Wie viel SED steckt in der Linkspartei? Wer sich dieser Frage noch einmal zuwenden möchte, sollte die aktuelle Ausgabe von "Horch und Guck" zur Hand nehmen. Themenschwerpunkt: die Linke und alle ihre Vorgängerparteien, die auf Kontinuität oder Neuorientierung hin untersucht werden. Revolutionäres haben die einschlägig profilierten Autoren insbesondere der Überblicksdarstellungen nicht entdeckt. Zeitzeugen oder Historiker wie Manfred Wilke, Ehrhart Neubert, Hubertus Knabe oder Eckhard Jesse haben sich bereits oft zu Wort gemeldet. Gleichwohl ist eine komprimierte Darstellung der Argumentationsmuster immer noch wichtig für die Auseinandersetzung um die Rolle der Partei - auch ein Vierteljahrhundert nach ihrer Mutation von der SED zur PDS.
Nicht zuletzt am Streit um den - inzwischen allerdings grotesk hochstilisierten - Begriff Unrechtsstaat ist zu erkennen, wie schwer es der im Jahr 2007 gebildeten Linkspartei fällt, DDR-Unrecht zu bewerten. Ausgerechnet der 1974 geborene, recht frische Chefredakteur des "Neuen Deutschland" wirft einen kritischen, auch originellen Blick auf die Frage, ob die Linke, die in Thüringen heute einen Ministerpräsidenten stellt, in der Normalität angekommen ist. Es ist mehr als eine legitime Provokation, wenn Tom Strohschneider schreibt:
"...in der Überwindung einer autoritären Parteienherrschaft liegt eine große Leistung. Zum Teil wurde sie von Menschen vollbracht, die zuvor selbst in der SED Mitglied waren und auch über den Epochenbruch hinweg als demokratische Sozialisten aktiv bleiben wollten."
Vermutlich zufällig taucht im Interview viele Seiten später ein Protagonist der Linken auf, auf den genau dieser Satz zutrifft: der Berliner Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich, der 1990 – an seinem 18. Geburtstag – der PDS beigetreten ist. "Horch und Guck" lud ihn zusammen mit dem Dresdner Christdemokraten Arnold Vaatz und Stephan Hilsberg von der SPD zum Streitgespräch – oder sagen wir: zum Austausch von schon oft gehörten Argumenten.
Bisweilen erschöpft die Auseinandersetzung um einen detailreich erforschten Gegenstand wie die einst herrschende Staatspartei – erschöpfende Antworten aber kann es nicht geben. Neue Aktenfunde oder gar Themen, die bislang ein Schattendasein führten, verdichten oder regen neue historische Erkenntnisse an. Im aktuellen Heft von "Horch und Guck" zählt dazu die Geschichte der Rumäniendeutschen, die von der Bundesrepublik freigekauft wurden. Oder – Gysi darf natürlich nicht fehlen – ein Beitrag über den Prozess gegen den Dissidenten Rudolf Bahro. Rechtsanwalt Gregor Gysi vertrat den SED-Abtrünnigen, und wie – das belegt ein jüngst aufgefundener Tonmitschnitt des Gerichtsverfahrens, den Spiegel Online zugänglich macht:
"Die Kompliziertheit dieses Verfahrens besteht für mich als Verteidiger des Herrn Bahro darin, dass ich als Bürger der DDR, als Mitglied der SED und als Rechtsanwalt im besten Sinne des Wortes die politischen Ziele des Angeklagten genauso ablehne wie jeder andere Prozessbeteiligte auch, den Angeklagten selbstverständlich ausgenommen. Aber die Situation ist nicht so besonders, wie das scheint. Ich verteidige auch Diebe, Betrüger, und andere, deren Taten ich gleichfalls ablehne."
Immer wieder überraschend
Gysi tat das, was von einem sozialistischen Anwalt verlangt wurde, er kannte die Spielregeln, hielt sich daran und sollte sich hüten, heute Heldengeschichten über mutige Verteidigungsstrategien zu verbreiten - so das Fazit des Beitrags.
Damit knüpft "Horch und Guck" an seine gute Tradition an. Die historische Publikation hat ihrerseits eine bewegte Geschichte. Initiiert wurde sie im Jahr 1992 von Mitgliedern des Bürgerkomitees "15. Januar". Diese zumeist selbst bespitzelten Oppositionellen beendeten im Januar 1990 mit der Besetzung der Berliner Stasi-Zentrale die Aktenvernichtung. Seitdem streiten sie für Akteneinsicht und Aufarbeitung. Der Stil der frühen Ausgaben von "Horch und Guck" erinnert an Samisdat-Blätter, an Veröffentlichungen aus dem Untergrund: provokativ, fantasievoll, emotional und bisweilen gar von literarischem Wert. Der Verein Bürgerkomitee war getragen vom Elan der gewonnenen Publikationsfreiheit, die den meisten seiner Autoren in 40 Jahren DDR versagt geblieben war. Jetzt wollten sie aufklären, und Machtmechanismen entlarven und dabei verhalfen sie – bewusst oder unbewusst – Opfern staatlicher Repression zu ein wenig Genugtuung.
Doch wie so oft: Feuilletonistische Qualität lässt sich nicht unbedingt halten, zudem war der Herausgeberkreis über den politischen Kurs uneins. Im Jahr 2007 gab es einen Relaunch und das Heft mauserte sich zur historischen Zeitschrift – monothematisch, vierteljährlich, immer wieder überraschend.
Nach neuerlichen Querelen ging die Herausgeberschaft an die Gedenkstätte Museum in der Runden Ecke in Leipzig, und diese ließ viel Zeit verstreichen, bevor sie das nun vorliegende Heft publizierte. Es kommt leider weniger fantasievoll in Layout und Autorenauswahl daher als seine Vorgänger. Vor allem aber haben sich die neuen Herausgeber durch die lange Verzögerung in finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Ein Geldgeber wie die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur verlangt in des Steuerzahlers Interesse die Einhaltung von Förderrichtlinien.
Es wäre betrüblich, wenn die Newcomer im Publikationsgeschäft dieses Problem nicht lösen könnten. Denn die vielstimmige Deutschlandforschung und der interessierte Laie brauchen Publikationen wie "Horch und Guck" – sofern diese junge Autoren zulassen, auf tradierten Erkenntnissen aufbauen, und zeitgemäße neue Fragen aufwerfen.
Infos:
80. Heft von "Horch und Guck", Zeitschrift der Gedenkstätte Museum in der Runden Ecke Leipzig. Preis Einzelheft; 5,90 Euro, Abo mit vier Ausgaben pro Jahr: 20 Euro + 5 Euro für den Versand.
80. Heft von "Horch und Guck", Zeitschrift der Gedenkstätte Museum in der Runden Ecke Leipzig. Preis Einzelheft; 5,90 Euro, Abo mit vier Ausgaben pro Jahr: 20 Euro + 5 Euro für den Versand.