Stephanie Gebert: Für Eltern ist es ein Alptraum, wenn ihrem Kind an der Schule Leid widerfährt. In Erfurt mussten Angehörige das vor 17 Jahren erleben: Ein ehemaliger Schüler hatte am Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst erschossen. Hunderte Schüler und Lehrkräfte erlebten die Tat oder ihre Folgen vor Ort mit. Damals übernahmen Notfallseelsorger die psychosoziale Betreuung, sie sprachen mit den Opfern und Augenzeugen, nahmen sich Zeit für Trauer- und Trauma-Arbeit.
Nach jüngsten Studien kommen Notfallseelsorger an Schulen grundsätzlich immer häufiger zum Einsatz. Erforscht hat das Harald Karutz, er ist Professor für Notfall- und Rettungsmanagement in Hamburg. Ich grüße Sie!
Die höheren Einsatzzahlen sind aber nicht damit zu begründen, dass es mehr Notfälle tatsächlich gibt, sagen Sie. Warum also dann?
Harald Karutz: Es hat sicherlich auch damit zu tun, dass einfach die Sensibilität gestiegen ist und man heute einfach auch mehr darüber weiß, was für psychische Auswirkungen solche Ereignisse nach sich ziehen, und dann werden also Helfer wie Notfallseelsorger heute einfach eher dazu gezogen. Vor vielen Jahren hätte man das halt nicht gemacht, weil man gar nicht wusste, wie wichtig diese Hilfe ist.
Vielfältige Gründe für Notfallseelsorge
Gebert: Was sind das denn dann für Beispiele, wo die Notfallseelsorger kommen, ohne dass ein Amoklauf stattgefunden hat an einer Schule?
Karutz: Ach, das ist ein ganz breites Spektrum. Es gibt die sogenannten Individualnotfälle, wo also eigentlich nur, in Anführungszeichen, ein Schüler oder ein Lehrer, ein Mitglied der Schulgemeinde betroffen ist, das kann eine schwere Erkrankung sein, das kann ein schwerer Unfall sein, bei dem jemand verletzt oder getötet wird. Es treten aber auch Suizide auf von Schülern und von Jugendlichen.
Dann gibt es Unglücke auf Klassenfahrten, gar nicht so selten in der Tat, es gibt aber auch etwas ungewöhnlichere Ereignisse wie zum Beispiel Unglücke im Chemieunterricht beispielsweise oder Unglücke auf Klassenfahrten.
Karutz: Kinder und Jugendliche erleben Notfälle anders
Gebert: Was ist die besondere Herausforderung, wenn Seelsorger sich um Schülerinnen und Schüler kümmern? Also welche Rolle spielt das Alter?
Karutz: Das Alter spielt eine Rolle, weil Kinder und Jugendliche Notfälle schon etwas anders auch erleben, anders bewältigen als Erwachsene. Aber es ist zum Beispiel auch so, dass man in Schulen eigentlich ja immer mit einer großen Gruppe von Betroffenen konfrontiert ist. Also selbst, wenn ein Schüler verunglückt ist, dann ist natürlich die Klassengemeinschaft mit betroffen und die Lehrerinnen und Lehrer oftmals ebenso.
"Die Schule hat eine ganz wichtige Bedeutung"
Gebert: Welche Bedeutung hat der Ort Schule auch als Schutzraum und als Lernraum, wie er nun von den Kindern und Jugendlichen wahrgenommen wird?
Karutz: Die Schule hat eine ganz wichtige Bedeutung, weil die Schule in der Tat ja auch, wie Sie sagen, ein Lebensraum für die Jugendlichen ist. Und das ist etwas, was wir als Notfallseelsorgerinnen, Notfallseelsorger auch versuchen, die Schule als eine Ressource zu stärken und zu schauen, was die Schule insgesamt als Organisation beitragen kann, dass solche Notfallerfahrungen möglichst gut bewältigt werden.
Gebert: Was könnte das denn sein zum Beispiel?
Karutz: Das Miteinander in der Schulgemeinschaft, und nach schweren Unglücken versuchen wir zum Beispiel, mit den Schülern und Lehrern gemeinsam zu überlegen, wie gut reagiert werden kann, was geeignete Nachsorgeangebote sein können. Und da finden die einzelnen Schulklassen zum Beispiel auch immer ihre individuellen Wege und haben eigene Vorschläge, das entsteht aus der Gemeinschaft heraus. Und das ist genau das, was wichtig und wertvoll ist, und das versuchen wir von der Notfallseelsorge aus gemeinsam auch mit der Schulpsychologie zum Beispiel, auch mit Schulsozialarbeitern dann eben aufzugreifen und zu stärken.
Es fehlt an niedrigschwelligen Beratungsangeboten
Gebert: Jetzt haben Sie gerade die Sozialarbeiter und die Psychologen angesprochen. Wir wissen alle, wie es um die Situation in den meisten Schulen in Deutschland steht, es gibt zu wenig Lehrkräfte, es gibt eben zu wenig Sozialpädagogen. Wie sieht es aus, wenn es um Krisenintervention geht? Ist da ebenfalls noch Luft nach oben?
Karutz: Ja, Luft nach oben kann man sicherlich sagen. Man muss aber auf der anderen Seite auch sagen, dass in diesem Bereich der Notfallnachsorge in Deutschland unglaublich viel schon geschehen ist. Also es gibt eigentlich überall in Deutschland inzwischen an den einzelnen Schulen interne Krisenteams, wo also Lehrkräfte selber sich fort- und weitergebildet haben, um Hilfen anzubieten. Auf der anderen Seite kann man sicherlich sagen, dass man die Situation noch weiter verbessern könnte.
Gebert: Wie denn zum Beispiel? Was fehlt noch?
Karutz: Generell, glaube ich, kann man sagen, dass Beratungsangebote, die niedrigschwellig im Schulalltag zu erreichen sind, dass es daran mangelt. Die schulpsychologischen Beratungsstellen sind oftmals nicht in unmittelbarer Nähe, da müssen Termine vereinbart werden, die einzelnen Schulpsychologen sind für sehr, sehr viele Kinder und Jugendliche zuständig. Also da könnte man sicherlich noch etwas verbessern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hilfe im Notfall
Wenn Sie selbst von Suizidgedanken betroffen sind, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein, müssen es aber nicht. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie - auch anonym - mit anderen Menschen sprechen können. Eine Übersicht der Angebote finden Sie zum Beispiel bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Sofortige Hilfe erhalten Sie rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge unter der kostenlosen Rufnummern 0800 - 111 0 111 und 0800 - 111 0 222. Und im Internet unter www.telefonseelsorge.de.
Wenn Sie selbst von Suizidgedanken betroffen sind, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein, müssen es aber nicht. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie - auch anonym - mit anderen Menschen sprechen können. Eine Übersicht der Angebote finden Sie zum Beispiel bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Sofortige Hilfe erhalten Sie rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge unter der kostenlosen Rufnummern 0800 - 111 0 111 und 0800 - 111 0 222. Und im Internet unter www.telefonseelsorge.de.