Sandra Schulz: Den harschen neuen Umgang der neuen italienischen Regierung mit privaten Seenotrettern im Mittelmeer hat als erstes Rettungsschiff im Juni ja die "Aquarius" zu spüren bekommen. Malta und Italien hatten das Schiff mit mehr als 600 vor dem Ertrinken geretteten Menschen zurückgewiesen. Es folgte ein einwöchiges Tauziehen, und danach konnte die "Aquarius" im spanischen Valencia einlaufen. Nach einem Wartungsstopp machen die Helfer jetzt da weiter, wo sie im Juni aufgehört haben. Am Mittwochabend legte die "Aquarius" in Marseille ab. Betrieben wird das Schiff von den Hilfsorganisationen SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen, und wir sind jetzt mit Philipp Frisch verbunden, dem Leiter der Berliner Interessenvertretung von Ärzte ohne Grenzen. Schönen guten Morgen!
Philipp Frisch: Schönen guten Morgen, Frau Schulz!
Schulz: Wo ist die "Aquarius" jetzt?
Frisch: Die "Aquarius" ist, wie Sie schon gesagt haben in Ihrer Anmoderation, am Mittwoch aufgebrochen und fährt Richtung internationale Such- und Rettungszone vor Libyen, sollte heute im Laufe des Tages oder morgen tatsächlich vor Ort sein.
Schulz: Gab es denn Diskussionen darüber nach der Hängepartie und nach allem, was im Juni war, ob die "Aquarius" noch mal startet?
"Wichtiger denn je"
Frisch: Angesichts der Situation gerade auf der zentralen Mittelmeerroute und angesichts der vielen Hundert Menschen, die dort ihr Leben verlieren und ertrinken, war für uns die Frage, ob wir weiterhin Seenotrettung betreiben wollen oder nicht, keine wirkliche Frage. Uns war klar, wir müssen. Die humanitäre Hilfe auf dieser Route ist heute wichtiger denn je, und natürlich haben wir mit großer Sorge beobachtet, wie die Diskussionen in Europa im Moment ablaufen, wie zunehmend die Seenotrettung, aber auch die Geflüchteten kriminalisiert werden und wie die EU scheinbar oder offensichtlich alles tut, um sich abzuschotten, um Menschen fernzuhalten, und sich nicht mehr darum kümmert, wie es diesen Menschen eigentlich geht, was das Schicksal dieser einzelnen Menschen eigentlich ist.
Schulz: Hat das was für Sie geändert?
Frisch: Es hat insofern natürlich was für uns geändert, als wir uns jetzt genauer auch tatsächlich Gedanken machen müssen, wie wir denn reagieren in Situationen, in denen wir das Gefühl haben, dass die Anweisungen von Seenotrettungsleitstellen das Leben von Menschen tatsächlich unter Umständen sogar gefährden. Wir haben uns sehr genau auch überlegt auch mit unseren Partnern, wie wir in solchen Situationen vorgehen würden. Und für uns ist eines ganz klar, der übergreifende humanitäre Imperativ ist und bleibt nach wie vor, das Leben von Menschen zu retten, die in unmittelbarer Lebensgefahr schweben. Und wir würden das auch tatsächlich, wenn wir in der Lage sind, das zu tun, auch nach wie vor jederzeit machen.
Schulz: Wir haben die Diskussionen jetzt seit vielen Wochen. Sie wissen, dass es den Vorwurf gibt an die privaten Seenotretter, dass sie dadurch eben, dass sie eingepreist sind quasi, einkalkuliert in das Kalkül der kriminellen Schlepperbanden, dass Sie deswegen ein Teil des Problems sind. Können Sie das entkräften?
Frisch: Das kann man auf jeden Fall entkräften. Uns wird immer wieder vorgeworfen, dass wir quasi als sogenannter Pull-Faktor, also als ziehender Faktor da sind, dass Menschen sich deswegen auf die Flucht machen über das Mittelmeer, weil sie wissen, dass sie gerettet werden. Aber dieses Argument ist aus meiner Sicht ziemlich abstrus, wenn man es sich mal genauer anguckt. Zum einen gibt es sehr wohl wissenschaftliche Beschäftigung damit, die sehr deutlich zeigen, dass es eben kein Faktor ist, ob es gerade private Seenotrettung gibt oder nicht. Und zum anderen sehen wir, dass die letzten Wochen zu den tödlichsten Wochen auf dem Mittelmeer überhaupt gehört haben und dass diese letzten sehr tödlichen Wochen vor allem auch dadurch charakterisiert waren, dass eben keine privaten Seenotretter vor Ort waren und sehr wenig Seenotrettungskapazitäten überhaupt vor Ort waren. Das heißt, die Menschen fliehen nicht irgendwo hin, sie fliehen vor allem vor etwas. Es sind vor allem die Faktoren, die Situation in Libyen, die Situation in den Herkunftsländern, die Situation in den Transitländern, die die Menschen dazu bringen und dazu zwingen, immer weiter zu fliehen. Und es hat viel weniger damit zu tun, ob jetzt Seenotrettung stattfindet. Der einzige Unterschied, den die Seenotrettung tatsächlich macht, ist, wie tödlich die Route ist, nicht, wie viele Menschen fliehen.
Moralische und menschenrechtliche Verantwortung
Schulz: Was macht die "Aquarius", wenn sich so eine Hängepartie wiederholt, wie wir sie jetzt im Juni gesehen haben, und wenn die Spanier dann vielleicht auch nicht mehr sagen, gut, kommt zu uns?
Frisch: Das ist eine Situation, die man natürlich jetzt so im Vorfeld nicht wirklich einfach pauschal beantworten kann. Das kommt natürlich dann sehr stark auf die Situation an. Wir sind vorbereitet, wir sind ausgerüstet, wir haben den Aufenthalt im Hafen in Marseille auch dazu genutzt, unter anderem beispielsweise einen Kühlcontainer an Bord zu installieren, den wir dann bei längeren Hängepartien insbesondere dann auch brauchen, um die Leichen von Ertrunkenen im Zweifelsfall auch an Bord haben zu können. Wir haben Nahrungsmittel, mehr Nahrungsmittel als normalerweise an Bord eingelagert. Und wir hoffen einfach, dass die Europäische Union und die Staaten der Europäischen Union endlich aufwachen, sich ihrer moralischen und menschenrechtlichen Verantwortung wieder bewusst werden und aufhören, die Situation auf dem Mittelmeer insbesondere unter einer Sicherheits- oder Bedrohungsperspektive zu sehen, sondern endlich anfangen, das Schicksal der Menschen, die dort fliehen, die vor Krieg, Verfolgung, Gewalt fliehen, das wieder in den Mittelpunkt der Politik zu rücken. Das ist unsere Hoffnung und unsere Forderung an die Europäische Union.
Schulz: Jetzt haben wir im Moment aber genau die gegenteilige Beobachtung. Es gibt Meldungen darüber, dass italienische oder das ein erstes italienisches Rettungsschiff auch mit der lybischen Küstenwache zusammengearbeitet hat und auch Flüchtlinge nach Libyen zurückgebracht hat. Es gibt ja das Kalkül, dass man sagt, die Menschen starten nicht mehr, wenn klar ist, sie kommen sowieso zurück. Was ist daran denn so falsch?
Frisch: Was daran vor allem falsch ist, ist die Situation in Libyen. Ärzte ohne Grenzen – wir arbeiten seit zwei Jahren in Internierungslagern in Homs, Misrata und Tripoli, und wir sehen, wie die Situation vor Ort in Libyen ist. Die Situation ist absolut katastrophal, die Menschen sind Missbrauch aller Art ausgesetzt. Wir sehen Wunden, wir sehen Knochenbrüche, Hauterkrankungen, Mangelerscheinungen, Foltererscheinungen. Und all diese Dinge sind auf die Haft und die Haftbedingungen zurückzuführen. Das ist ein System von wirklich furchtbarer Ausbeutung. Wir haben Berichte über Menschen, die gefoltert werden, und während die Folter noch läuft, werden die Familien angerufen, um die Lösegeldforderungen durch die Schreie im Hintergrund so hoch wie möglich zu treiben. Und in diese Situation Menschen zurückzubringen, in dieser Situation eine sogenannte libysche Küstenwache zu unterstützen vonseiten der Europäischen Union, die Menschen in diese Situation zurückbringen, das ist eine moralische Bankrotterklärung sondergleichen und hat mit einer irgendwie gearteten Lösung des wahrgenommenen Problems überhaupt nichts zu tun, sondern es ist tatsächlich für uns schwer zu ertragen, zu sehen, wie da die Politik gerade im Moment agiert.
Konflikte mit der libyschen Küstenwache?
Schulz: Wir haben auch die Beobachtung, dass es schon zu ersten Konflikten gekommen ist mit der libyschen Küstenwache. Das hat so die Besatzung, die Crew der "Lifeline" ja geschildert. Wird es da jetzt so was wie ein Wettrennen geben sozusagen, wer da als Erster die Flüchtlinge für sich an Bord holt?
Frisch: Nach wie vor gelten bestimmte Regeln auf See. Wenn ein Schiff in einer Position ist, direkt unmittelbar Hilfe zu leisten für ein Boot, das in Seenot ist, dann ist das am besten positionierte Schiff tatsächlich auch nicht nur – hat nicht nur die Erlaubnis, das zu tun, sondern sogar die Pflicht, das zu tun. Und genau so werden wir weiter vorgehen. Die allermeisten, eigentlich alle Rettungen, die bislang gelaufen sind mit der "Aquarius", wurden auch ganz zentral von der italienischen Seenotrettungsleitstelle koordiniert, die uns angewiesen hat, zu bestimmten Seenotfällen tatsächlich zu fahren und dort Menschen zu retten, Menschenleben zu retten, und die auch dafür verantwortlich ist und uns genau sagt, zu welchem Hafen wir diese Menschen bringen sollen. Das war bislang überhaupt nicht unsere Entscheidung, welchen Hafen wir anlaufen, sondern das war immer die italienischen Seenotrettungsleitstelle, die uns diese Anweisungen letzten Endes gegeben hat. Und da wird sich jetzt erst mal aus unserer Sicht nicht viel ändern, und wir werden weiterhin die Seenotrettung betreiben, wir werden uns weiterhin auf das Schicksal der in Lebensgefahr befindlichen Menschen auf dem Mittelmeer konzentrieren, und werden uns weiterhin weigern, Häfen anzufahren, die als nicht sichere Häfen gelten, wo die Menschenrechte nicht geachtet werden und wo es keine Möglichkeit gibt, Asyl zu beantragen. Das sind für uns humanitäre Mindeststandards, die in jedwedem Fall eingehalten müssen. Und ganz klar und offensichtlich gehört Libyen nicht dazu.
Schulz: Philipp Frisch, Leiter der Berliner Interessenvertretung der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, heute bei uns im Deutschlandfunk. Danke dafür!
Frisch: Ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.