Alle denken, Marie hätte ihr Glück gefunden. Aus der Sozialwohnung ihrer Eltern hat sie es - unweit der französischen Ärmelkanalküste - in ein vorstädtisches Reihenhaus gebracht. Ehemann Stéphane gehört zu den Netten, die beiden Kinder sind süß. Doch dann verliert Marie ihre Arbeit als Kassiererin im Supermarkt; wegen eines Ausrasters gegenüber einem herablassenden Kunden. Von da an wird das vermeintliche Paradies für Kleinfamilien zum Käfig. Der Traum vom Angekommensein wandelt sich zum Albtraum. Der finanzielle Druck wächst. Maries Wahrnehmungen werden immer bitterer, immer deprimierter.
"Wie fing es an? Ich vermute so: Ich bin allein in der Küche und drücke die Nase ans Fenster. Diese Orte ähneln sich so sehr. Sie sind über das ganze Land verteilt und wachsen zusammen, bilden ein Geflecht, ein Netz, eine Schicht, eine unbeachtete Parallelwelt. Millionen vollkommen gleicher Häuser, Schaukeln, Barbecue-Grills, Geranien, Stiefmütterchen, Millionen laufender Fernsehgeräte in Conforama-Wohnzimmern. Millionen gesichtslose Männer und Frauen, unscheinbare, gleichförmige Existenzen. Der banale Alltag moderner Siedlungen, die Stadt nutzlos und fern. Das Leben hatte Wände hochgezogen um uns herum, dahinter lief etwas vorbei, uns reichte es gerade noch, den Kopf in den Nacken zu legen, uns zu recken und ein ganz vages Bild zu erhaschen von dem, was uns entging, was wir hier verpassten."
Die übliche Vorstadtdepression - denkt man zunächst. Doch verbirgt sich hinter Maries beginnendem Absturz mehr. Ein altes Trauma drängt nach oben, das Olivier Adam schon mehrfach in seinen Romanen und Erzählungen thematisiert hat: der Geschwisterverlust. Den tödlichen Autounfall ihrer einzigen Schwester kurz vor dem Erwachsenwerden hat die Ich-Erzählerin Marie jedenfalls nie verkraften können, auch nicht durch ihre übersteigerte Liebe zu ihren beiden Kindern. Anfallsweise bricht die Erinnerung über sie herein. Das Gleichgewicht der Kleinfamilie beginnt dann zu kippeln. Ehemann Stéphane, ein Schulbusfahrer, achtet deshalb immer darauf, dass Marie nicht vergisst, ihre Medikamente zu schlucken. Auch an dem Tag als sie nur so tut als ob.
"In meiner geballten Faust ein Brei aus Antidepressiva, Puder und Gelatine. Stéphane drehte sich zu mir, er fing meinen Blick auf und sah mich so eindringlich an, dass ich den Eindruck hatte, er wolle zum Sprung ansetzen, in mich eintauchen und untergehen oder mich schälen, wie eine Frucht, Haut für Haut, bis er verstand und das Gute vom Schlechten trennen konnte, den Dreck entfernen, die Fäulnis herausschneiden. Er küsste mich zärtlich, seine Lippen waren trocken, die Schuppen eines Fisches, kleine Rasierklingen auf meinem Mund."
In seinem Roman "Nichts was uns schützt" zeichnet Olivier Adam minutiös Maries höchst widersprüchliche seelische Schieflagen nach. Sie ist immer weniger in der Lage, ihre Wahrnehmungen zu kanalisieren. Deshalb sieht sie buchstäblich zu viel, fühlt sich überfordert und handlungsunfähig. Das scheint sich zu ändern als sie zufällig in eine Gruppe ehrenamtlicher Helfer gerät, die sich um die illegalen Flüchtlinge an der Kanalküste kümmern. Sie kommen aus Afghanistan, Iran oder Afrika und wollen nach England. Das Problem: ihnen zu helfen ist nach französischem Recht strafbar; was Marie aber nicht schreckt, sondern zusätzlich motiviert. Sie glaubt, endlich ihren persönlichen Rettungsanker gegen die Depression gefunden zu haben. Denn sie fühlt sich nützlich und mit jedem Tag lebendiger. Doch gerät Marie rasch in einen Zwiespalt. Denn sie beginnt ihre Kinder und den Haushalt zu vernachlässigen. Durch ihr immer übersteigerteres Bedürfnis, den Notleidenden zu helfen, droht sie ihre Familie zu verlieren.
"Stéphane sagte: 'Marie, in der Schule gibt es Kinder, die nicht mehr neben Lise und Lucas sitzen wollen und sie beleidigen, die rufen, ihre Mutter sei eine Hure, sie schlafe mit Flüchtlingen, sie sei verlaust und dreckig, und weißt du was, Marie? Das ist auch noch nicht alles, verstehst du, auch ich leide darunter, ich auch, erst gestern grölten diese kleinen Scheißer im Bus herum, deine Frau lutscht Kosovaren. Ich warf sie raus. Zehn dieser Scheißer in einem Zuckerrübenfeld.'"
Und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Denn Stéphane wird beurlaubt. Marie aber kann nicht nachgeben. Nachgeben wäre für sie gleichbedeutend mit dem Rücksturz in die Angst vor dem Selbstverlust. Ohne falsches Pathos, in einfachen, kargen Sätzen beschreibt Olivier Adam die Spirale der Eskalation auf zwei Ebenen: als innerfamiliären und als politischen, an der Kanalküste bis heute gärenden, Konflikt. Sein von der ersten Seite an bewegender Roman "Nichts was uns schützt" steigert sich - ausgehend vom ganz Alltäglichem - zu einem verstörenden Psychogramm einer Gratwanderung am Abgrund des Wahnsinns. Gekonnt entgeht Olivier Adam dabei den Fallschlingen einer fasch verstandenen engagierten Literatur. Denn wie in seinen früheren Romanen und Erzählungen auch gelingt es ihm, durch psychologische Genauigkeit zu überzeugen: gerade auch in der Zeichnung der illegalen Einwanderer. Dieser französische Autor hat ein untrügliches Gespür für schlingernde Existenzen. Ohne jeden Sozialkitsch rückt er die so gern übersehenen Verlierer von heute in den Fokus seiner atmosphärisch dichten, zupackenden Prosa.
Olivier Adam: Nichts was uns schützt
Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009. 208 Seiten, 19,90 Euro.
"Wie fing es an? Ich vermute so: Ich bin allein in der Küche und drücke die Nase ans Fenster. Diese Orte ähneln sich so sehr. Sie sind über das ganze Land verteilt und wachsen zusammen, bilden ein Geflecht, ein Netz, eine Schicht, eine unbeachtete Parallelwelt. Millionen vollkommen gleicher Häuser, Schaukeln, Barbecue-Grills, Geranien, Stiefmütterchen, Millionen laufender Fernsehgeräte in Conforama-Wohnzimmern. Millionen gesichtslose Männer und Frauen, unscheinbare, gleichförmige Existenzen. Der banale Alltag moderner Siedlungen, die Stadt nutzlos und fern. Das Leben hatte Wände hochgezogen um uns herum, dahinter lief etwas vorbei, uns reichte es gerade noch, den Kopf in den Nacken zu legen, uns zu recken und ein ganz vages Bild zu erhaschen von dem, was uns entging, was wir hier verpassten."
Die übliche Vorstadtdepression - denkt man zunächst. Doch verbirgt sich hinter Maries beginnendem Absturz mehr. Ein altes Trauma drängt nach oben, das Olivier Adam schon mehrfach in seinen Romanen und Erzählungen thematisiert hat: der Geschwisterverlust. Den tödlichen Autounfall ihrer einzigen Schwester kurz vor dem Erwachsenwerden hat die Ich-Erzählerin Marie jedenfalls nie verkraften können, auch nicht durch ihre übersteigerte Liebe zu ihren beiden Kindern. Anfallsweise bricht die Erinnerung über sie herein. Das Gleichgewicht der Kleinfamilie beginnt dann zu kippeln. Ehemann Stéphane, ein Schulbusfahrer, achtet deshalb immer darauf, dass Marie nicht vergisst, ihre Medikamente zu schlucken. Auch an dem Tag als sie nur so tut als ob.
"In meiner geballten Faust ein Brei aus Antidepressiva, Puder und Gelatine. Stéphane drehte sich zu mir, er fing meinen Blick auf und sah mich so eindringlich an, dass ich den Eindruck hatte, er wolle zum Sprung ansetzen, in mich eintauchen und untergehen oder mich schälen, wie eine Frucht, Haut für Haut, bis er verstand und das Gute vom Schlechten trennen konnte, den Dreck entfernen, die Fäulnis herausschneiden. Er küsste mich zärtlich, seine Lippen waren trocken, die Schuppen eines Fisches, kleine Rasierklingen auf meinem Mund."
In seinem Roman "Nichts was uns schützt" zeichnet Olivier Adam minutiös Maries höchst widersprüchliche seelische Schieflagen nach. Sie ist immer weniger in der Lage, ihre Wahrnehmungen zu kanalisieren. Deshalb sieht sie buchstäblich zu viel, fühlt sich überfordert und handlungsunfähig. Das scheint sich zu ändern als sie zufällig in eine Gruppe ehrenamtlicher Helfer gerät, die sich um die illegalen Flüchtlinge an der Kanalküste kümmern. Sie kommen aus Afghanistan, Iran oder Afrika und wollen nach England. Das Problem: ihnen zu helfen ist nach französischem Recht strafbar; was Marie aber nicht schreckt, sondern zusätzlich motiviert. Sie glaubt, endlich ihren persönlichen Rettungsanker gegen die Depression gefunden zu haben. Denn sie fühlt sich nützlich und mit jedem Tag lebendiger. Doch gerät Marie rasch in einen Zwiespalt. Denn sie beginnt ihre Kinder und den Haushalt zu vernachlässigen. Durch ihr immer übersteigerteres Bedürfnis, den Notleidenden zu helfen, droht sie ihre Familie zu verlieren.
"Stéphane sagte: 'Marie, in der Schule gibt es Kinder, die nicht mehr neben Lise und Lucas sitzen wollen und sie beleidigen, die rufen, ihre Mutter sei eine Hure, sie schlafe mit Flüchtlingen, sie sei verlaust und dreckig, und weißt du was, Marie? Das ist auch noch nicht alles, verstehst du, auch ich leide darunter, ich auch, erst gestern grölten diese kleinen Scheißer im Bus herum, deine Frau lutscht Kosovaren. Ich warf sie raus. Zehn dieser Scheißer in einem Zuckerrübenfeld.'"
Und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Denn Stéphane wird beurlaubt. Marie aber kann nicht nachgeben. Nachgeben wäre für sie gleichbedeutend mit dem Rücksturz in die Angst vor dem Selbstverlust. Ohne falsches Pathos, in einfachen, kargen Sätzen beschreibt Olivier Adam die Spirale der Eskalation auf zwei Ebenen: als innerfamiliären und als politischen, an der Kanalküste bis heute gärenden, Konflikt. Sein von der ersten Seite an bewegender Roman "Nichts was uns schützt" steigert sich - ausgehend vom ganz Alltäglichem - zu einem verstörenden Psychogramm einer Gratwanderung am Abgrund des Wahnsinns. Gekonnt entgeht Olivier Adam dabei den Fallschlingen einer fasch verstandenen engagierten Literatur. Denn wie in seinen früheren Romanen und Erzählungen auch gelingt es ihm, durch psychologische Genauigkeit zu überzeugen: gerade auch in der Zeichnung der illegalen Einwanderer. Dieser französische Autor hat ein untrügliches Gespür für schlingernde Existenzen. Ohne jeden Sozialkitsch rückt er die so gern übersehenen Verlierer von heute in den Fokus seiner atmosphärisch dichten, zupackenden Prosa.
Olivier Adam: Nichts was uns schützt
Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009. 208 Seiten, 19,90 Euro.