kampf gegen die Aufklärungsfeindlichkeit, die Manipulierung der Gehirne."
    Interkonfessionelle Initiative wirbt für ein friedliches Miteinander
    Der Schock der Attentate sitzt der französischen Bevölkerung tief in den Knochen. Armee und Gendarmerie verzeichnen rekordbrechende Bewerberquoten. Erste-Hilfe-Kurse beim Roten Kreuz und andernorts sind seit Mitte November durchgehend ausgebucht. Seit den Anschlägen ist auch bei "Coexister" die Mitgliederzahl hochgeschnellt. Der Verein wurde vor einigen Jahren von Schülern und Studenten gegründet, als interkonfessionelle Initiative für ein friedliches Miteinander aller Religionen. In der Küche eines katholischen Gemeindezentrums nahe Montparnasse in Paris bereiten Maud Yaiche und ihre Mitstreiter ein kleines Buffet vor – mit vegetarischem Essen. Denn zu der Veranstaltung haben sich, neben Christen und Atheisten, auch Muslime und Juden angemeldet. Maud Yaiche ist die Präsidentin der Pariser Gruppe von "Coexister":
    "Wir gehen unter anderem in Schulen, um Vorurteile gegenüber den Religionen abzubauen – da werden wir heute mit Anfragen geradezu überschüttet. Denn seit den Attentaten wird vor allem die muslimische Bevölkerung stigmatisiert. Ich habe noch nie zuvor so viel Sensibilisierungs-Arbeit geleistet – zurzeit sind wir bei drei Veranstaltungen pro Woche."
    Der Graben ist ziemlich tief geworden
    Nachdem Frankreich erleben musste, dass Menschen jüdischen Glaubens gezielt Opfer terroristischer Anschläge wurden, hatte sich nach den Attentaten im Januar 2015 auch die Zahl der Anschläge auf muslimische Einrichtungen drastisch erhöht. Doch kürzlich gab Innenminister Bernard Cazeneuve bekannt: Im ersten Vierteljahr 2016 sei, im Vergleich zum Vorjahr, die Zahl antimuslimischer und antisemitischer Attacken vehement zurückgegangen, dank entsprechender Regierungsinitiativen. Eine neue Umfrage ergibt, dass die französische Gesellschaft Muslimen gegenüber toleranter geworden sei. Das kann Coexister-Mitstreiterin Noa Levy-Baron allerdings nicht bestätigen. "Eigentlich ist der Wunsch nach einem besseren gesellschaftlichen Miteinander doch etwas Positives. Doch heute nutzt mancher jede Gelegenheit, unsere Worte auf die Goldwaage zu legen, uns an den Karren zu fahren. Auch wenn wir uns bemühen, dagegen anzugehen: Der Graben ist heute ziemlich tief geworden."
    Die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen.
    Politisch im Aufwind. Die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen. (picture allianc / dpa / Kristina Afanasyeva)
    Dass der Graben heute tiefer ist zwischen den in Frankreich lebenden Muslimen, die zumeist französische Staatsbürger sind, und dem Rest der Gesellschaft, dafür sorgt nicht zuletzt die Familie Le Pen mit ihrer Partei "Front National". Der FN punktet bei Wahlen mit seiner islamfeindlichen Politik, der Rhetorik von "Null Toleranz" und der Ansage "Das Boot ist voll". Marine Marechal Le Pen, Shootingstar beim "Front National" und Nichte der Präsidentin der rechtsextremen Partei sagte Ende März in einer TV-Politsendung auf die Frage der Moderatorin: "Gehen Sie soweit, zu sagen, dass es, wäre der Front National an der Macht, weit weniger Attentate gäbe?" Le Pen: "Jedenfalls ist sicher, dass alle Maßnahmen ergriffen würden, um dies zu verhindern. Und wären die Maßnahmen des "Front National" am 13. November schon in Kraft gewesen, hätte es wahrscheinlich kein Attentat gegeben."
    Damit sorgte die rechtsextreme Politikerin zwar landesweit für einen Aufschrei, dennoch rechnet sich die Chefin der Partei, Marine le Pen, für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr gute Chancen aus. Und die Umfragen geben ihr Recht. Maud Yaiche vom Verein "Coexister" mag sich einen FN-Wahlsieg gar nicht vorstellen.
    Der Populismus erstarkt
    "Dann gehen wir bei "Coexister" alle in den Widerstand! Und kämpfen gegen die Stigmatisierung gewisser Bevölkerungsgruppen. Mir macht das Erstarken des Populismus viel Angst. Das ist in ganz Europa zu beobachten, auch in Deutschland, Griechenland, teils auch in Italien. Es ist katastrophal. Wir lehnen uns täglich dagegen auf. Aber es ist sehr hart. Wir haben den Eindruck, machtlos zu sein."
    Mit Macht reagierte der französische Staat auf die zurückliegenden Attentate. Noch in der Nacht des 13. November verhängte Staatspräsident François Hollande den nationalen Notstand. Der 'Etat d'Urgence' gibt Polizei und Justiz sehr weitreichende Befugnisse beim Kampf gegen den Terrorismus. Anfänglich auf drei Monate begrenzt, wurde der Ausnahmezustand mittlerweile zweimal verlängert. Nun bis Ende Juli, bis nach der Fußball-Europa-Meisterschaft und der Tour de France. Die Bedrohungslage sei weiter unverändert, heißt es in der Regierung. Julien Bayou hat von Anfang an befürchtet, dass es nicht bei drei Monaten 'Etat d'Urgence' bleiben würde. Bayou ist Sprecher der grünen Partei "Europe Ecologie - Les Verts" und er beobachtet die aktuelle politische Lage mit Besorgnis.
    "Der Ausnahmezustand bietet keinerlei Schutz"
    "Es ist sehr schwer, dem Premierminister, dem Staatspräsidenten, dem Innenminister und fast allen Abgeordneten diesbezüglich Kontra zu bieten. Sie alle meinen, mit der Verlängerung des Ausnahmezustands das Richtige zu tun. Denn wenn die Regierung diese Maßnahme nun beendet und dann etwas passiert, dann wird sie als Schwächling verschrien. Dabei bietet uns, ehrlich gesagt, der Ausnahmezustand keinerlei Schutz."
    Vor allem aber kritisieren Teile der Grünen, und bei weitem nicht nur sie, dass die Ausweitung der Befugnisse für Polizei und Justiz zulasten mancher Bürgerrechte ging. Hausarrest, Hausdurchsuchungen, Telefon-Überwachung, all das ohne richterliche Anordnung. Die französische Sektion der Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" dokumentierte, dass aus diesen Regeln des Ausnahmezustands Dutzende Fälle von polizeilicher und behördlicher Willkür wurden. Auf öffentlichen Druck hin entschied Premierminister Valls kürzlich das Ende willkürlich anberaumter Hausdurchsuchungen. Dennoch fürchtet nicht nur Julien Bayou, dass der Ausnahmezustand peu a peu zu einem Normalzustand verkomme. Hart ins Gericht geht der grüne Jungpolitiker auch mit François Hollande. Der Staatspräsident hatte vor dem Kongress in Versailles, drei Tage nach den Attentaten, versprochen, er werde die Verfassung ändern. Das Regelwerk für den Notstand müsse modernisiert werden und verurteilten Terroristen, die die französische Staatsangehörigkeit hätten, solle der Pass entzogen werden, hatte der Staatspräsident angekündigt. Da diese Maßnahme aber, weil Staatenlosigkeit nicht erlaubt ist, nur Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit betroffen hätte und sich damit die Einwanderergeneration stigmatisiert fühlte, gab es Widerstand. François Hollande bekam keine Mehrheit für seine Verfassungsänderung, wie er im März schließlich kleinlaut eingestehen musste. Jungpolitiker Julien Bayou beklagt: Der Scherbenhaufen sei groß.
    In Paris kommt es am 9. April 2016 zu Krawallen bei Protesten gegen geplante Arbeitsmarktreformen.
    Krawalle bei Protesten gegen geplante Arbeitsmarktreformen in Frankreich. (dpa / picture alliance / Ian Langsdon)
    "Die endlose Debatte um die Ausbürgerung hat unsere Gesellschaft zutiefst erschüttert. Denn da ging es um das Ende der Gleichheit der Rechte für alle Franzosen. Diese Initiative war ein politischer Kardinal-Fehler."
    Unmittelbar nach dem 13. November beschwor François Hollande mit Verve die nationale Einheit. Der Staatspräsident war plötzlich beliebt wie selten zuvor. Sechs Monate später ist die nationale Einheit wieder dahin und ebenso die guten Umfragewerte für François Hollande. Der Staatspräsident sieht sich mit einer Bevölkerung konfrontiert, die von ihm nichts mehr erwartet. Vor allem die Jugend nicht. In manchen Vorstädten sind vier von zehn Jugendlichen ohne Job. Der Versuch der sozialistischen Führung, mit einer Reform des Arbeitsrechts die verkrusteten Strukturen der französischen Wirtschaft aufzubrechen, droht auch da zu scheitern. Das Paket, das geschnürt wurde, sieht unter anderem einen erleichterten Kündigungsschutz vor. Und dagegen gehen nun Schüler und Studenten auf die Straße. Also jene, denen Hollande eigentlich hatte helfen wollen. In Folge der Proteste wurde das Arbeitsrechtsprojekt mehrfach entkernt und wird jetzt von der Regierung im Eilverfahren durchgedrückt. Auch dies, weil die eigene Mehrheit brüchig ist. Das Eilverfahren stärkt noch einmal den Zorn der Gewerkschaften, die erneut zu landesweiten Protesten aufgerufen haben. Und auch auf dem Platz der Republik fühlen sich die Aktivisten der Bewegung "Nuit Debout", wie der junge Grünen-Politiker Julien Bayou, nicht ernst genommen:
    "In den letzten Jahren hatte die Jugend immer mehr das Gefühl, dass ihr die Zukunft gestohlen wird. Die Attentate haben das noch verstärkt: da sah sich die Jugend gezielt aufs Korn genommen. Der Arbeits-Reformentwurf brachte eine plötzliche Wende. Die jungen Leute reagierten darauf mit einem neuen Slogan: "Wir sind mehr wert als das!" Mehr wert als die lausigen Vorschläge. Mehr wert als die politische Klasse, von der sich die Jugend nicht mehr repräsentiert fühlt. Im Slogan klingt mit, dass sie nun gewillt ist, ihren eigenen Weg zu gehen. Ich habe keinen Schimmer, wo das hinführt. Aber da ist etwas in Bewegung gekommen, das ist sehr ermutigend."
    Kämpfen für eine Gesellschaft, die jedem eine Zukunft bietet
    Seit Ende März diskutieren allabendlich junge Leute auf der Place de la République. Und mittlerweile auch andernorts, über Frankreichs Grenzen hinaus. Tausende kämpfen für eine Gesellschaft, die jedem eine Zukunft bietet. Unter ihnen ist auch Quentin. Der Mittzwanziger ist bei "Nuit Debout" auf der Place de la République tätig. Und schaut nun zur gusseisernen Marianne. Dorthin, wo sich die Andenken an die Opfer der Attentate türmen.
    "Mit unserer Bewegung erobern wir uns den öffentlichen Raum zurück. Und wir machen klar: Wir haben keine Angst. Dass wir die Place de la République besetzen, ist auch eine Antwort auf die Terroristen, die uns von der Straße treiben wollten. Und zudem zeigen wir den Politikern: wenn es um unsere Zukunft geht, will die Zivilgesellschaft mitdiskutieren – und zwar mit jedermann und überall im öffentlichen Raum."