Christiane Kaess: Wieder einmal wird in Deutschland über Zuwanderung diskutiert und wieder einmal wird deutlich, wie sehr das Thema polarisiert – zumindest, wenn es so zugespitzt wird, wie von Bundesinnenminister Horst Seehofer. Der sprach von der Migrationsfrage als Mutter aller politischer Probleme in Deutschland.
Am Telefon ist jetzt Albrecht von Lucke. Er ist Politikwissenschaftler und Redakteur der Zeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik". Guten Tag!
Albrecht von Lucke: Guten Tag!
Kaess: Herr von Lucke, ist die Migrationsfrage die Mutter aller politischen Probleme in Deutschland?
von Lucke: Nein, natürlich nicht, und das macht – man kann es ja wirklich sagen – die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage aus. Es ist nicht mehr und nicht weniger als die absolute Kampfansage an die Kanzlerin. Das ist der Kern dieser Aussage. Und es geht weit über die Frage der Deutungshoheit der letzten Tage hinaus. Er stellt die Schuldfrage. Herr Seehofer sagt das auch expressis verbis, wenn man es weiterliest. Das sage ich seit drei Jahren und das bestätigen viele Umfragen. Das ist eine Aussage, die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land. Man muss ja sich eines bewusst machen: Jeder, der nicht ganz ohne Feinfühligkeit ist, hört natürlich bei der Mutter den Begriff einer Person mit, Mutti, der Spitzname der Kanzlerin im Jargon, und das ist natürlich Merkel, die da in einer Weise angeschossen wird. Das ist gewissermaßen vor der Wahl, die am 14. Oktober in Bayern stattfindet, die Aufkündigung des Burgfriedens. Es geht um die Schuldfrage für das absehbarer Weise verheerende Ergebnis der CSU bei diesen Wahlen, und das ist natürlich eine maximale Kampfansage an die Kanzlerin.
"Ungeheure Verharmlosung unserer Probleme im Land"
Kaess: Jetzt sagen Sie Kampfansage. Aber wählt er nicht auch diese Zuspitzung, weil er weiß, wenn er schwächer formulieren würde, dann würden wir beide zum Beispiel darüber jetzt nicht reden?
von Lucke: Das ist die große Frage. Man hätte auch weit geringere Absetzungen kommentiert. Aber es ist ja eine ganz bemerkenswerte Aussage vor dem Hintergrund einer Situation – und das macht es so fatal -, in der sich schon seit langem eine Spaltung des bürgerlichen, des vermeintlich bürgerlichen Lagers abzeichnet, und das ist so dramatisch. Seit langem versucht die CSU, mit Übernahme der Begrifflichkeiten der AfD diese regelrecht zu imitieren. Das hat Horst Seehofer von Anfang an versucht zu betreiben. Wir müssen uns eines bewusst machen: Der Schweigemarsch, der noch vor wenigen Tagen von der AfD angeführt, im Schulterschluss mit Pegida durch die Straßen von Chemnitz gezogen ist, hatte als Beschreibung von Björn Höcke das Wort, das ist der Schweigemarsch für Daniel H. und die weiteren Opfer der Herrschaft des Unrechts. Die Herrschaft des Unrechts – und Horst Seehofer beruft sich ja noch mal auf seine Politik seit drei Jahren -, das war der Begriff, mit dem Horst Seehofer vor drei Jahren die Politik der Kanzlerin bezeichnet hat. Das ist von der AfD sofort aufgenommen worden, von Alexander Gauland mit Begeisterung, um Sturm zu fahren, um zum Widerstand aufzurufen gegen dieser Herrschaft des Unrechts - damit hat Horst Seehofer der AfD regelrecht das Wort gespendet – und zum Sturm gegen die Kanzlerdiktatorin aufgerufen. Wenn er jetzt sagt, das ist die Mutter aller politischen Probleme – und wir wissen alle, dass interessanterweise Markus Söder noch vor kurzem selber in seiner Rede auf ganz andere, tieferliegende, soziale Probleme hingewiesen hat -, dann ist das natürlich eine ungeheure Verharmlosung unserer Probleme im Land, bei gleichzeitiger Verharmlosung des Rechtsradikalismus und bei Fokussierung auf eine Person, nämlich Angela Merkel, und es bleibt die Frage, wie will die Kanzlerin eigentlich mit diesem Minister noch weiter Politik machen.
"Bürgerliche Mitte muss entscheiden, ob sie klar Stellung bezieht"
Kaess: Jetzt haben Sie selber aber, Herr von Lucke, auch die Spaltung in der Gesellschaft angesprochen, und darum geht es ja auch Horst Seehofer, denn er unterfüttert ja das Ganze, was er heute gesagt hat, oder gestern in dem Zeitungsinterview. Er verweist auf Umfragen. Er sagt, er erlebt auf Veranstaltungen, viele Menschen verbänden ihre sozialen Sorgen mit der Migrationsfrage. Horst Seehofer ist ein erfahrener Politiker. Warum sollte diese Interpretation inhaltlich nicht richtig sein?
von Lucke: Mit Verlaub, wir werden uns doch darüber einig sein, dass die Migrationsfrage nicht die Mutter, wortwörtlich von ihm gesprochen, aller politischen Probleme in diesem Land ist. Das wäre ja eine Verkürzung sondergleichen. Wir haben Probleme, die weit darüber hinausgehen. Übrigens: Man muss sich nur die – und das ist bemerkenswert – absetzende Rede von Markus Söder auf dem letzten CSU-Parteitag anhören. Wir haben soziale Probleme, die übrigens interessanterweise auch lange vor der Migration, die 2015 eingesetzt hat in diesem großen Umfang, und natürlich hat Angela Merkel dabei auch Fehler gemacht. Darüber müssen wir uns nicht streiten. Aber diese Probleme lagen lange vor und sie haben in der Tat natürlich auch dazu geführt, dass die Probleme dann durch die Migration verschärft worden sind. Aber die tieferliegenden Probleme sind natürlich ganz andere, und wenn Horst Seehofer jetzt alles auf die Migrationsfrage als die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land zurückführt, Umweltprobleme, die wir beiläufiger Weise auch noch haben, Fragen von außenpolitischer Dimension – alles ist im Kern ein Problem, im Kern zurückzuführen auf die Migration und damit auf Angela Merkel, das macht es zu einer fast absurden Aussage, die so verheerend ist, und das ist doch so dramatisch. Wir haben gegenwärtig eine Lage, in der sich die bürgerliche Mitte entscheiden muss, ob sie klar zu der Frage Stellung bezieht – Sie haben das ja auch angeführt -, zu der Frage, was dort in Chemnitz passiert ist.
Kaess: Herr von Lucke, lassen Sie uns gleich darauf kommen. Eine Sache, um das noch klarzustellen: Es geht nicht um unsere Einigkeit in diesem Interview, sondern um Ihre Einordnung als Politikwissenschaftler. – Ich möchte Sie aber genau zu Chemnitz auch noch fragen. Wenn Herr Seehofer jetzt sagt, er hat Verständnis für die Empörung in der Bevölkerung wegen dieses Tötungsdeliktes in Chemnitz, und er wäre, wenn er nicht Minister wäre, als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen, natürlich nicht gemeinsam mit Radikalen – muss er nicht auch als amtierender Bundesinnenminister Verständnis für die Sorgen der Menschen zeigen, die da in Chemnitz auf die Straße gegangen sind?
von Lucke: Mit Verlaub, seine Aufgabe als Bundesinnenminister wäre es gewesen, wesentlich schneller vor Ort zu sein. Er hat über eine Woche gewartet, um sich zum ersten Mal überhaupt Position beziehend zu äußern. Er hat sich völlig ungeschönt eingelassen und gesagt, ich war im Urlaub, ich habe die Positionen nicht verfolgt. Allein das ist schon ein Ausdruck der Tatsache, dass er sich konkret mit vielen Themen am Boden der Tatsachen überhaupt nicht beschäftigt hat.
"Kretschmer hat sich ganz klar von der AfD abgegrenzt"
Kaess: Aber er wollte auch abwarten, darauf hat er auch hingewiesen, und genau in diesem Zusammenhang kommt es jetzt zu diesen umstrittenen Deutungen der Ereignisse in Chemnitz. Wir haben auf der einen Seite Ministerpräsident Kretschmer von der CDU und dann auf der anderen Seite seinen Stellvertreter Dulig von der SPD, und die widersprechen sich komplett, weil Kretschmer sagt: Klar ist, es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd und keine Pogrome. Und auf der anderen Seite Herrn Dulig, der sagt, es gab Geflüchtete, die durch die Stadt getrieben wurden. "Das ist passiert, das ist real und es ist beklemmend, weil man wirklich sieht, wieviel Hetze dabei ist und wie aus Hass auch Gewalt wird." – Warum ist das so, dass sich zwei Spitzenpolitiker aus Sachsen hier völlig widersprechen und zu völlig unterschiedlichen Einschätzungen kommen?
von Lucke: Weil Herr Kretschmer da eine ganz, ganz unglückliche Rolle spielt in dieser Situation. Er hat gestern in Teilen eine sehr, sehr klare und zu bejahende Rede gehalten. Wer sich die Rede noch einmal anschaut, kann das feststellen. Er hat sich ganz klar von der AfD abgegrenzt, wesentlich stärker, als vorangegangene CDU-Politiker es in Sachsen jemals gemacht haben. Er hat sich interessanterweise sogar auch von dem bekannten Biedenkopf-Zitat distanziert, das da lautet, die Sachsen wären immun gegen Rechtsradikalismus. Er hat deutlich gesagt, dass der Rechtsradikalismus die größte Gefahr im Lande ist. Damit hat er ganz klar gesagt, dass diese Gefahr anzugehen ist. Aber er hat sich – und das macht es so fatal – mit diesem absurden Zitat, es gab keinen Mob, keine Hetzjagden, kein Pogrom, letztlich dann doch wieder schützend vor die Bevölkerung gestellt. Denn eines ist doch ganz klar: Wir können uns darüber streiten, ob der Begriff Hetzjagd glücklich ist oder nicht. Wir können auch von Jagdszenen sprechen. Das ist jetzt auch die abschwächende Position der Kanzlerin. Aber wir müssen uns doch nicht darüber verständigen, dass es dort einen Mob gegeben hat. Es ist sogar noch viel schlimmer! Es gab expressis verbis echte Rechtsradikale, Nazis, die offen ihre Gesinnung auf der Straße artikuliert haben. Ein Mob ist eine zufällig zusammengekommene Zusammenballung. Man muss sich das nur bewusst machen. Hier handelt es sich um etwas ganz anderes. Es ist eine strategisch organisierte Nazi-Kultur, die dort existiert. Die hat auf der Straße mobil gemacht. Es ist zu Szenen gekommen. Diese zu leugnen – und das macht es so verheerend -, ist die eigentliche Frage, zu der sich die bürgerliche Mitte, vor allem auch die CDU/CSU stellen muss: Ist sie weiter bereit, diese Entwicklungen zu decken, darüber verharmlosend hinwegzugehen, oder ist sie bereit, endlich dem Rechtsradikalismus die Stirn zu bieten und auch deutlich zu sagen, dass die AfD ein Teil mittlerweile ist? Wenn Herr Gauland davon spricht, dass wir das System Merkel und letztlich das System unseres Parteiensystems überwinden müssen, dann ist das keine Sache, die man um die AfD-Wählerinnen und Wähler buhlend angehen sollte, sondern man sollte ganz klar sagen, hier ist ein Trennstrich gezogen und es gilt, dagegen klar Front zu machen. Das ist das Problem: Das tut Herr Seehofer jetzt hier nicht.
Kaess: Aber es gibt ja Bemühungen in CDU und CSU, sich abzugrenzen und ganz klar zu sagen, mit Rechtsextremismus haben wir nichts zu tun. Diese Bemühungen gibt es sogar in der AfD. Wie schwierig ist denn dieser Spagat für Politiker, klar zu sagen, klar den Rechtsextremismus zu verurteilen, aber auf der anderen Seite die besorgten Bürger ernst zu nehmen, wenn diese zusammen mit Rechtsextremen auf die Straße gehen?
von Lucke: Es ist überhaupt nicht schwierig. Hätte beispielsweise gestern Herr Kretschmer deutlicher gesagt, neben all den richtigen Worten der klaren Benennung der Gefahr des Rechtsradikalismus als einer echten systemgefährdenden Gefahr, hätte er klarer gesagt, wir haben hier eine …
"Wir haben es mit einem organisierten Rechtsradikalismus zu tun"
Kaess: Das hat er auch getan. Er hat den Rechtsextremismus klar als Gefahr benannt.
von Lucke: Das habe ich doch gerade gesagt. Aber hätte er noch ausdrücklich dazu gesagt, wir haben es mit weit mehr als mit einem Mob zu tun gehabt, wir hatten es mit klaren Rechtsradikalen, mit Nazis zu tun gehabt, die dort in einer Weise den Staat regelrecht vorgeführt haben, dann hätten wir deutlicher noch zur Kenntnis nehmen können, dass es nicht darum geht, die Sachsen als solche zu diffamieren. Das ist doch gar nicht die Frage gewesen. Auch diese Form jetzt, das spielt der AfD auch in dieser Hinsicht ständig in die Karten. Es geht nicht darum, dieses Problem zu einem Sachsen-Problem zu machen. Im Gegenteil! Dieses Problem geht weit über Sachsen hinaus. Es ist ein Teilproblem des Ostens, aber auch des Westens. Es ist ein echtes Problem, was dieses Land mit einer neuen rechtsradikalen Bewegung hat, und das muss klar benannt werden. Deswegen ist – das war ja die Ausgangsfrage – dieses Zitat von Horst Seehofer so ungeheuer gefährlich. Wenn man jetzt die Migrationsfrage zur Mutter aller politischen Probleme in diesem Lande erklärt, dann macht man ungeschehen, dass es einen Rechtsextremismus weit, weit vor dem Jahre 2015 gegeben hat. Es zieht sich eine Spur von Rostock-Lichtenhagen von 1992 bis heute. Das Problem ist nur: Heute haben wir es mit einem organisierten Rechtsradikalismus zu tun, der mehr und mehr auch in der bürgerlichen Gesellschaft Bahn greift und der dort gewisse Stärken hat, die man benennen muss.
Kaess: Wir müssen, Herr von Lucke, hier einen Punkt machen. – Albrecht von Lucke war das, Politikwissenschaftler und Redakteur der Zeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik". Danke für das Gespräch heute Mittag.
von Lucke: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.