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Seenotrettung im Mittelmeer
Menschen sind "sehr, sehr dankbar und glücklich"

Aus Seenot gerettete Flüchtlinge seien erst mal sehr dankbar, sagte die Hebamme Stefanie Hofstetter von Ärzte ohne Grenzen im Dlf. Das Erzählen von ihren Erfahrungen begänne dann meist erst später: Warum sie ihre Heimatländer verlassen haben und was sie auf ihrer zum Teil jahrelang dauernden Flucht erlebten.

Stefanie Hofstetter im Gespräch mit Christine Heuer |
Gerettete Flüchtlinge verlassen das Seenotrettungsschiff Ocean Viking in Italien.
Wir freuen uns immer, dass wirklich alles gutgegangen ist, berichtet Stefanie Hofstetter über die Arbeit auf den Schiffen zur Seenotrettung (picture alliance / NurPhoto / Gabriele Maricchiolo)
Christine Heuer: Frau Hofstetter, was tun Sie als Erstes, wenn Sie Menschen aus dem Mittelmeer an Bord geholt haben?
Stefanie Hofstetter: Als Erstes begrüßen wir die Menschen. Die Menschen bekommen von uns erst mal Rettungswesten, wenn wir die auf den Schlauchbooten oder auf den Booten oft finden, das heißt, dann müssen wir die erst mal wieder ausziehen. Es ist immer jemand vom medizinischen Team gleich mit am Eingang, der auch schaut: Wie geht es denen physisch, also sind die stark genug, sind die sehr schwach? Es ist oft so, dass manche direkt, gleich, wenn sie aufs Schiff kommen, erst mal zusammenbrechen oder kollabieren. Oft ist es nur aus Erleichterung, dass sie jetzt gerettet worden sind, dass sie überlebt haben, dass sie als Libyen weg sind. Die meisten begreifen auch relativ schnell, dass wir nicht die lybische Küstenwache sind, sondern dass wir ein Rettungsschiff sind und sind dann erst mal sehr, sehr erleichtert.
Manche brechen aber auch einfach zusammen, weil sie physisch einfach sehr, sehr erschöpft sind, weil sie zum Beispiel länger nichts getrunken haben oder gegessen haben, weil sie dehydriert sind, weil sie vielleicht auch Gewalt erlebt haben, die jetzt im Moment dazu führt, dass sie nicht mehr laufen können. Die Menschen haben oft sehr viele Stunden, manchmal Tage auf den Booten ausgeharrt in sehr, sehr unbequemen Positionen, die dann auch erst mal dazu führen, dass die Menschen sehr wackelig laufen, dass sie sehr, sehr starke Schmerzen haben am ganzen Körper. Und dann ist es oft auch so, auf den Booten ist es so, dass der Wellengang viel, viel stärker gespürt wird, und für die, die jetzt auch Seekrankheit noch nie erlebt haben – das ist wirklich was, das steckt man nicht so leicht weg, also da geht es einem wirklich richtig, richtig schlecht. Das ist nicht nur so, dass man dann ein bisschen Übelkeit verspürt, es ist oft so, dass es einem wirklich körperlich ganz schlecht geht, man Kopfschmerzen hat, dass man Kopf- und Gliederschmerzen hat, man ist dabei ständig, sich zu übergeben, man kann nichts essen, nichts trinken, manche bekommen Fieber sogar, man kann nur ganz schlecht schlafen, wenn überhaupt, und es dauert auch eine Zeit lang, bis man sich tatsächlich davon erholt hat.
"Hoher Prozentsatz an Minderjährigen"
Heuer: Was ist die prägende Fluchterfahrung der Menschen? Worüber erzählen Flüchtlinge, wenn Sie dann bei Ihnen in Sicherheit an Bord sind, als erstes?
Hofstetter: Die meisten sind erst mal sehr dankbar, das Erzählen kommt dann meistens erst später. Also die meisten fangen erst so nach 24 Stunden an, zu erzählen, oder manche auch noch später. Es hängt immer davon auch ab, wie stark traumatisiert die Menschen sind oder wie gut die mit den Traumata, die sie erlebt haben, umgehen können.
Heuer: Was hat die Menschen traumatisiert, Frau Hofstetter, was genau erzählen sie?
Hofstetter: Ja, die erzählen uns natürlich primär erst mal, warum sie von zu Hause, aus ihren Heimatländern weg sind. Was sie dann auf der Flucht erlebt haben, und dann erzählen die meisten, was in Libyen passiert ist, in welchen Umständen sie in Libyen gelebt haben, wo sie dort die Zeit verbracht haben. Oft ist es so, dass viele Menschen dort nicht nur ein paar Monate verbracht haben, viele Menschen, die wir jetzt auch gerettet haben dieses Jahr – das war auch für uns dann schockierend zu hören, dass sie dort viele, viele Jahre verbracht haben. Und da ist es so, dass wir auch oft einen sehr hohen Prozentsatz an Minderjährigen dabei haben, die alleine geflüchtet sind, von zu Hause weggelaufen sind, primär mal, um in irgendeiner Weise Geld zu verdienen, dass die ihren Familien schicken wollen. Dann landen die irgendwann in Libyen und dann ist es so, dass die dort auch Geld verdienen wollen, dort landen die aber meistens in irgendwelchen Internierungslagern auf irgendwelchen Arbeitsfarmen, wo sie kein Geld bekommen, oft auch noch für Geld erpresst werden, indem sie die Familien anrufen müssen, und während den Telefonaten ist es oft so, dass die Menschen dann noch mal zusätzlich gequält werden oder geschlagen werden, dass es noch mehr Eindruck und Druck auf die Familien macht, um Geld dorthin zu schicken.
Heuer: Was berichten die Flüchtlinge außerdem von den Internierungslagern in Libyen?
Hofstetter: Die berichten uns, dass wirklich die Bedingungen sehr, sehr schlecht sind, dass es nicht genügend Wasser gibt, um sich zu waschen, die können nicht selber kochen, die bekommen immer die gleichen Mahlzeiten, das ist auch nicht ausgewogen, die Ernährung ist nicht ausgewogen genug. Es gibt keinen Platz, es ist oft so, dass dort auch Kinder sind und dass die Kinder auch nicht die Möglichkeit haben, dort irgendwie rumzulaufen oder zu spielen, so wie ein Kind das bräuchte. Sie erzählen von sehr, sehr großer Angst. Was so ganz typisch ist, was sie uns erzählen, ist, dass sie oft hören, dass nachts die Tür aufgeht, dass einer der Wärter oder Wächter eine Frau einfach mit rausnimmt und die unter Protest nach draußen geschleift wird, und im besten Fall kommt sie nach mehreren Stunden zurück oder sie verschwindet einfach. Und das ist das, was so ganz prägend bei den Menschen bleibt, diese Angst und dieses Geräusch der Tür, das ganz, ganz viele schildern, dass sie sagen, wenn dieses Geräusch kommt, dann kommen diese ganzen Erlebnisse wieder hoch.
Sieben Kinder auf der "Aquarius" geboren
Heuer: Das sind ja sehr traumatisierende Erfahrungen. Bedauern manche der Flüchtlinge, dass sie überhaupt versucht haben, nach Europa zu kommen, wenn sie daran zurückdenken, in welchen Zuständen sie in Libyen dann gestrandet sind?
Das Foto zeigt aus Seenot gerettete Migranten an Bord der "MS Aquarius" von SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen.
Überlebt: Migranten auf der "MS Aquarius" von SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen. (dpa / picture alliance / Laurin Schmid/ SOS MEDITERRANEE)
Hofstetter: Also die Menschen bedauern natürlich nicht, dass sie jetzt bei uns gelandet sind, sondern sind da sehr, sehr dankbar und glücklich, dass sie wirklich gerettet worden sind und jetzt auch wissen, weil wir ihnen wirklich immer wieder versichern, dass wir sie nicht nach Libyen zurückbringen. Viele erzählen uns, dass sie tatsächlich mehrere Male versucht haben, aus Libyen wegzukommen, und die Menschen erzählen uns, dass sie auf legalem Weg, überhaupt, auch auf illegalem Weg gar nicht über die Grenzen drüber kommen. Die Grenzen sind so zu und vor allem, wenn man dann noch schwarze Hautfarbe hat, sagen sie, ist es wirklich unmöglich, aus Libyen wieder wegzukommen. Die einzige Möglichkeit, die es gibt, ist, auf eins dieser Boote zu gehen und die Fahrt aufs Mittelmeer zu wagen. Und viele erzählen uns, dass sie das eben drei oder vier Mal schon versucht haben, und dass sie immer wieder nach Libyen zurückgebracht werden, dass die libysche Küstenwache sie einfängt und wieder zurückbringt und wieder zurück in eins der Internierungslager bringt.
Heuer: Sie sind ja von Hause aus Hebamme, Frau Hofstetter. Sind auch Kinder geboren worden in Ihrer Zeit auf den Rettungsschiffen?
Hofstetter: Nein, jetzt auf der "Ocean Viking" hatten wir noch keine Geburt, aber die "Aquarius", die wir bis letztes Jahr Dezember hatten, auf der "Aquarius" wurden sieben Kinder geboren. Und das ist schon auch ein sehr, ja, natürlich sehr freudiges Erlebnis. Und wir freuen uns dann auch immer, dass wirklich alles gutgegangen ist und dass die Mutter das auch bis zu uns mit dem Baby geschafft hat. Es ist aber auch auf der anderen Seite dann gleich wieder sehr schlimm für uns, zu sehen, dass eine hochschwangere Frau tatsächlich sich auf so ein Boot setzt, wo sie weiß, es könnte sein, dass es das Boot gar nicht weit schafft, weil die Boote sind wirklich von sehr, sehr schlechter Qualität, und dass sie riskiert, dass sie und auch ihr ungeborenes Kind einfach vielleicht im Meer verschwinden.
"Man kommt da an seine eigenen Grenzen"
Heuer: Rettungsschiffe dürfen ja oft nicht in europäische Häfen einlaufen. Es ist immer wieder vorgekommen, auch die "Ocean Viking" hat das so erfahren. Wie haben Sie diese Phasen erlebt an Bord?
Blick auf das Seenotrettungsschiff Ocean Viking bei seiner Landung auf Sizilien im September 2019
Blick auf das Seenotrettungsschiff Ocean Viking bei seiner Landung auf Sizilien im September 2019 (picture alliance / NurPhoto / Gabriele Maricchiolo)
Hofstetter: Das sind schon Grenzsituationen. Man kommt da wirklich an seine eigenen Grenzen und man merkt aber auch gleichzeitig, wie Kollegen und wie die Menschen, die wir gerettet haben, an ihre Grenzen kommen. Es ist wirklich sehr, sehr stressig. Man verliert manchmal dann so ein bisschen den Glauben an das Gute und wird dann schon so ein bisschen hoffnungslos. Aber für uns ist es natürlich wichtig als Crew, dass wir immer noch Hoffnung haben und dass wir sagen, ja, es wird auf jeden Fall eine Lösung geben, wir müssen einfach nur geduldig sein. Und das versuchen wir auch den Menschen, die wir gerettet haben, zu vermitteln. Wir versuchen, das in ganz vielen Gesprächen denen nahezubringen: Was sind denn die Probleme eigentlich? Warum können wir nicht einfach in den Hafen reinfahren? Es gibt Regeln, an die wir uns halten müssen. Und wir haben da auch erlebt, dass, je mehr wir mit den Menschen sprechen und versuchen, denen das zu erklären, desto geduldiger sind die auch und unterstützen uns dann auch.
Heuer: Warum, Frau Hofstetter, haben Sie ganz persönlich sich entschieden, Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu retten und diesen Einsatz für Ärzte ohne Grenzen mitzumachen?
Hofstetter: Ja, ich habe schon in mehreren Ländern mit Ärzten ohne Grenzen gearbeitet, auch in Ländern, aus denen diese Menschen kommen, und ich kann mir vorstellen, aus welchen Situationen diese Menschen versuchen, wegzugehen oder zu fliehen, oder warum die auch versuchen, dort wegzugehen. Wir haben auch ein Team in Libyen selbst, und das passiert direkt vor unserer Haustür, genauso, was in Griechenland passiert. Das ist in Europa. Das passiert direkt vor unserer Haustür. Und ich denke, wir als Europäer haben da auch eine Verantwortung, nicht einfach wegzuschauen, weil ich denke, wir Europäer, wir haben die Kapazität, es besser zu machen, da eine Lösung dafür zu finden. Ich denke, dass wir das alle zusammen machen müssen. Es kann nicht ein Land allein stemmen, das ist ganz klar. Aber ich denke, wir dürfen auf jeden Fall nicht wegschauen. Ich als Deutsche möchte einfach hingehen, ich möchte dann, wenn ich zurückkomme, meinen Kollegen, meinen Verwandten, meinen Freunden hier auch näherbringen, was da passiert. Wir müssen einfach die Augen offenhalten und ich denke, wir müssen da einfach offen bleiben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.