Jasper Barenberg: Der Fall polarisiert und er bringt auch das Scheitern einer europäischen Migrationspolitik zurück auf die Tagesordnung. Am Telefon ist Christopher Hein, einer der Gründer des Italienischen Flüchtlingsrates. In Rom lehrt er heute außerdem Einwanderungs- und Asylrecht. Einen schönen guten Morgen, Herr Hein.
Christopher Hein: Guten Morgen Ihnen!
Barenberg: Auch Italiener haben ja aus Solidarität mit Carola Rackete viel Geld gespendet. Aber es gibt auch viel Zuspruch für Innenminister Matteo Salvini, wenn er zum Beispiel sagt, dass Italien nicht – ich zitiere jetzt – "die Müllhalde Europas werden wolle". Handelt Salvini im Sinne der Mehrheit der Italiener?
Hein: Die Mehrheit, das ist zu sehen. Sicherlich gibt es eine breite Unterstützung für diese Linie der Regierung und des Innenministers und seiner Partei, der Lega. Das hat man auch bei den letzten Wahlen zum Europaparlament gesehen. Da haben die 34 Prozent bekommen, was aber jetzt nicht heißt, dass eine überwiegende Zahl der italienischen öffentlichen Meinung dieser gleichen Linie folgen würde. Sie hatten schon erwähnt, es gibt eine Spendenaktion, die in wenigen Tagen über 400.000 Euro eingesammelt hat. Es gibt Demonstrationen, es gibt eine Menge von Kundgebungen auch von bekannten Künstlern, Sängerinnen und so weiter, die sich ganz klar auf die Seite der Sea Watch 3 und der Kapitänin Carola Rackete stellen.
Barenberg: Jetzt gibt es eine Diskussion darüber, die schon damit anfängt, ob sich Carola Rackete strafbar gemacht hat, indem sie sich über das Verbot der Behörden und auch der Regierung hinweggesetzt hat. Wie ist Ihre Antwort?
Hein: Wissen Sie, Antigone hat sich auf das Gesetz der Götter berufen, als sie gegen ausdrücklichen Befehl des Königs ihren Bruder bestattet hatte. Heute brauchen wir nicht so weit zu gehen. Wir haben ein Völkerrecht, wir haben ganz bestimmte Aussagen und Verpflichtungen eines Schiffskapitäns im internationalen Seerecht. Es gibt auch im italienischen Staatsgesetzbuch einen klaren Artikel darüber, dass ein Vergehen, wenn es gemacht worden ist, um einer rechtlichen Verpflichtung nachzukommen, nicht strafbar ist. Genau diese Klausel des Strafgesetzbuches haben die Richter in Agrigento vor zehn Jahren angewandt in einem ganz ähnlichen Fall eines deutschen Hilfsschiffes der Cap Anamur. Die wurden dann schließlich - nach fünf Jahren aber erst - alle freigesprochen, weil ein solcher Notstand auf Seiten der Richter ganz klar erkannt wurde und daher keine Strafbarkeit vorliegt. Ich denke mir, folgend dieser Rechtsprechung, die es gibt in einem so ähnlich gelagerten Fall, sollten heute Morgen die Richter in Agrigento und die Staatsanwaltschaft sagen, nein, wir erheben nicht mal eine Anklage, denn es gibt ja keine rechtliche Grundlage dafür.
"Aussage von Straßburg hat keine strafrechtliche Relevanz"
Barenberg: Auf der anderen Seite, Herr hein, hat die Organisation ja den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen, vor ein paar Tagen gerade erst, und die Richter haben diese Notlage abgelehnt. Die haben gesagt, es liegt keine Notlage vor. Insofern gilt die Souveränität der italienischen Regierung über den Zugang zu ihren Häfen. Ganz so einfach scheint es ja nicht zu sein!
Hein: Den Richtern des Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg blieb nicht viel andere Wahl, da nicht mal klar war, ob es überhaupt zu dem Zeitpunkt, wo dieser Antrag an den Gerichtshof gestellt wurde, eine italienische Zuständigkeit gegeben hätte. Das Schiff war damals noch gar nicht in den italienischen Küstengewässern, sondern noch in internationalen Gewässern. Das Gericht hat nicht gesagt, dass es keine Notlage wäre; sie haben nur gesagt, es gibt keine Notwendigkeit, jetzt unter einer Eilmaßnahme Italien dazu zu zwingen, den Hafen von Lampedusa auszumachen. Das muss man unterscheiden. Das hat keine strafrechtliche Relevanz, diese Aussage von Straßburg.
Barenberg: Ich möchte Ihnen noch erzählen, was der CDU-Politiker Patrick Sensburg zu dem Fall gesagt hat. Die Sea Watch hätte, so seine Einlassung, Migranten ja auch nach Tunesien, nach Algerien oder nach Ägypten bringen müssen. Sonst - und das ist der Vorwurf jetzt - unterstütze die Organisation die Arbeit von Schleppern, die mit dem Elend der Migranten Geld verdienen. Was antworten Sie auf eine solche Haltung?
Hein: Wissen Sie, das ist ein alter Vorwurf. Für zwölf Monate lang hat die italienische Kriegsmarine 135.000 Migranten im zentralen Mittelmeer gerettet und in italienische Häfen gebracht. Das waren ja keine Menschenschlepper, sondern die Admiralität der italienischen Marine. Und da war gar nicht die Frage, das war völlig klar, dass ein nordafrikanischer Hafen nicht die Sicherheitsgarantien gewährleisten kann, die im internationalen Seerecht vorgeschrieben sind. Es sind keine sicheren weder in Tunesien, in Tunesien gibt es kein Asylgesetz. Es gibt keine Möglichkeit, in Tunesien einen Rechtsschutz zu bekommen, und schon gar nicht sicherlich in Ägypten oder in anderen nordafrikanischen Ländern. Außerdem Ägypten war viel zu weit weg in jedem Fall zu einem bestimmten Zeitpunkt. Lampedusa war der nächstgelegene sichere Hafen.
"Keine spezielle Verantwortlichkeit der Bundesregierung"
Barenberg: Sind wir jetzt in der Situation, dass Gerichte in Italien korrigieren müssen, ersetzen müssen, was Europas Politiker nicht auf die Reihe bekommen, nämlich eine gemeinsame und überzeugende Zuwanderungspolitik?
Hein: Wissen Sie, seit über einem Jahr stellt sich diese Situation in jedem Monat neu. Es gibt immer neue Schiffe von nichtstaatlichen Einrichtungen, die Menschen im Mittelmeer retten und die dann nicht wissen, wo sie ausschiffen sollen. Das ist ganz klar eine Lücke in der Politik und auch in den Rechtsnormen der Europäischen Union. Es hat trotz dieser Debatte, trotz der konkreten Vorschläge, die es gibt, bisher keine europäische Regelung dazu gegeben. Denn wenn Europa sagen würde, die Leute werden ausgeschifft in einem italienischen Hafen, aber innerhalb von 72 Stunden werden sie dann umverteilt auf andere Länder, dann würde sich das Problem nicht mehr stellen, das sich im Augenblick jedes Mal neu stellt, und vermutlich ist Sea Watch 3 auch nicht der letzte Fall dieser Art, den wir erleben.
Barenberg: Sehen Sie da auch ganz in vorderster Linie eine Verantwortung der Bundesregierung? Es handelt sich schließlich um eine deutsche Organisation und eine deutsche Staatsbürgerin an Bord der Sea Watch. Sollte es so etwas wie eine Koalition der Willigen geben, die endlich für klare Regeln und klare Garantien auch für den Verbleib von Migranten an Bord solcher Schiffe sorgt?
Hein: Ich sehe keine spezielle Verantwortlichkeit der Bundesregierung. Die Bundesregierung wie andere Regierungen Frankreichs, Spanien und so weiter haben ja auch schon in der jüngsten Vergangenheit gezeigt, dass sie - aber immer auf Verhandlungswege - jedes Mal neu bereit sind, Menschen auf Italien aufzunehmen. Diese Koalition der Willigen ist im Augenblick die einzige Möglichkeit, denn wir wissen ganz genau, dass von den immer noch 28 Mitgliedsstaaten nicht alle an einer solchen Regelung teilnehmen würden. Also muss man etwas tun, wo man eine Gruppe von Mitgliedsstaaten versammelt und zu einer solchen ad hoc Regelung kommt.
Barenberg: Kurz zum Schluss noch, Herr Hein. Was, wenn diese Frage ungelöst bleibt?
Hein: Dann wird es immer so weitergehen. Es wird immer so weitergehen. Von italienischer Sicht her gesehen werden über die Hochspielung auch jetzt von der Sea Watch 3-Affäre ganz andere Probleme verdeckt. Das Problem Italiens ist immer mehr, dass es ein Auswandererland ist. Es gibt viel mehr junge Italiener, die keine Zukunft mehr in diesem wunderschönen Land sehen, sondern die nach Deutschland, England, Holland und andere Länder gehen – auf Dauer, um dort zu arbeiten. Das ist das wirkliche Problem. Einwanderung in Italien ist praktisch auf null runtergegangen. Die haben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 2500 Bootsankünfte gehabt. Das ist gerade vier Prozent von dem, was vor zwei Jahren stattgefunden hat.
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