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Seefahrt
Die Geisterschiffe kommen

Es gibt gute Gründe für mehr Autonomie auf den Weltmeeren: Autonome Schiffe würden effizienter fahren und ließen sich günstiger betreiben. Die grundlegende Technik dafür gibt es bereits: Ozeanriesen können heute schon ihren Kurs auf den Meter genau halten, ohne dass ein Mensch seine Hand aufs Steuerrad legen müsste.

Von Piotr Heller |
    Ein Gondoliere mit zwei Touristen in seiner venezianischen Gondel vor dem riesigen Rumpf des 1.800 Passagiere fassenden Kreuzfahrtschiffes "Splendour of the Seas" (Royal Caribbean Cruise Line) auf dem Canale di San Marco, Venedig.
    Wissenschaftler forschen an selbstfahrenden Schiffen. (Andreas Engelhardt)
    Hörtipp: Käpt'n Computer. Die Geisterschiffe kommen - An Ostermontag - 16:30 Uhr (00:46)
    Doch es gibt offene Fragen, auf die Ingenieurskunst alleine keine Antwort geben kann: Wer haftet bei einem Unglück, bei dem kein Kapitän an Bord war? Wie kann Sicherheit garantiert werden? Und wie organisiert man die Wartung eines Schiffes, auf dem keiner reparieren, schweißen oder streichen kann?
    Forscher, die sich mit diesen Fragen befassen, sind Pioniere ihres Fachs. Im norwegischen Ålesund, an den Küsten des Beringmeers und in kalifornischen Werkstätten arbeiten sie an ihrer Vision: Irgendwann sollen Geisterschiffe die Meere durchkreuzen.

    Am 10. Januar 2015 brauste eine Falcon-9-Rakete durch die Nacht. Sie war auf dem Rückweg aus dem Orbit und sollte auf einer Plattform im Meer aufsetzen. Doch der Versuch misslang.
    Die Rakete kam schräg auf, kippte um, explodierte. Man kann das als kleinen Rückschlag für die Raumfahrt werten. Oder aber als großen Erfolg. Für die Schifffahrt. Die autonome Schifffahrt, um genau zu sein.
    Es war nicht irgendeine Plattform, die da nordöstlich von Cape Canaveral im Atlantik schwamm. Es war das sogenannte "Autonome Weltraumhafen Drohnenschiff".
    Hans Königsmann: "Niemand wird sich auf dem Schiff aufhalten und es wird sich auch niemand in einem Umkreis von 10 Meilen um das Schiff befinden."
    Die 90 mal 50 Meter große Landeplattform musste alleine zurechtkommen. Das verlangten die Sicherheitsvorschriften, erklärte der Raumfahrtingenieur Hans Königsmann damals vor dem Landeversuch.
    "Wir haben Wellen von bis zu drei Metern. Am Ersatztermin sind es bis zu vier Meter. Aber das ist kein Problem. Das Drohnenschiff kann seine Position sehr genau halten."
    Der schwimmende Weltraumhafen zeigte eindrucksvoll, was Schiffe heute schon leisten, ohne dass ein Mensch seine Hand auf ein Steuerrad legt. Bald schon sollen sie Waren um die Welt befördern, Küsten bewachen und den Ozeanen ihre Geheimnisse entlocken.
    Das Städtchen Ålesund liegt über mehrere Inseln verstreut am Europäischen Nordmeer. Flugreisenden verheißen Atlantikwinde eine unsanfte Landung. In der Ankunftshalle preisen die Werbemonitore nicht Parfums oder Autos an, wie man es sonst von Flughäfen kennt, sondern maritime Kontrollsysteme. Wer hier ankommt, hat meistens etwas mit Schiffen zu tun. Kein Wunder, denn in Ålesund unterhält die Schifffahrtsabteilung von Rolls Royce ihr Hauptquartier. Der Weg dorthin führt über drei Inseln durch Tunnels unter dem Meer entlang.
    "Gehen wir mal in unser Trainingszentrum."
    Esa Jokioinen geht vorbei an Propellergondeln, Winden und riesigen Diesel-Motoren, hinein in einen dunklen Gang. An dessen Ende steht er plötzlich auf der Kommandobrücke eines Schiffes. Durch die Fenster ist die See zu erkennen und eine Ölbohrplattform. Es regnet, wenn auch nur virtuell. Weil der Boden zwar stillsteht, der Horizont hinter den Fenstern jedoch schaukelt, soll manch erfahrener Matrose seekrank geworden sein. Noch schult Rolls Royce in solchen Simulatoren ausschließlich Seemänner. Doch dabei soll es nicht bleiben.
    "Von Anfang an werden wir unsere Algorithmen und Lösungen in Simulatoren testen. Das Gute ist, dass man auch Extrembedingungen nachstellen kann. Wir können hier also alles testen, bevor wir irgendwas auf ein richtiges Schiff bauen."
    Wie wird die Seefahrt in 20 Jahren aussehen? Solche Fragen erforscht Esa Jokioinen bei Rolls Royce.
    Wie wird die Seefahrt in 20 Jahren aussehen? Solche Fragen erforscht Esa Jokioinen bei Rolls Royce. (Piotr Heller)
    Esa Jokioinen leitet eine Gruppe von Ingenieuren und Forschern, die sich der Frage widmen, wie die Seefahrt in einigen Jahren wohl aussehen könnte. Eines ihrer Ziele: Frachtschiffe bauen, die ohne Besatzung auskommen, die also selbstständig oder zumindest ferngesteuert die Weltmeere durchkreuzen. Jokioinen:
    "An die 900 Menschen sterben jährlich bei Unfällen auf dem Meer. Und 90 Prozent davon sind auf menschliches Versagen zurückzuführen. Die Sicherheit kann durch Automatisierung verbessert werden. Und zwar auch dann, wenn man die Crew nicht komplett abschafft. Assistenzsysteme, verbesserte Sensoren: All das würde schon helfen."
    Die Schiffe könnten nicht nur sicherer, sondern auch effizienter werden. Die weltweiten Flotten stoßen heute in etwa so viel CO2 aus wie der Flugverkehr, aber gleichzeitig das Zehnfache an Stickoxiden. Weniger Verbrauch hieße weniger Emissionen. Doch warum sollte ein Schiff ohne Crew effizienter sein? Esa Jokioinen:
    "Hier sehen Sie ein paar Illustrationen. Das eine ist ein Stückgutfrachter, das andere ein Containerschiff. Und klar zu sehen ist, dass die Schiffe ohne Crew kein Deckshaus haben."
    Das macht sie offensichtlich windschnittig und leicht.
    "Es ist aber mehr als das. Bei heutigen Schiffsentwürfen muss alles für die Crew erreichbar sein und auch auf die Sicherheit der Besatzung muss man achten. Ohne Crew kann man von der Schiffstechnik her gestalten. Man kann die ganze Struktur leichter bauen, weil man die Gewichte und Biegemomente anders verteilt. Und man kann die Form des Rumpfes verbessern, was die Effizienz auch um ein paar Prozent steigert."
    Außerdem könnten autonome Schiffe bei nicht eiliger Ladung langsam fahren. Crewkosten spielen schließlich keine Rolle. Schon eine 30 Prozent langsamere Fahrt würde den Verbrauch halbieren. Doch so schlagkräftig die Argumente für autonome Schiffe sein mögen: Es ist kein Zufall, dass man bis nach Ålesund fahren muss, um Forscher zu finden, die daran arbeiten. Es ist auch kein Zufall, dass die autonomen Ozeanriesen momentan nur auf Bildern oder in Simulatoren existieren. Die autonome Schifffahrt steckt in den Kinderschuhen. Die wenigen Ingenieure, die an ihr forschen, können sich Pioniere nennen. Und dafür gibt es Gründe. Die erfährt man von Leuten, die mit Autonomie gar nichts zu tun haben. Axel Werth:
    "Das ist das Fleet Support Center. Wir sind insgesamt elf Mitarbeiter. Mein Kollege hier vorne und ich, wir gucken, wie das Schiff fährt, so von nautischer Seite her. Und die Kollegen im hinteren Bereich machen dann mehr die Auswertung der von den Schiffen gegebenen Daten."
    Alles unter Kontrolle: Kapitän Axel Werth behält im "Fleet Support Center" 177 Schiffe von Hapag Lloyd im Blick.
    Alles unter Kontrolle: Kapitän Axel Werth behält im "Fleet Support Center" 177 Schiffe von Hapag Lloyd im Blick. (Hapag Lloyd)
    Axel Werth ist Kapitän bei Hapag-Lloyd. Wenn er nicht gerade die Kommandos auf der Brücke eines Containerschiffs gibt, arbeitet er im sogenannten Fleet Support Center in Hamburg. In diesem Raum laufen alle Informationen der 164 Schiffe starken Flotte zusammen: Wetterdaten, Ankunftstermine, Warteschlangen in Häfen. Ein hoher Raum, der von Metallsäulen getragen wird. Ansonsten erinnert alles an ein gewöhnliches Büro. Die Mitarbeiter werten Daten aus und beraten die Kapitäne auf ihrer Fahrt. Allein eine riesige Videowand verrät den Bezug zum Meer. Axel Werth:
    "Ich mache Ihnen die mal an, und dann sehen Sie, was wir sehen und wie das Wetter so aussieht. Es ist ja ein relativ heller Raum hier, ich gebe Ihnen etwas Farbe rein. Und zwar machen wir das am Beispiel der Wetterlage vom Pazifik."
    Die Videowand taucht den Raum in ein grelles Violett. Eine Signalfarbe. Sie entspricht recht hohen Wellen im Pazifik. Werth:
    "Eine typische Winterlage. Und Sie sehen hier, dass hier ein Wellenfeld von ungefähr 13 bis 14 Metern auf die US-Westküste zurollt. Jetzt sehen wir zum Beispiel ein Schiff, welches von Vancouver nach Japan will. Die benötigte Geschwindigkeit für die Ankunft sind 16 Knoten, zurzeit macht er aber 12, weil er einfach nicht schneller fahren kann. Der Wetterprovider empfiehlt 16,2 Knoten, bei dem steht einfach nur ein mathematisches Modell dahinter. Aber die richtige Lageentscheidung, die trifft nach wie vor die Besatzung an Bord."
    Axel Werth kennt das aus eigener Erfahrung: Man muss an Bord sein, um die Lage richtig einzuschätzen
    "Ich merke, wenn das Schiff anfängt zu rollen und es rollt immer mehr, es schaukelt sich auf, es kommt in Resonanz, das merkt man nur, wenn man auf dem Schiff ist."
    Dabei ist der Kapitän nicht einfach ein Technikfeind. Er weiß, was für ein Segen die Assistenzsysteme auf modernen Schiffen sind. Er kennt aber auch ihre Grenzen.
    "Wir haben sogenannte Bahnführungssysteme. Das heißt, wir haben Computer. Alles ist immer Computer. Sie geben einen Abfahrtspunkt ein, einen Endpunkt und Zwischenpunkte. Und dann fährt das Schiff diese Route automatisch ab, fast auf den Meter genau. Der Knackpunkt ist wieder: Wenn zum Beispiel zwei Schiffe an einem Kursänderungspunkt sind, weil sie haben da so magische Punkte, Bab al-Mandab und so, da fahren alle Schiffe lang, die treffen sich da. Wenn Sie da wieder mehrere Schiffe zur selben Zeit an einem Punkt haben: Wer ändert zuerst seinen Kurs? Wer legt Prioritäten fest?"
    Die Besatzung muss also auf schlechtes Wetter achten und anderen Schiffen ausweichen. Alles Argumente, warum man Kapitäne, Offiziere und Steuermänner an Bord braucht. Auf einem Schiff arbeiten aber über 20 Personen. Werth:
    "Alles in allem geht es darum, dieses System Schiff zu erhalten, zu warten, zu pflegen. Das heißt also entrosten, malen, malen, malen. Streichen also. Es ist immer wieder erstaunlich, dass wenn ein Schiff nur kurze Zeit auf See ist, man sieht, wie stark das rostet, allein durch die Gischt und das Salzwasser, was da so kommt. Maschinenleute decken den Maschinenbetrieb ab. Sie sorgen dafür, dass alle Maschinen funktionieren. Es kann sein, es passiert, ich will nicht sagen oft, aber es passiert, dass Brennstoffleitungen platzen, Dichtungen wegfliegen, dann Leckagen sind, und die werden von den Leuten behoben, die auf dem Schiff arbeiten."
    Vorbild Luftfahrt: Der Flugingenieur aus den Siebzigern ist heute verschwunden
    Esa Jokioinen: "Wir haben es hier mit einer Frage der Philosophie zu tun. Die Industrie hat sich daran gewöhnt, dass Mechaniker an Bord von Schiffen sind. Und die reparieren dann eben während der Fahrt.
    Ich stelle mir die Zukunft so vor: Die Maschinen werden standardisierter sein und das wird sie zuverlässiger machen. Da gibt es eine Analogie zur Luftfahrt. In den Siebzigern mussten Flugzeuge bei einem Atlantikflug noch vier Triebwerke und einen Flugingenieur an Bord haben. Heute kommt man mit zwei Triebwerken und ohne Ingenieur aus. Bei Schiffen müsste man die eigentliche Wartung dann stärker in die Häfen verlegen. Das ist machbar."
    Schiffe sollen also ein bisschen mehr wie Flugzeuge werden, meint Esa Jokioinen. Keine große Überraschung, denn Rolls Royce, die Firma, für die er arbeitet, stellt auch Flugzeugtriebwerke her. Und falls doch einmal etwas schiefgeht? Esa Jokioinen zeigt auf seine Konzeptzeichnung für ein autonomes Schiff:
    "Das Bemerkenswerte, was man an diesen Schiffen sieht: Sie haben zwei Propeller. Wir glauben nämlich, dass Redundanz ein Schlüssel für autonome Schiffe ist. An den Propellern sieht man es. Aber es ist mehr als das: Alles muss mehrfach ausgeführt sein von der Kommunikationsverbindung bis hin zu den Sensoren.
    An der Küste würde man das Schiff eher fernsteuern. Ein Operator, also Schiffsführer an Land, hätte alle Informationen zum Schiff, könnte Ausweichmanöver bestätigen und die Fahrt überwachen. Auf offener See würde das Schiff mehr oder weniger autonom fahren und den Operator über das Nötigste informieren. Dann kommt der schwierigste Teil: das Anlegen. Hier können schon kleine Fehler zu einem Unfall führen. Ein Navigator im Hafen könnte diese Aufgabe zum Beispiel mit einer Fernsteuerung erledigen. Dann noch das Festmachen: Heute macht man das mit Seilen, was aber Handarbeit erfordert. Bei unbemannten Schiffen müsste man das etwa magnetisch lösen. In einigen Häfen gibt es bereits Pläne, solche Systeme einzuführen."
    Soweit die Vision von Rolls Royce. Nur: Was sagen die Menschen dazu, die durch die Maschinen ersetzt werden sollen?
    Kann ein Computer auch Spiegeleier braten?
    Direkt am Hamburger Hafen liegt die Seemannsmission Duckdalben. Die Räume holzvertäfelt, Rettungsringe dienen als Verzierung und an diesem Winterabend steht auf jedem Tisch eine Kerze. An einem der Tische sitzt ein Teil der Besatzung eines der größten Containerschiffe der Welt. Zwei Köche, zwei Techniker, alle von den Philippinen. Von den Schiffen ohne Besatzung haben sie gehört.
    "Das ist unmöglich, es wird nicht passieren!"
    "Was, wenn es mitten auf dem Meer Probleme gibt? Die kann dann keiner beheben."
    "Ich bin Schweißer. Alles, was ein Ingenieur von mir verlangt, kann ich erledigen. Für mich ist es unmöglich, dass ein Schiff ohne Besatzung fährt."
    "Doch, es ist möglich. Warum auch nicht?"
    "Die machen Schiffe heute schon nicht perfekt. Für einen Computer muss aber alles perfekt sein. Glaub mir, es wird nicht kommen."
    "Hast du nicht gesehen, was im Hafen von Rotterdam passiert ist? Da gibt es Lastwagen und Kräne ohne Menschen. Das steuert alles ein Computer."
    "Und kann ein Computer auch Spiegeleier braten?"
    "Wenn das Schiff von einem Computer gesteuert wird, brauchst du doch eh keine Spiegeleier."
    Vielleicht hilft es, die Seeleute kurz zu verlassen und den Blick auf andere Branchen zu richten. Denn abseits der großen Handelsrouten behaupten sich autonome Schiffe in Nischen heute schon. Eine Handvoll Rüstungsbetriebe bietet Motorboote an, die ohne Besatzung Küsten abfahren und überwachen. Und Wissenschaftler erforschen mit schwimmenden Drohnen die Meere. Gerade die haben das Potenzial, ihr Metier zu revolutionieren, glaubt zumindest Chris Meinig. Er arbeitet für die amerikanische Ozean- und Atmosphärenbehörde. Im April 2015 stand er mit Kollegen an einem Steg im Städtchen Dutch Harbour in Alaska. Sie ließen ein gut sechs Meter hohes Drohnen-Segelboot zu Wasser. Chris Meinig:
    "Wir waren bei Dutch Harbour am Ufer und die Fischer sind vorbeigekommen und haben gefragt: Was macht ihr denn mit der kleinen Drohne? Wir haben furchtbaren Wind und hohe Wellen hier, die kleine Drohne wird das gar nicht leisten im Beringmeer."
    Doch da sollten sich die Fischer irren. Die Drohne, die Chris Meinig da zu Wasser ließ, war eine sogenannte Saildrone, die Segel-Drohne von Richard Jenkins. Er hat die autonomen Boote in einer Fabrik nahe San Francisco entwickelt:
    "Hier in der Werkstatt bauen wir die Drohnen. Das im Hintergrund ist der Kompressor für die pneumatischen Werkzeuge. Wir arbeiten gerade an der Rumpfform für die nächste Drohen-Generation."
    Der britische Ingenieur hat erst vor ein paar Jahren mit der Arbeit begonnen. Richard Jenkins:
    "Da war ich Berater für eine Meeresforschungsgruppe in Kalifornien. Die nutzten große Schiffe, was extrem teuer war, zig Millionen Dollar hat diese Forschung gekostet. Also schlug ich vor: Können wir das nicht mit einem unbemannten Vehikel erledigen? Mit so etwas wie einer segelnden Drohne. Die Antwort der Forscher lautete: unmöglich."
    Richard Jenkins ist niemand, der gerne hört, dass etwas unmöglich ist. 1998 setzte er sich zum Beispiel in den Kopf, den Weltrekord für windgetriebene Landfahrzeuge zu brechen. Also praktisch Segelboote mit Rädern. Erst elf Jahre und fünf verschiedene Fahrzeuge später hatte er seinen Rekord, als er am 26. März 2009 mit 203 Kilometern pro Stunde über den Wüstenboden von Nevada raste. Das Interessante daran: Im Laufe der elf Jahre hat er das Segel neu erfunden. Sein Segel ist kein Tuch, sondern eine Art Flügel aus Kohlefaser mit cleverer Trimmung. Richard Jenkins:
    "Es funktioniert so ähnlich wie ein Flugzeug fliegt. Bei Flugzeugen hat man am Schwanz das Ruder, es steuert die Neigung des Flugzeuges. Wir haben das Gleiche, nur senkrecht. Der Flügel unseres Boots hat einen Schwanz und darauf ist ein kleines Ruder, das praktisch die Neigung des Flügels im Wind kontrolliert. Das ist ein sehr energieeffizientes System."
    Vereinfacht gesprochen: Ein kleines Ruder steuert den Flügel des Bootes mithilfe der Windkraft. Das macht komplizierte Seilsysteme und Winden, wie man sie sonst von Segelbooten kennt, unnötig. Und es vereinfacht das Segeln derart, dass ein Computer das Boot problemlos steuern kann. Ausgestattet mit Solarpaneelen, GPS-Empfängern, Autopilot und Anti-Kollisions-System schwamm die Drohne im Oktober 2013 über zweitausend Seemeilen von San Francisco nach Hawaii. Eine spektakuläre Fahrt, für Richard Jenkins aber nicht der Rede wert:
    "Nur weil das Boot von einem Ort zum anderen kommt, heißt das nicht, dass es einen Zeck erfüllt. Die wichtigste Mission für mich war die mit der amerikanischen Ozean- und Atmosphärenbehörde. Das Schwierige war, die Klimasensoren zu integrieren und die Drohne in rauen Bedingungen im Beringmeer zu nutzen."
    Das war also die Mission, bei der Chris Meinig die Drohne in Dutch Harbour zu Wasser ließ:
    "Dann haben wir ein kleines Boot genommen, um ihr zu folgen. Dann waren wir zwei oder drei Stunden, Wind war schön, 10 bis 15 Knoten, die Drohne ging so ein bis 1,5 Knoten entlang. Dann haben wir alle Funktionen probiert und wollten sehen, dass die ganzen Sensoren funktionieren und die Kommunikation. So sind wir hinten mit einem kleinen Boot gegangen, nach ein paar Stunden haben wir gesagt: 'Das geht gut.' Haben sie losgelassen und haben gesagt: 'So in drei Monaten werden wir sie wiedersehen.'"
    In der Zwischenzeit sammelte die Drohne Daten zu Wind, Salzgehalt, Sauerstoff und Chlorophyll. Chris Meinig:
    "Wir wissen so wenig über die Fischerei in der Beringsee. Da gibt es eine Art Kabeljau. Wir wissen so wenig von dem. Aber zum Fischen jedes Jahr müssen wir voraussagen, wie viel Kabeljau in vier Jahren wieder da sein wird. Das hat mit den Strömungen zu tun, das hat mit dem Klima zu tun, das hat mit der Säure des Meeres zu tun. Da brauchen wir Sensoren, die Monate dabei sind, damit wir das besser erforschen können."
    Mittlerweile schwimmen fünf dieser Drohnen in den Weltmeeren. Dieses Frühjahr soll wieder eine in die Beringsee stechen. Diesmal mit Echolot an Bord, um die Fische direkt zu analysieren. Und Richard Jenkins arbeitet daran, die Segeldrohnen in Massen zu fertigen. Chris Meinig:
    "Ich würde sagen, das ist der Anfang einer Revolution. Die Roboter werden selbstständig werden, dass jeder miteinander die Kommunikation hat. Da können sie zusammen etwas Forschung. Zum Beispiel, wenn wir jetzt Fische suchen oder die Strömung untersuchen wollen, dann können die Drohnen zusammen sprechen, was sie sehen, und die Wegpunkte alleine machen, um zu die Gegend direkt zu messen."
    Eine Armada autonomer Forschungssegler, das ist die Vision. Und sie zeigt das Potenzial, das in den autonomen Schiffen steckt.
    Denn es geht nicht nur darum, die Crew von den Schiffen zu holen. Es geht auch darum, ganz neue Konzepte zu entwerfen. Oder - im Falle der Segeldrohne - alte Konzepte wiederzuentdecken. Dazu braucht es Kreativität. Die Ingenieure müssen aber auch mit Akribie und Präzision an die Sache gehen, um die vielen kleinen Probleme aus dem Weg zu räumen, die solch eine Pionierarbeit mit sich bringt. Dann klappt es vielleicht auch mit den autonomen Frachtern.
    Wilko Bruhn: "Wir sind in der Land-Kontrollstation oder dem Shore-Control-Center. Von hier aus ist die Idee, dass man diese unbemannten Schiffe überwachen kann."
    Wilko Bruhn sitzt im Fraunhofer-Institut für Maritime Logistik und Dienstleistungen. Im Projekt Munin hat er mit seinen Kollegen bis ins kleinste Detail geklärt, was nötig sein wird, um Handelsschiffe unbemannt fahren zu lassen. Aus dem Projekt sind einige Prototypen für Teillösungen hervorgegangen. So auch die Land-Kontrollstation. Über sie hätte ein Mensch an Land Kontakt zu autonomen Schiffen auf See. Bruhn:
    "Hier sitzt ein Mensch und hat, ähnlich wie ein Fluglotse, eine Übersicht über den Verkehr und sieht: Welchen Zustand hat welches Schiff und kümmert sich um diese Schiffe."
    Der Arbeitsplatz erinnert an den eines Börsenhändlers. Nur dass auf den sechs Bildschirmen keine Aktienkurse, sondern Kurse von Schiffen, Karten, Wetterdaten und Routen abgebildet sind. Noch ist die Land-Kontrollstation nur an einen Computer angeschlossen, der die Schiffe simuliert. Sollten irgendwann echte autonome Schiffe in See stechen, könnten Fraunhofer- Algorithmen sie steuern. Zum Beispiel einer, der praktisch das Gefühl eines Kapitäns für sein Schiff ersetzt, so Bruhn:
    "Das Schiff erkennt selbstständig, dass es sich in einem Sturm befindet, aufgrund der Eigenbewegung, die der Schiffskörper aufbaut und natürlich auch aus den Wetterdaten. Und um den Einfluss der Wellen und des Windes zu reduzieren, kann das Schiff eigenständig die Fahrt verlangsamen oder beschleunigen oder den Kurs etwas anpassen, um Schäden an Ladung und am Schiff zu vermeiden."
    Ein anderer Algorithmus dient dazu, dem Gegenverkehr auszuweichen. Er orientiert sich an den Regeln für den Verkehr auf offener See und nutzt die Positionsdaten der anderen Schiffe. Alles andere würde das Schiff mit einem Sensor-System aus verschiedene Radarantennen und Kameras erkennen, das die Forscher bereits in einem norwegischen Fjord bei Tromsö getestet haben.
    "Zum Beispiel: An unserem Schiff treibt ein schwimmender Container vorbei, der über Bord gegangen ist, dann würde unser Schiff das entdecken und würde sich dann fragen: Was ist denn das eigentlich? Könnte das nicht identifizieren und würde dann eine Nachricht an die Land-Kontrollstation schicken, dann würde diese Kachel hier orange werden. Dadurch wüsste man gleich auf den ersten Blick: Aha, ok, da ist irgendwas, ich muss was tun."
    Der Operator könnte auf verschiedene Weise reagieren: Die Route des Schiffes ändern, die Maschine stoppen, das Ruder selbst per Hand herumreißen. Das Shore-Control-Center bietet dutzende Möglichkeiten, alle Systeme des Schiffes von Land aus zu steuern. Überhaupt ist das Projekt, dem sich die Forscher mit Partnern aus der Industrie gewidmet haben, sehr umfassend. Eine einfache Antwort auf die Frage, wie genau ein autonomes Schiff aussehen wird, hat es nicht geliefert. Dafür mit den Prototypen Ansätze für weitere Forschung. Und sogar soziale Fragen kamen in der Studie auf. Wie wird der Arbeitsmarkt reagieren? Wilko Bruhn:
    "[Aus europäischer Sicht ist es so, dass dadurch qualifizierte Arbeitsplätze bei uns entstehen können. Das ist der Technologievorsprung, den dieser Kontinent hat, den sollten wir versuchen zu halten.] Es wird auch Arbeitsplätze geben, die in dieser Landkontrollstation sind, und auch das werden kompetente Nautiker sein, die diese Stellen besetzen werden. Das wäre mit einer Verkehrszentrale zu vergleichen, in der man rund um die Uhr Schichtdienst hat, aber grundsätzlich ein normales Privat- und Sozialleben hat. Und nicht den Kontakt zu Freunden und Familien massiv erschwert."
    Die Seemannsmission Duckdalben, in der die vier Seeleute von den Philippinen sitzen, ist keine vier Seemeilen Luftlinie vom Fraunhofer-Institut entfernt. Männer telefonieren oder "skypen" mit ihren Familien. Andere spielen Billard. Billardtische stehen in fast jeder Seemannsmission. Es lenkt vom harten Leben auf See ab und erdet die Männer. Denn für Billard braucht man festen Boden unter den Füßen. Auf einem Schiff gibt es den nicht.
    "Die Wissenschaftler haben recht. Es ist hart. Ich vermisse meine Familie. Jeder Seemann weiß das."
    "Wir müssen raus, uns für unsere Familien opfern. Aber sind wir damit glücklich? Nein."
    Dass alle vier von den Philippinen kommen, ist kein Zufall. Über die Hälfte aller Seemänner und -frauen stammt von dort. Insgesamt über 700 000 Menschen. Macht es sie nervös, dass da eine Technik auftaucht, die den Seemann ersetzen könnte?
    "Ein bisschen vielleicht, aber was kann man machen? Das ist ein Teil des Lebens."
    "Ein Schiff, das von Computern gesteuert wird ... Da werden viele Leute leiden. Aber das wird noch lange dauern."
    "Wenn die Wissenschaftler solche Schiffe bauen, wird es den Familien der Seeleute schlecht gehen."
    "Sie werden das Schiff ohne Besatzung bauen. Aber nur eins. Nur, um zu zeigen, dass sie es können. Das ist mein Gefühl."
    Und damit könnte der Schiffskoch Jerry Jerez sogar richtig liegen. Esa Jokioinen von Rolls Royce:
    "Unser Ziel ist es, innerhalb der nächsten drei Jahre bereit zu sein für ein ferngesteuertes Schiff. Das heißt nicht, dass wir es auch wirklich bauen werden. Wir wollen alle Lösungen parat haben, die dafür nötig sind, und dann wollen wir mit den lokalen Behörden in Dialog treten."
    Die Schiffe ohne Besatzung müssen nicht nur gegen Verkehr auf hoher See, gegen Stürme und Kawenzmänner ankommen. Die größte Hürde sind Regulierungen und Vorschriften. Etwa die, dass stets ein wachhabender Offizier auf der Brücke zu sein hat. Der Plan ist deshalb, erst einmal die Technik zu entwickeln und sie in überschaubaren Gewässern zu testen, um Druck auf die Macher der Regelwerke auszuüben. Ähnliches passiert gerade mit autonomen Autos, die mit Sondergenehmigung auf manchen Autobahnabschnitten unterwegs sind. Doch wann werden die ersten autonomen Frachter Waren über die Weltmeere befördern? Jokioinen:
    "Heute würde ich sagen, dass es wohl 2035 eine beachtliche, wenn auch keine große Flotte unbemannter Schiffe geben wird."
    Sollte das wirklich eintreten, wird es auf dem Weg dorthin nicht den einen Tag geben, an dem die Maschinen das Ruder an sich reißen. Auch hier wird es wie beim autonomen Auto laufen: Assistenzsysteme werden schrittweise die Kontrolle übernehmen. Die Schiffe werden lernen, sich auf dem Meer zurechtzufinden, Gefahren zu erkennen, untereinander zu kommunizieren. Es wird keine Revolution sein, die den Seemann von Bord fegt. Es wird eine Evolution sein, an deren Ende vielleicht manch großer Frachter als Geisterschiff die Meere durchkreuzt.