Susanne Fritz: Erst Jahrhunderte später tauchen wieder Männer in der Geschichte auf, die das rationale Denken, den wissenschaftlichen Disput, das vernünftige Abwägen von Argumenten wiederentdecken. Dann im 10. Jahrhundert tauchen plötzlich aristotelischen Schriften wieder auf. In der arabischen Welt war Aristoteles bekannt und geschätzt. Und durch den Kontakt zu den Arabern auf der Iberischen Halbinsel gelangen die Schriften schließlich an die westlichen Universitäten. Wie geht die christliche Kirche damit um?
Richard David Precht: Zunächst einmal ist diese Überlieferungsgeschichte natürlich ein Krimi. Die Araber hatten fast alle zum damaligen Zeitpunkt überlieferten Schriften der griechischen Welt in ihrem Besitz. Und zwar dadurch, dass sie das Perserreich erobert hatten. Die Perser hatten das alle aufbewahrt und so kam es in die arabische Welt, breitete sich in der arabischen Welt aus. Im 10. Jahrhundert kommt der allererste Berührungspunkt zustande zwischen dem arabischen Großreich, das ja mittlerweile ganz Spanien in seinem Besitz hatte, sich um das ganze Mittelmeer hinaus ausgebreitet hatte. Da werden zum allerersten Mal ein, zwei Aristoteles-Schriften überhaupt bis ins Frankenreich hineingetragen. Aber die richtige Auseinandersetzung beginnt erst im 12. Jahrhundert, als der Kontakt mit den Arabern sich intensiviert, unter anderem im Zuge der Reconquista, der Wiedereroberung Spaniens. Da entsteht die Übersetzerschule von Toledo und da werden die Schriften von Aristoteles übersetzt – und das war eine Bombe. Für die christliche Welt war die Wiederentdeckung von Aristoteles eine unglaubliche Provokation. Aristoteles war quasi Atheist gewesen. Aristoteles glaubte nicht an eine große übersinnliche Sphäre. Er glaubte nicht daran, dass die Welt eine Schöpfung ist, sondern dass sie ewig ist und dass sie sich durch physikalische Prinzipien erklären ließ und nicht durch Gottes unerforschlichen Ratschluss. Das war im Grunde genommen so, als würde man in Nordkorea über Nacht das Internet einführen.
Fritz: Das heißt, die Institution Kirche hätte Aristoteles am liebsten in den Giftschrank gestellt. Das konnte sie aber nicht, weil Aristoteles bereits an den Universitäten angekommen war und dort gelehrt wurde.
Precht: Der Hunger der Gelehrten an den wenigen, wenigen Universitäten, die es gab, in allererster Linie war Paris die Universität überhaupt und dort hatten Angehörige der Artistenfakultät, das war so etwas, was man durchlaufen musste in Form eines Grundstudiums, eines Studiums generale, bevor man Theologe werden konnte... Und dort an der Artistenfakultät haben sich viele Aristoteles-Fans gefunden. Und wenn die das öffentlich nicht lesen durften, dann machten die das halt heimlich. Innerhalb kürzester Zeit war der Kirche klar nach vielen, vielen Verboten, die in kürzester Zeit ergangen waren, wir müssen daraus unseren Aristoteles machen, weil wegschließen können wir den nicht mehr.
Fritz: Wir müssen daraus unseren Aristoteles machen, das heißt, die christlichen Theologen haben versucht, das aristotelische Denken mit dem Christentum in Einklang zu bringen. Das schaffte niemand besser als der Dominikanermönch Thomas von Aquin, der im 13. Jahrhundert in Italien geboren wird.
Precht: Thomas von Aquin war zwar nicht der erste – das geht schon mit Albertus Magnus los – aber der einflussreichste Mensch der damaligen Zeit, der Aristoteles rezipiert und verarbeitet hat. Er ist so etwas gewesen, wie der Chefideologe des 13. Jahrhunderts. So wird er zumindest im Nachhinein gesehen, als der Wirkungsmächtigste. Thomas von Aquins Versuch war es tatsächlich, Aristoteles und das Christentum miteinander zu verbinden. Das heißt, ich lese Aristoteles und ich lasse alles zu, bis es kritisch wird. Und da, wo dann vom Wesen und vom Sein und vom Seienden die Rede ist, da mache ich daraus Gott. Auf diese Art und Weise mit sehr, sehr viel Intelligenz und auch sehr subtil gemacht, wird das Christentum mit Aristoteles untrennbar verschmolzen, wie Thomas von Aquin meinte. Wobei sich nicht leugnen lässt, dass immer noch ein Widerspruch zwischen der Vorstellung entsteht, ob die Welt nun in sechs Tagen geschaffen worden ist und vorher nichts da war oder ob es sich um ein ewiges materielles, physikalisches Prinzip handelt. Aber Thomas von Aquin hat eine Menge kluger Gedanken und einige Taschenspielereien darauf verwendet, diesen Riss nicht mehr sichtbar zu machen.
Fritz: Thomas war fasziniert vom aristotelischen Denken und deshalb war sein Anliegen so groß, deshalb wollte er Aristoteles mit dem Christentum verschmelzen. Wie hat er das genau gemacht?
Precht: Zunächst mal muss man noch sagen, das war die Aufgabe eines Theologen, von mir aus Philosophen wie Thomas von Aquin. So viel Macht hat ein Philosoph nie vorher besessen und auch nachher kaum noch wie im 13. und 14. Jahrhundert. Man war ja gleichzeitig Jurist, Ökonom, Politberater und Welterklärer – alles in einer einzigen Person. Und die Schriften wurden so verbreitet, dass sie dann auch quasi dogmatisch befolgt werden mussten. Thomas von Aquin geht von einer göttlichen Sphäre aus. Vermutlich stellt er sich Gott auch nicht als einen alten Mann mit Bart vor, sondern als eine gütige, göttliche Sphäre. Und diese gütige, göttliche Sphäre wirkt auf meinen Intellekt und auf meine Seele ein. Wichtig ist, dass Thomas von Aquin den Intellekt und die Seele untrennbar miteinander verbindet. Das war neu, denn die Araber, die auch bedeutende Philosophen hatten – und Thomas von Aquin kannte die, also Avicenna und Averroes – die hatten überhaupt keine Vorstellung von Seele. Es gibt erstaunlicherweise in der arabischen Welt keine Seelenkonzeption, sondern da gibt es nur den Intellekt. Der göttliche Intellekt korrespondiert mit dem Menschen. Jetzt musste der alte Begriff der Seele, anima, wie sie inzwischen hieß, mit dem Intellekt so verpappt werden, dass man das Göttliche nicht nur im Geist spürt, sondern dass die ganze Seele dadurch durchdrungen werden kann. Da war Aristoteles eine gute Vorlage, weil Aristoteles ja gesagt hatte, man kann den Geist und die Seele nicht trennen. Jetzt wurde dieser alte aristotelische Gedanke, dass Geist und Seele untrennbar im Prinzip des Lebendigen und des Intellektualen miteinander verknüpft sind, mit dem Gedanken verknüpft, dass Gott über die Seele in den Menschen einströmt.
Fritz: Thomas geht davon aus, dass der allgemeine göttliche Intellekt quasi von Gott ausströmt und anteilig in der menschlichen Seele Platz findet. Bedeutet das, dass die Seele dadurch unsterblich wird?
Precht: Ja. Das war natürlich einer der wichtigsten Ziele, die Thomas von Aquin überhaupt hatte. Er benutzte zwar reichlich Aristoteles' Gedankengut, aber Aristoteles war nicht der Überzeugung, dass es eine unsterbliche Seele gibt. Und jetzt hat Thomas von Aquin mit Hilfe von neuplatonischem Gedankengut die Seele wieder unsterblich gemacht. Er benutzt Aristoteles quasi als Fundament. Aber wenn es dann wirklich um die christlichen Inhalte geht, dann wird er etwas neuplatonisch und dann kommt eben dieser Grundgedanke, Gott ist im Menschen, in der menschlichen Seele verankert, die menschliche Seele ist göttlich – und weil sie göttlich ist, ist die unsterblich.
Fritz: Die Diskussion um die menschliche Seele endet natürlich nicht mit Thomas von Aquin und auch nicht mit dem Mittelalter. Die Seele ist immer wieder Thema der Theologie und Philosophie der Neuzeit. Was ist für Sie, Herr Precht, die spannendste postmoderne Vorstellung von der Seele?
Precht: Das Spannendste, was wir gegenwärtig erleben, ist ja der Versuch der Neurowissenschaften, die aller letzten Reste der Seele, die die abendländische Philosophie noch übrig gelassen hat, nun auch noch abzuschaffen und zu ersetzten durch ein determiniertes, vorherbestimmtes Räderwerk in unserem Gehirn, also Synapsen und neuronale Muster. Und es ist sehr schön zu sehen, dass dieses seelenlose Handwerk, die Seele loszuwerden, vermutlich nicht allzu erfolgreich sein wird. Ich glaube, nach einer heftigen materialistischen Phase, die wir gegenwärtig haben, werden wir erkennen, auch die Neurowissenschaftler können nicht erklären, wie unbeseelte Neuronen eine Vorstellung von der Seele im Menschen erzeugen können. Das heißt, der Mechanismus, der Bewusstsein erzeugt, wird sich vermutlich allein mit den Mitteln der Hirnforschung nicht offenbaren lassen.