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Seele in der Philosophiegeschichte
"Die Seele ist das Prinzip des Lebendigseins"

Was geschieht mit der Seele nach dem Tod? Schon die griechischen Denker in der Antike beschäftigten sich mit dieser Frage. So auch der Philosoph Aristoteles, der ein Schüler Platons war. Für ihn war die Seele sterblich.

Der Philosoph Richard David Precht im Gespräch mit Susanne Fritz |
    China: Nanchang Shan Qing Lake Aristotle Sculpture.
    Aristoteles sieht die Seele völlig anders als sein Lehrer Platon (imago)
    Susanne Fritz: Aristoteles wurde im 4. Jahrhundert vor Christus geboren. Kein anderer Philosoph der Antike dürfte so viele Schriften verfasst haben wie er. Selbst seinen Lehrer Platon hat Aristoteles noch übertroffen. Was wissen wir über Aristoteles?
    Richard David Precht: Zunächst einmal ist bemerkenswert, dass Aristoteles ganz anders als Platon, der aus der athenischen Hocharistokratie stammte, ein Ausländer war in den Augen der Athener. Er kam mit 17 nach Athen und er kam aus Stageira, das heißt aus dem Norden Griechenlands, ein Gebiet, das kurz darauf von den Makedonen erobert wurde. Für die vornehmen Athener war er schlichtweg ein Barbar. Trotzdem werden sie einen gewissen Respekt vor ihm gehabt haben. Denn dieser 17-Jährige entwickelte sich in Platons Akademie ziemlich schnell zu einem Musterschüler, der auch schon sehr rasch anfing, eigene Vorlesungen zu halten und eigene Schriften zu verfassen und der dann eigentlich auch der naheliegende Kandidat gewesen wäre, die Nachfolge Platons anzutreten. Das hat er aber nicht gemacht, diese Rolle hat man ihm nicht gegeben. Und manche glauben, das sei der Grund dafür gewesen, dass er dann anschließend Athen verließ, in Kleinasien unterwegs war, an der Küste Kleinasiens, ein paar Jahre sich aufgehalten hat, dort sehr rege naturwissenschaftliche Beobachtungen gemacht hat, Naturforschung betrieben hat, dann später nach Athen zurück kam, selber eine eigene Institution gegründet hat, das Lykeion, von dem das Wort Lyzeum stammt, das wir für Gymnasium benutzen. Und dort hat er alle seine Aufzeichnungen, die er vorher gemacht hat, in Form von Abhandlungen zusammengefasst. Diese Abhandlungen sind uns überliefert. Er hat auch Dialoge geschrieben genau wie Platon, die sind uns nicht überliefert. Also kennen wir auch nur einen Teil von Aristoteles, aber dieser Teil ist schon sehr, sehr beeindruckend.
    Fritz: Und bekannt geworden ist Aristoteles auch als Erzieher von Alexander dem Großen.
    Precht: Ja, es hat ein Intermezzo gegeben von vermutliche zwei Jahren, in denen er als Prinzenerzieher gewaltet hat für Alexander dem Großen. Allerdings wissen wir, so gern wir es ja wollten, eigentlich nichts aus dieser offensichtlich nicht sehr fruchtbaren Zusammenarbeit. Denn Alexander der Große, nachdem was wir über ihn wissen, hat sich nicht als gelehriger Aristoteles-Schüler herausgestellt. Für Aristoteles ist das Lebensideal ein besonnenes, kontemplatives Leben und nicht, ein Großreich zu errichten. Also eigentlich ist der Apfel etwas zu weit vom Stamm gefallen.
    Fritz: Wie endete Aristoteles' Leben?
    Precht: Aristoteles musste Athen ein, zwei Jahre vor seinem Tod verlassen. Das hing mit den politischen Umständen der damaligen Zeit zusammen. Er ist immer als Makedone gesehen worden, was er nicht wirklich von Geburt an ist, aber sein Vater war immerhin Leibarzt des makedonischen Königs. Und er musste in den politischen Wirren der Makedonen-Herrschaft, die ja dann Athen irgendwann erobert haben, sich einverleibt haben, musste er Athen verlassen und ist dann auch kurz darauf verstorben im Alter von 62 Jahren.
    Fritz: In den Gemächern des Vatikanpalastes in Rom befindet sich das weltberühmte Wandfresko "Die Schule von Athen" des Renaissancekünstlers Raffael. Darauf sind die Promis der antiken Philosophie abgebildet. In der Mitte des erlauchten Kreises befinden sich die unübertroffenen Stars Platon und sein Schüler Aristoteles. Beide diskutieren miteinander und machen eine bezeichnende Geste. Platon zeigt mit dem Finger nach oben, der junge Aristoteles deutet mit der Hand nach unten. Was sagt diese Geste über die aristotelische Philosophie aus?
    Precht: Also Platon wird hier wahrgenommen als derjenige, der nach oben zeigt, weil er sagen will, alles, was wir philosophisch wissen, ist nichts anderes als der Abklatsch von höheren Ideen. Das heißt, die Wahrheit liegt nicht in den Dingen, sondern die Wahrheit liegt, wie Platon sagte, jenseits des Fixsternhimmels und da deutet er hin. Wogegen diese Geste von Aristoteles sagt, die zum Ausdruck bringen soll, immer schön den Ball flach halten, das Wesen der Dinge liegt in den Dingen selber. Es liegt nicht außerhalb dessen. Das heißt, er hat Platons Ideenlehre nicht übernommen. Wobei man einschränkend dazu sagen muss, es gibt kaum jemanden, der Platons Ideenlehre damals übernahm. Also das Gedankenexperiment Ideenlehre war zunächst einmal nicht sehr erfolgreich, aber Aristoteles war der erfolgreichste Widerleger.
    Fritz: Wie erlangt man nach Aristoteles Wissen über das Wesen der Dinge, das sich in den einzelnen individuellen Dingen selbst befindet?
    Precht: Durch ganz, ganz gründliche Betrachtung der Dinge. Also nicht dadurch, dass ich versuche irgendein höheres Prinzip zu finden, sondern dass ich das Wesen der Dinge durch ganz genaues Studium selbst ergründe. Zu diesem genauen Studium konnte auch gehören, dass er zum Beispiel einen Glatthai, der an die Küste gespült worden war, aufschnitt und sich ganz intensiv mit der Anatomie des Glatthais vertraut machte, um nicht nur etwas über den Körper, sondern etwas über das Zusammenspiel von Seele und Körper des Glatthais zu ergründen.
    Fritz: Das heißt, sinnliche Wahrnehmung stand am Anfang, aber danach kommt das gründliche intensive Nachdenken, über das, was ich beobachte?
    Precht: Also wer bei der sinnlichen Wahrnehmung stehen bleibt, wird nie ein Philosoph. Er wird vermutlich das, was wir heute einen Naturwissenschaftler nennen. Aber der Philosoph vertraut zunächst einmal seinen Sinnen, das war ja sehr suspekt gewesen in der Philosophie. Aber Aristoteles vertraut den Sinnen und mit Hilfe der Sinne versucht er, die Prinzipien, nach denen zum Beispiel ein Körper organisiert ist oder die Welt im Ganzen organisiert ist, zu ergründen. Das heißt vom Besonderen Stück für Stück auf das Allgemeine schließen. Also das, was wir Induktion nennen.
    Fritz: Wir haben schon viel gehört über die unsterbliche Seele bei Platon, die sich nach dem Tod des Menschen vom Körper trennt und in die Welt der Ideen gelangt. Sie weiß, was die Ideen sind und ist ihnen sogar ähnlich. Die Ideen sind die unveränderlichen Urbilder aller Dinge. Es gibt zum Beispiel bei Platon eine Idee "Mensch" und der einzelne Mensch ist quasi ein sterbliches Abbild dieser ewigen Idee. Wenn die Seele bei Platon jetzt wiedergeboren wird, dann kann sich der Mensch nach langem Denktraining mit Hilfe seiner unsterblichen Seele wieder daran erinnern, was die Ideen eigentlich sind. Soweit bei Platon. Wie sieht es bei Aristoteles aus? Wie sieht er die Seele?
    Precht: Völlig anders. Mit Aristoteles kommt eine ganz neue Vorstellung von der Seele auf. Es gibt ganz kleine Vorbilder vielleicht bei Anaxagoras und vielleicht ein bisschen bei Demokrit. Aber das, was Aristoteles ausarbeitet, ist eine völlige neue Vorstellung. Für ihn ist die Seele die Lebenskraft. Es ist das Prinzip des Lebendigseins. Für dieses Prinzip des Lebendigseins müssen Körper und Geist untrennbar ineinander spielen. Das heißt, die klare Trennung, die Platon gemacht hat zwischen dem sphärischen Geist, der Vernunftseele auf der einen Seite und dem minderwertigen Körper auf der anderen Seite, der eigentlich gar nichts damit zu tun hat und jederzeit von der Seele verlassen werden kann, das kann Aristoteles nicht nachvollziehen, sondern Körper und Geist spielen untrennbar ineinander und die Seele ist das Prinzip des Lebendigseins.
    Fritz: Was bedeutet das letztlich für das Schicksal der Seele bei Aristoteles? Ist sie damit sterblich?
    Precht: Ja, das ist die einzig logische Konsequenz. Er macht eine ähnliche Unterscheidung wie bei Platon. Er sieht den vernünftigen Teil an der Seele, den Geist, den Nous, in dieser Seele walten und der mag möglicherweise unsterblich sein. Der ist irgend so ein kosmisches Prinzip. Aber alles das, was Träger der Individualität eines Menschen ist, ist abhängig von seinem Leib. Es gibt kein Denken, das nicht körperliches Denken ist. Völlig neue Vorstellung. Es ist ein Mechanismus in meinem Hirn, der mich denken lässt und ohne den Mechanismus in meinem Gehirn kann ich nicht denken. Folglich erlischt alles mit dem Tod, was meine Persönlichkeit ausmacht.
    Fritz: Wenn die Seele bei Aristoteles mit dem Körper stirbt, es also keine Wiedergeburt, kein Totengericht gibt, warum sollte der Mensch dann moralisch handeln? Eine Frage, die heutzutage auch immer wieder Atheisten gestellt wird. Ist eine Moral ohne Gott möglich?
    Precht: Das war in der damaligen Zeit tatsächlich eine große Probe für einen Philosophen. Also, solange ich die Seele als etwas Sphärisches betrachte, wie Platon, ist der Weg zur Moral nicht allzu weit. Aber in dem Moment, wo ich das Sphärische eigentlich ausschließe oder auf ein physikalisch Sphärisches reduziere – es gibt ja auch einen unbewegten Beweger, der die Welt irgendwo in Gang hält und so was alles, aber das ist mehr Physik als Metaphysik - und in dem Moment, wo ich mir jetzt nichts sphärisch Religiöses mehr vorstelle – bei Aristoteles gibt es keinen echten Platz für Religion – in dem Moment habe ich das Problem, wie begründe ich Moral. Aristoteles versucht Moral zoologisch zu begründen. So wie er die Seele zoologisch begründet, also das Prinzip des Lebendigen, sagt er, was will der Mensch, auf was ist der Mensch programmiert, von Natur aus natürlich programmiert. Er ist natürlich darauf programmiert, dass sein Leben glückt. Die Pflanze ist natürlich darauf programmiert, dass sie überlebt, also ihr Leben soll einfach nur klappen. Das Tier ist schon drauf aus, dass es mehr Wahlmöglichkeiten hat. Hier geht es darum ein gelingendes Leben hinzubekommen. Aber der Mensch will nicht nur, dass sein Leben gelingt, er will, dass sein Leben glückt. Und damit sein Leben glückt, muss er als geselliges Wesen mit anderen Menschen gut auskommen. Das heißt, ohne Moral kann das menschliche Leben nicht glücken. Die erste zoologische Begründung der Moral.
    Fritz: Wann glückt das Leben bei Aristoteles? Was macht ein erfülltes Leben aus?
    Precht: Sehr, sehr viele Faktoren gehören zu einem glücklichen Leben dazu. Dass das glückliche Leben das Ziel des Menschen ist, da waren sich ja nahezu alle griechischen Philosophen einig. Das Schlüsselwort heißt Eudaimonia. Das ist so etwas, was wir nicht mit Glück übersetzen sollten. Das erfüllte Leben, das ist es, worum es geht. Und das erfüllte Leben findet mit anderen Menschen statt. Das findet nicht in der Einsamkeit statt. Das optimale erfüllte Leben, das Aristoteles skizziert, ist ein Leben in Muße mit ordentlich Reichtum und mit sehr viel Lebensklugheit und sehr viel Lebenspragmatismus, gesteuert von der Phronesis, der Lebensklugheit, die all die verschiedenen Tugenden, die man so haben muss im Leben, also mutig zu sein, gerecht zu sein, barmherzig zu sein und so weiter, in einem klugen Einklang miteinander hält. So etwas würde am Ende dann ein kontemplatives, weises Gelehrtenleben sein. Kurz gesagt, das bestmögliche Leben, das man überhaupt haben kann, ist, ein freier, reicher, griechischer Philosoph zu sein.
    Fritz: Aber dieser glückliche Mensch muss auch gut handeln, um glücklich zu sein, weil das gute Handeln einen Menschen glücklich macht. Also Moral spielt eine große Rolle im Leben des Menschen.
    Precht: Moral spielt eine große Rolle. Wobei das Allerwichtigste an der Moral ist, dass man etwas Gutes will, und nicht das Wichtigste ist, dass etwas Gutes dabei herauskommt. Das war bei Platon schon ganz absolut so. Es gibt einfach nur darum, das Gute zu tun, Punkt, was auch immer am Ende dann die Folgen sind, ist egal. Bei Aristoteles werden die Folgen zwar mit einbezogen, aber man soll nicht gut sein, weil das gut für andere Menschen ist, dass man sie gut behandelt, sondern man soll gut sein, weil man das Gute will.
    Fritz: Gutes Handeln, das heißt im Grunde genommen frei nach dem Motto: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Das wäre Aristoteles' Standpunkt, sehr verkürzt dargestellt. Damit der Mensch an sein Ziel kommt, muss er nach Aristoteles hart und beständig an sich arbeiten. Also so einfach zu haben, ist das dann nicht. Sie haben es gerade schon angedeutet – dabei spielen die Tugenden eine große Rolle.
    Precht: Es ist schon mal auch bei Platon so, man kann nur dann gut handeln, wenn man ganz viel über das Leben weiß, sonst weiß man ja gar nicht, was das Gute ist. Also am Anfang steht Erkenntnis, wissen wollen, die Dinge erkennen, das Wesen der Dinge erkennen. Und wenn man das alles durchschaut hat, dann kann man sein Handeln danach ausrichten. Das spielt eine große Rolle. Das heißt also, Ethik ist quasi die Fortsetzung der Erkenntnistheorie mit praktischen Mitteln.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.