Thorsten Latzel, der Chef der Evangelischen Kirche ist Rheinland (EkiR), war tageland unterwegs in den von Hochwasser zerstörten Orten. Er führt über seine Begegnungen und Eindrücke ein Videotagebuch. "Das sind Eindrücke, die sich wirklich nur schwer schildern lassen. Wenn man in eine Stadt kommt, merkt man, wie überall das Leben von den Menschen auf der Straße liegt", sagte er im Interview mit dem Deutschlandfunk. Die Zerstörung sei für die Menschen "tief traumatisierend".
Seelsorge bestehe vor allem darin, das Leid der Betroffenen wahrzunehmen. Die Menschen funktionierten zunächst. "Aber wenn sie zur Ruhe kommen merkt man: Da ist ganz viel Leid und Schmerz vorhanden", so Latzel. Der Präses der EKiR warnt vor Deutungen, die im Netz kursieren. Die Flut werde als Gottesgericht oder göttliche Strafe bezeichnet, dies seien "Schreibtischspekulationen". Die Seelsorgerinnen und Seelsorger drängten sich nicht auf, sie wollten auch niemanden behelligen, der mit Religion nichts zu tun haben wolle. Es gehe nicht um die Verkündung, sondern darum, "einen Raum für Klage, für Trauer, für Fürbitte zu geben".
Auf die Frage, ob die Fotos von Kirchenvertretern im Hochwassergebiet eine PR-Aktion seien, antwortete Latzel: "Mir ist es wichtig, dass wir unsere Menschen vor Ort stärken. Das zu vermarkten, jede Form, wo ich glaube, das zu instrumentalisieren, das ist einfach nur schräg."
Das Interview im Wortlaut:
Susanne Fritz: Am Wochenende haben viele Menschen in den von den Unwettern betroffenen Regionen bange Stunden verbracht. Wie stark würde es wieder regnen, drohen neue Überflutungen? In Belgien, London und im Allgäu war dann ja auch wieder Landunter beziehungsweise Sturm und Hagel. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz konnten die Menschen dagegen aufatmen, auch wenn die Lage weiter angespannt ist. Immer noch werden Menschen vermisst. Der Hausrat türmt sich in den Straßen, durch Müll verdorbene Lebensmittel und zerstörte Kläranlagen droht Seuchengefahr. Von Normalität kann also noch lange nicht die Rede sein. Thorsten Latzel, der neue Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, war nach der Katastrophe in der Eifel unterwegs und hat seine Eindrücke in den sozialen Medien geschildert. Guten Morgen!
Thorsten Latzel: Frau Fritz, ich grüße Sie, guten Morgen.
"Ganz viel Schmerz und Leid"
Fritz: Herr Latzel, wie geht es den Menschen in den betroffenen Überschwemmungsgebieten in der Eifel?
Latzel: Ja, man muss erstmal sagen, das sind wirklich traumatisierende Erfahrungen, die Menschen da machen. Ich war drei Tage unterwegs, habe Gemeinden besucht, mit Helferinnen geredet, aber vor allem mit den Menschen, die selber dort leben, betroffen sind. Das sind Eindrücke, die sich wirklich nur schwer schildern lassen. Wenn man in eine Stadt kommt und insgesamt merkt, wie überall das Leben von den Menschen auf der Straße liegt. Überall abgerissene Brücken, Schlamm. Viele Menschen sind jetzt erst mal in so einer ersten Kriseninterventionsphase. Also Menschen funktionieren, machen einfach das Nötigste, schaffen erst mal Sachen raus. Aber man merkt, sobald man etwas mit Menschen redet, die etwas zur Ruhe kommen: Da ist ganz viel Schmerz und Leid einfach vorhanden. Bei anderen ist es noch so, dass wirklich Menschen vermisst werden, dass sie noch nicht wissen, Klarheit haben: Wie ist das mit den Angehörigen. In anderen Städten, wo wir gewesen sind, zum Beispiel in Schweinheim, war gerade die Situation, dass Menschen erstmals zurück durften, nach Tagen, zu den eigenen Häusern, und dann auch nur kurz, um die verderblichen Lebensmitteln rauszuwerfen. Es sind Häuser, die einsturzgefährdet sind, von denen man nicht weiß, ob man jemals wieder zurück in sein Haus einfach darf. Das sind ja tiefe Einschnitte im Leben von Menschen.
"Erst später kann man das verarbeiten"
Fritz: Sie haben gesagt, sie haben mit den Menschen geredet, viele haben ihren gesamten Besitz verloren, er ist zerstört worden oder verwüstet. Welche Gespräche haben Sie mit den Betroffenen geführt?
Latzel: Einmal, dass man natürlich mit Menschen reden konnte, die wirklich gerade dabei sind, das Haus zu reinigen, etwas zu machen. Ich bin mit einer Notfallseelsorgerin durch Ehrang gegangen. Das war ein ganz skurriles Bild. Das war also auf einmal: Die Sonne schien wieder und alle waren draußen, überall, als hätte man sich kollektiv zum Sperrmüll verabredet. Aber nur, dass das nichts Freiwilliges war, sondern mit Schlamm überdeckt gewesen war, von den Menschen. Wir hatten Kaffee und Brötchen und Schokokekse, so Nervennahrung, dabei. Eigentlich war dieser Ruf der Pfarrerin: "viel Kraft, viel Kraft". Das war dieser einfache Satz, weil man sonst kaum etwas anderes sagen konnte in dieser Situation als den anderen Mut zu machen, durchzuhalten.
Es gibt andere Situationen, wo die Menschen noch in einer völlig anderen Phase waren, wo sie noch gar nicht rausräumen durften und erst mal zurückkommen konnten an der Stelle. An anderer Stelle, wo wir waren, wir waren in Leverkusen, wo äußerlich auf den Straßen jetzt nicht mehr so die Sachen zu sehen waren. Wo außen viel weggeräumt wurde. Aber wenn man dann in die Häuser rein geht, dann merkt man, wie tief traumatisierend das ist, wenn die Leute sagen: "Hier war mein Arbeitsplatz, da ist nichts mehr." In eine Kita reinzugehen, wo viel von den Kindern mit Liebe gemacht worden ist. Dann geht dann so eine Walze durch mit einer ungeheuren Wucht, einfach einer zerstörerischen Kraft. So eine Sinnwidrigkeit zu erfahren und dann einfach zu merken: Das macht ganz ganz viel mit Menschen. In der ersten Phase sind die Menschen noch gar nicht beim Sprechen dran, weil sie gar nicht darüber nachdenken können, den Schmerz nicht hoch lassen können. Erst später, wenn man etwas zur Ruhe kommt, kann man darüber reden. Genau, erst dann kommt man dazu, das zu verarbeiten.
Fritz: Immer wieder haben Betroffene der Unwetterkatastrophe in den vergangenen Tagen von der Hilfsbereitschaft erzählt, die sie erfahren haben. Sie haben gerade von Mutmachen gesprochen. Wie haben Sie den Menschen dort noch helfen können?
Latzel: Erstmal muss man sagen, es ist beeindruckend zu sehen, welche Hilfsbereitschaft im Augenblick vorhanden ist, also ob THW, Feuerwehr, Bundeswehr, Polizei. Bei uns natürlich auch die Notfallseelsorgerin, die vor Ort ist mit hoher Kompetenz, sich um die Menschen vor Ort kümmern, aber auch um die Einsatzkräfte. Auch da muss man sagen: Es kamen Menschen dabei ums Leben, anderen zu helfen. Wir als Kirche organisieren natürlich schnell einfach auch Spenden. Gemeinsam mit der Diakonie haben die westfälische und die rheinische Kirche eine große Sammlung machen können. Auch bundesweit sammelt die EKD dafür. Wir haben ein Nothilfe-Netz über die Ortspfarrerinnen. Das sind häufig Schaltzentralen für die Ehrenamtlichen, die sich hier gemeinsam mit vielen anderen Menschen einbringen.
Wir bieten geistliche Räume an. Der Bürgermeister in Sinzig - das ist der Ort, wo das schreckliche Unglück passierte, wo zwölf Menschen in einem Behindertenwohnheim ums Leben kamen – der Bürgermeister drückte es dann so aus bei einem Gedenkgottesdienst: "Das war der erste Moment, in dem ich zur Ruhe kommen konnte und weinen konnte." Ich glaube, das ist etwas, wo wir helfen können, jetzt Menschen auch Räume, Orte zu bieten, um Sachen zu verarbeiten, um ihre Geschichten zur zählen. Das habe ich immer wieder erlebt, wie Menschen einfach erzählen wollten auch von dem, was sie mitgemacht haben, diese große Katastrophe im Kleinen einfach wahrzunehmen.
"Skurrile Katastrophenidylle"
Fritz: Sie haben Ihre Eindrücke ausführlich auf Facebook in einem, ja man könnte sagen, Tagebuch geschildert. Warum ist Ihnen Öffentlichkeit so wichtig?
Latzel: Ich glaube, weil es ganz vielen Menschen bei uns so geht, dass wir sagen: Wir nehmen etwas davon wahr, aber dann die Menschen ihre eigenen Geschichten erzählen zu lassen und zu merken, was das mit Menschen macht an dieser Stelle. Den Menschen dort vor Ort zu signalisieren: Ihr seid nicht allein, wir sind da, wir helfen euch mit allem, was wir wirklich mit Organisation, Hilfe, Geldspenden auch machen können, aber auch wichtig, das wahrzunehmen. Und es ist was völlig anderes, merke ich, wenn... manchmal gibt es ja so spekulative Reden im Netz, was mich wundert, über Gericht Gottes, so Schreibtischspekulation. Es ist etwas völlig anderes, vor Ort zu sein, mit Menschen zu reden, die Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Ich habe dann so eine Andacht gehalten, an der Ahr, an einem ehemaligen Campingplatz, wo diese Schlammwalze wirklich alles umgewälzt hat. Der ganze Campingplatzes war unterhöhlt, da guckte ein Bügeleisen aus dem Boden heraus, umgefallene Bäume, und auf einmal fließt daneben so ganz ruhig dieses Bächlein noch. Das war so eine skurrile Katastrophenidylle, muss man fast sagen. Da ist mir wichtig, genau das zu sagen. Irgendwie versuchen, auch wieder Worte, Sprache zu finden, um das irgendwie verarbeiten zu können.
"In Gemeinschaft verarbeiten, Sprache finden, Klageräume haben"
Fritz: Es geht ihnen also auch darum, ihren christlichen Glauben, ihren evangelischen Glauben zu verkünden. Wie machen Sie das? Wie verkündet man angesichts einer solchen Katastrophe den evangelischen Glauben?
Latzel: Es ist weniger, würde ich sagen, Verkündigen von mir, sondern zu sagen, nach Gott zu fragen an diesem Ort. Es gab für mich so ein Symbol dafür: Ich bin mit dieser Notfallseelsorgerin durch die Straßen gegangen und eine Frau hatte dann ein Kruzifix von ihrer Großmutter aus dem Schlamm im Keller dann rausgeholt, es stand auf so einer roten Plastikbox. Und das war irgendwie dieses Bild für mich: Christus im Schlamm. Es ist zu entdecken, eine Sprache zu schaffen, also zu merken, Gott als mitleidend an der eigenen Seite zu erfahren. Und ich glaube, das ist etwas, was Menschen eine Hilfe geben kann. Wir haben das bei verschiedenen Gottesdiensten auch vor Ort erlebt, mit Helfern, zu merken, in den Sprachen der Psalmen, in alten Liedern, etwas von diesem Gefühl "in Einsamkeit mein Sprachgesell". Also eine Sprache für die eigene Seele zu finden, in der Gemeinschaft mit den anderen etwas verarbeiten zu können, meine eigenen Erfahrungen auch in Sprache kleiden zu können, Klageräume zu haben, Fürbitte, aber auch Dank für Errettung. Da sagen auch andere Menschen: Mensch, ich bin ich froh, dass wir mit dem Leben davonkamen oder dass sie Rettungserfahrungen, Hilfeerfahrungen erfahren haben. Ein Mensch, drückte das so für mich aus, der diese Hilfe erfahren hat, sagte: Ich habe den Glauben an die Menschheit wieder.
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Fritz: Jetzt ist es ja so, dass es in Deutschland auch viele Menschen gibt, die mit Religion nicht mehr viel anfangen können. Wollen diese Menschen überhaupt dann in einer solchen Situation von einem Mann der Kirche behelligt werden?
Latzel: Ich glaube nicht, dass es um behelligen geht, da wir niemandem irgendetwas da aufzwingen. Die Notfallseelsorger werden, glaube ich, als Menschen erfahren, gerade vor Ort, die sehr dicht einfach dran sind. Unserer Gemeinde, unsere Ortspfarrerin vor Ort, die da sind, die helfen, ganz niederschwellig. Die sind auch, was wir anbieten können an dieser Stelle, öffentliche Räume auch zu haben für das Unaussprechliche, für das, wo ich einfach merke, was tief geht. Wenn Sie durch einen Ort gehen, wo Häuser weggeschwemmt werden, wo alles kopfsteht und die Frage ist: Was hält mich dann eigentlich? Was gibt mir eigentlich Trost? Da glaube ich, dass es überhaupt nicht darum geht, zu verkündigen, sondern Gott nahe bei den Menschen zu erfahren und einen Raum für Klage, für Trauer, für Fürbitte zu geben.
"Das zu instrumentalisieren, das ist einfach nur schräg"
Fritz: Auch Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, ist in die Katastrophengebiete gereist, um sich ein Bild von der Lage zu machen und den Menschen nahe zu sein. Er hat sich dann beim spontanen Sperrmüllschleppen fotografieren lassen. Das wirkte ein bisschen merkwürdig. Vermarkten die katholische und evangelische Kirche gerade auch ein bisschen ihren Glauben?
Latzel: Ich kann da über die Bildsprache von einzelnen Sachen nichts drüber sagen. Mir ist es wichtig, dass wir unsere Menschen vor Ort stärken. Das zu vermarkten, jede Form, wo ich glaube, das zu instrumentalisieren, das ist einfach nur schräg. Es geht darum, Anteil zu geben am Leid und gerade nicht über das Leid anderer zu reden, sondern den Menschen, Sprache zu geben und Räume zu geben. Das ist, glaube ich das, worum wir uns bemühen. Wir erfahren ja international eine unwahrscheinliche Solidarität von Menschen, die sich aus Indonesien, den Philippinen melden und die Anteil geben. Und auch anderen zu zeigen, was passiert da an diesen Stellen. Das ist eine wechselseitige Kommunikation, um die wir uns da bemühen.
Fritz Vielen Dank für das Gespräch, das war Thorsten Latzel, der neue Präses der evangelischen Kirche im Rheinland. Er hat die Katastrophengebiete nach dem Unwetter besucht und seine Eindrücke auf Facebook geschildert. Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.