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Sehnsucht nach dem Ararat

Ein Schüler im armenischen Berg-Karabach: Das armenische Volk ist doch ein altes Volk, mit einer ganz alten Kultur, ein heiliges Volk, das erste Volk, das das Christentum übernommen hat, und die Türken haben dieses großartige Volk vernichten wollen, und niemand hat das beachtet.

Von Gesine Dornblüth | 27.11.2004
    ... und eine armenische Friedenspreisträgerin: Man kann nicht leben, wenn man immer zurückblickt. Man kann nicht in die Zukunft blicken, wenn man sich immer auf die Vergangenheit stützt, das ist ein kranker Zustand.

    Truthähne laufen über die ausgestorbene Dorfpiste von Musa Ler. Es ist staubig. Ein dünner Film überzieht die Wellblechdächer, die abgeernteten Aprikosenhaine und Weingärten, die zerfallenen Gebäude der verlassenen Sowchose. Zwei Männer sitzen auf niedrigen Schemeln vor einem Haus in der Sonne und spielen Backgammon.

    Energisch werfen die beiden die Würfel auf das Spielbrett. Der ältere von ihnen, ein kleiner Mann mit schwarzem Hut, streckt die Zungenspitze hinaus, während er die Steine setzt.

    Musa Ler ist ein Dorf etwa zwanzig Kilometer westlich der armenischen Hauptstadt Jerewan. Und es ist Symbol für eine armenische Tragödie, die sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts abspielte. Die Armenier hatten damals keinen eigenen Staat. Die meisten von ihnen lebten im Osmanischen Reich, auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Die Armenier sind Christen. Während des Ersten Weltkrieges begannen die Türken mit der Vertreibung und Ermordung der armenischen Bevölkerung. Die Armenier sagen, allein im Jahr 1915 seien anderthalb Millionen Menschen bei Todesmärschen und Massakern ums Leben gekommen, und sprechen von einem Völkermord. Die Ereignisse blieben vom Ausland weitgehend unbeachtet.

    Nikolai Rostomian bringt seinen letzten Stein ins Ziel. Er gewinne meistens, sagt sein Gegenüber. Der alte Mann winkt ab. Er nimmt seinen Krückstock, stützt sich langsam auf und blickt über die Mauern des Nachbargrundstücks Richtung Süden.

    Die Ebene im Süden verliert sich im Dunst. Aus dem scheinbar undurchdringbaren Schleier erhebt sich ein mächtiges schneebedecktes Bergmassiv - der Ararat. Die Armenier betrachten ihn als IHREN Berg, doch der Ararat liegt in der Türkei. Die Grenze ist, unter anderem wegen der Ereignisse Anfang des vergangenen Jahrhunderts, geschlossen. Um von Jerewan nach Istanbul zu gelangen, muss man entweder fliegen, oder einen etwa 1.000 Kilometer langen Umweg über Georgien in kauf nehmen. Beziehungen zwischen den Regierungen Armeniens und der Türkei gibt es nicht, lediglich vereinzelte Initiativen und private Kontakte. Die Europäische Union fordert die Öffnung der Grenzen und die Normalisierung der Beziehungen. Doch die Türkei bekennt sich noch nicht einmal zu ihrer historischen Verantwortung. Sie wehrt sich vehement gegen den Vorwurf des "Völkermords" an den Armeniern und spricht von höchstens 300.000 Toten. Rostomian wendet sich ab und geht nach Hause. Er zieht ein Bein nach. Sein Sohn kommt dazu, schlank, etwa 50 Jahre alt.

    Nikolai Rostomian ist 79 Jahre alt und der Dorfälteste von Musa Ler. Ein kleiner Ofen steht im Wohnzimmer, zwei Betten, ein großer ovaler Tisch, Christus- und Marienbilder. Das Radio läuft.

    Sehen Sie, wie viele Bücher ich habe. Die stehen in drei Reihen. Die Gebildeten unter uns wissen alles. Unsere Dorfschule ist schließlich nach Werfel benannt, nach diesem Schriftsteller. Und jeder, der lesen kann, hat sein Buch gelesen. Ich auch, ich hatte es sogar auf russisch, das habe ich nach Russland geschickt.

    Es geht um Franz Werfels Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh". Der österreichische Schriftsteller hatte 1929 während einer Reise nach Syrien armenische Flüchtlingskinder gesehen. In seinem Roman erzählt er die Geschichte vom Musa Dagh, vom Mosesberg, auf dem einige tausend armenische Dorfbewohner den türkischen Regierungstruppen im Sommer 1915 Widerstand leisteten und schließlich von französischen Kriegsschiffen gerettet wurden. Die Siedlung Musa Ler, in der Rostomian lebt, trägt den armenischen Namen für Musa Dagh. In Musa Ler wurden die Nachfahren der Überlebenden vom Mosesberg angesiedelt.

    Die Leute vom Mosesberg kamen in drei Wellen hierher, 1947, 1957 und 1967. Ich kann die genaue Zahl nicht sagen, aber es waren viele. Als sie sich hier eingerichtet hatten, fragten sie den Obersten Sowjet der Republik Armenien, ob sie den Ort nicht umbenennen dürften - nach dem Musa Dagh.

    Die Umbenennung wurde genehmigt. Rostomian lässt die Perlen einer roten Kette durch die filigranen Finger gleiten. Es ist das gleiche Utensil, das auch viele Muslime bei sich tragen. Wie um seine Worte zu unterstreichen, schlägt der alte Mann mit der Kette auf die Plastiktischdecke.

    Die Kette ist ein Symbol der Christen, sie hat 33 Perlen, wie die Lebensjahre Christi. Die Muslime haben viel längere Ketten. Und außerdem sind unsere Perlen größer.

    Der Sohn stellt einen elektrischen Kaffeesieder auf den Tisch. Kaffeepulver, Zucker und Wasser werden in dem Plastiktopf zusammen aufgebrüht. Der alte Rostomian zog schon in den 30er Jahren mit seinen Eltern aus einer Nachbarstadt nach Musa Ler. Seine Familie stammt ursprünglich aus Igdir. Die Stadt liegt in der heutigen Türkei, kurz hinter der Grenze.

    Alle Leute hier sind aus unterschiedlichen Gegenden zugezogen, seit hier Anfang der 20er Jahre die Sowchose gegründet wurde. Die Leute haben sich von Anfang an gut verstanden. Sie wussten, dass sie alle aus demselben Grund hier waren - wegen des Genozids. Jeder hat in der Sowchose gearbeitet. Das Leben war friedlich und ruhig.

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Staatsbetrieb aufgelöst, die Mitarbeiter entlassen, das Land privatisiert. Die meisten Bewohner von Musa Ler sind deshalb arbeitslos. Sie ernähren sich, wie in so vielen postsowjetischen Staaten, vom eigenen Garten, oder sie gehen als billige Arbeitskräfte ins Ausland, vor allem nach Russland. Zwischen einer halben und einer Million Menschen haben das Land nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, sind vor Armut und vor Chaos geflohen. Auch Rostomians jüngster Sohn lebt in Russland. Der älteste arbeitet als Fahrer auf dem Flugplatz von Jerewan, für umgerechnet 50 Euro im Monat. Jugendliche, die in Musa Ler auf der Strasse herumstehen, erzählen, sie wollten weggehen oder als Wachleute arbeiten. Wachleute würden immer gesucht. Auch die meisten Nachfahren des Mosesbergs sind fort, erzählt der Dorfälteste.

    Aber jedes Jahr am dritten Sonntag im September kommen sie her, zu der Gedenkstätte hier im Ort. Dann wird für alle Harisa gekocht, eine armenische Speise aus Hammel- und Hühnerfleisch. Wir müssen doch die Erinnerung wahren an die Vorfahren.

    Seit der Selbständigkeit Armeniens kommen auch immer mehr reiche Armenier aus dem Ausland, Nachfahren der Flüchtlinge von 1915. Dann erzählt Rostomian von einem anderen Krieg. Er neigt den Kopf zur Seite, zeigt auf die rechte Gesichtshälfte. Der Wangenknochen fehlt. Dann streckt er das Bein aus, krempelt sein Hosenbein hoch und zeigt auf sein Knie. Ein kleines rundes Loch ist da zu sehen - eine Narbe aus dem Zweiten Weltkrieg. Rostomian kämpfte in der Sowjetarmee an der weißrussischen Front.

    Auch wenn ihm der zweite Weltkrieg und die Probleme der Nachsowjetzeit näher sind, als die Ereignisse von 1915, die Geschichte von damals werde er nicht vergessen, beteuert Rostomian. Fünf Brüder seiner Eltern seien während der Massaker umgekommen.

    Bis vor einigen Jahren haben wir gar nicht mehr viel über diese Geschichten nachgedacht, darüber, dass die Türken unsere Feinde sind. Aber als der Krieg um Karabach begann, brachen all diese alten, fast schon vergessenen Gefühle wieder auf. Im Karabachkrieg sind auch Männer aus diesem Dorf umgekommen. Ich kann mich gegen die feindlichen Gefühle nicht wehren. Ich bin eben Armenier.

    Geworg Emin, "Wir"

    Was aber waren wir
    und unser Land?
    Wir saßen krumm, doch sprachen aufrecht.
    Wir waren ein Kelch, doch tränengefüllt.
    Wir waren die Erde, doch versteinert vor Angst.
    Wir waren Gestein, doch schreiend vor Schmerz,
    tapfere Heerführer, doch ohne Soldaten,
    ergeben dem Kult von Ruinen und Altem.

    Was aber waren wir
    und unser Land,
    dass wir, wenngleich krumm sitzend, aufrecht sprechen?
    Reisende in der eigenen Heimat?
    Gäste im eigenen Haus?
    Ein Fluss, von dem wir nur ein Ufer sehen?
    Ein Berg, weithin sichtbar?
    Volk ohne Erde,
    Erde ohne Volk.
    Zerrissene Halskette,
    deren Glieder sich nicht zum Volk reihen.


    Die Eingangshalle der Mittelschule Nummer 8 in Stepanakert. Es ist Pause. Erstklässler laufen nach draußen. An der Wand gegenüber der Schultuer hängt eine große Fahne. Sie ist quergestreift, rot-blau-gelb, wie die armenische, doch eine weiße Zickzacklinie durchläuft das Banner und trennt die Fahne wie bei einem Puzzle in einen großen und einen kleinen Teil. Es ist die Fahne von Berg-Karabach.

    Stepanakert ist die Hauptstadt von Berg-Karabach. Die armenische Enklave liegt in Aserbaidschan - und sie ist eigentlich gar keine Enklave mehr, denn armenische Truppen haben einen Korridor zum Mutterland Armenien freigekämpft. Außerdem halten sie seit Ende des Karabachkrieges Anfang der 90er Jahre einen breiten Gürtel angrenzender aserbaidschanischer Gebiete um Karabach herum besetzt.

    Die Pause ist zu Ende, und die Klasse 10b hat Armenischunterricht. Ratlos steht die Direktorin auf dem Korridor. Das Klassenzimmer ist von innen verriegelt, die Klinke fehlt.

    Schließlich öffnet eine Schülerin. Die Tür schließe nicht richtig, deshalb hätten sie den Schlüssel umgedreht. Ein Mädchen tritt nach vorn. Tatevik ist 15 Jahre alt, hat ihre braunen Haare hochgesteckt, ondulierte Locken wippen über dem Nacken. Tatevik geht zu einer Wandzeitung, die neben der Tafel hängt. Grünstichige Fotos eines kleinen Jungen sind da zu sehen, derselbe Junge Jahre später in Uniform, handgeschriebene Gedichte.

    Wir haben diese Tafel einem der Helden gewidmet, die in unserem Krieg umgekommen sind. Wir haben sie für ihn gemacht. Seit zwei Jahren gehen wir außerdem an seinem Geburtstag zu ihm auf den Friedhof, bringen ihm Blumen und gedenken der Helden. In unserer Schule sucht sich jede Klasse einen der Gefallenen aus, die auf diese Schule gegangen sind. Er hatte dieselbe Klassenlehrerin wie wir, deshalb haben wir ihn genommen.

    Der junge Mann hieß David Sarkisian, 24 Jahre ist er alt geworden. Der Konflikt um Berg-Karabach war mit dem Zerfall der Sowjetunion ausgebrochen. Damals forderte die armenische Bevölkerungsmehrheit von Berg-Karabach den Anschluss ihres Gebietes an Armenien. Sie argumentierte, die Enklave Berg-Karabach sei nie Teil eines unabhängigen Aserbaidschan gewesen. Die Aserbaidschaner konterten, Karabach könne nicht zu Armenien gehören, denn es sei nie Teil eines unabhängigen Armenien gewesen. Zwei unvereinbare Positionen. Darüber, wer recht hatte, streiten sich Politiker und Juristen bis heute. Die Armenier von Berg-Karabach, denen traditionell Starrköpfigkeit nachgesagt wird, wählten einen dritten Weg. Um bloß nicht zu Aserbaidschan gehören zu müssen, erklärten sie sich 1991 zum souveränen Staat. Der wird allerdings von niemandem anerkannt - nicht mal von der Regierung Armeniens in Jerewan, die heimlich davon ausgeht, dass Karabach ohnehin schon Teil Armeniens ist. Nach der Unabhängigkeitserklärung von Berg-Karabach versuchte Aserbaidschan, die Region mit Gewalt zurückzuerobern.

    Insgesamt sind 86 ehemalige Schüler der Schule Nr. 8 im Krieg um Berg-Karabach umgekommen, berichtet die Direktorin. Auf dem Korridor im 1. Stock sind die Fotos aller zu einer Galerie arrangiert. Darüber prangt ein Spruch in großen roten Lettern.

    Da steht: "Das Leben für die Heimat, die Seele - Gott, die Ehre mir." Ich habe schreckliche Erinnerungen an den Krieg. Wir hatten ein Haus, und das ist genau vor meinen Augen explodiert. Ich stand nur ein paar Meter davon entfernt. Wenn ich nur ein bisschen dichter dran gewesen wäre, hätte es mich auch zerfetzt. Mein Vater hat sich auf mich geworfen und mich unter einen Laster gezogen. Dadurch haben wir beide überlebt.

    Ihr Kinn zittert. Zwei Jahre dauerte das Töten, etwa 30.000 Menschen kamen ums Leben. 1994 wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Doch aserbaidschanische und armenische Soldaten stehen sich nach wie vor bewaffnet gegenüber, die Bevölkerungsgruppen haben so gut wie keinen Kontakt miteinander, und immer wieder kommt es zu Zwischenfällen. Trotz internationaler Vermittlungen ist es nicht gelungen, Vertrauen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern herzustellen. Die Bevölkerung von Berg-Karabach lebt in der ständigen Angst vor einer möglichen Revanche durch die aserbaidschanische Armee - und in fast vollständiger Isolation.

    Im Zimmer der Direktorin stellen die Schüler Stühle um einen Tisch. Erik und Rschtuni, Valeri und Tigran, Angelika und Tatevik sind 15 und 16 Jahre alt. Im Mai werden sie mit der Schule fertig sein. Die Jungs müssen dann als erstes zur Armee. Die Vorbereitungen dafür beginnen schon viel früher. Von der achten Klasse an bekommen Mädchen und Jungen in Berg-Karabach Wehrkundeunterricht. Sie könnten bereits marschieren, Gewehre auseinander nehmen und wieder zusammensetzen, erzählen die Mädchen.

    Ich hatte erwartet, dass so ein Gewehr leichter ist. Wenn man das sieht, wie andere mit den Waffen herumlaufen, denkt man, die sind so leicht, dass man sie mit einer Hand hochheben kann. Aber mir war ziemlich schnell klar, dass ich beide Hände brauche. Der Unterricht ist interessant, er macht Spaß.

    Zwei Jahre Armee seien schon nicht so schlimm, sagt Tigran, ein schmächtiger Junge in langem Ledermantel. Aber wenn es die Möglichkeit gäbe, würde er lieber Ersatzdienst machen.

    Ich hatte bei dem Unterricht in der 8. Klasse zum ersten Mal ein Gewehr in der Hand. Das war irgendwie wie ein Spiel. Besondere Gefühle hatte ich nicht dabei. Wir hatten vorher einen Film über Waffen gesehen. Im ersten Moment war das dann so, als nehme man ein Buch in die Hand. Ein Buch oder ein Gewehr, das war kein Unterschied. Später haben wir dann begriffen, dass das eine Waffe ist, und dass man damit vorsichtig umgehen muss.

    Ich will Programmierer werden. Ich werde entweder hier studieren oder in Jerewan. Besser wäre Jerewan. Da wird ein breiteres Wissen vermittelt. Hier gibt es nur sehr wenig Fachleute, wenn ich mich mit denen austausche, lerne ich weniger als in Jerewan. Noch lieber würde ich in Russland studieren. Aber das ist zu teuer. Oder man muss sehr gut sein. Aber es gibt jetzt die Möglichkeit, im Internet zu studieren. Ich kenne Leute, die das machen und sich in ihrem Fach wirklich gut auskennen.

    Angelika, ein zierliches Mädchen im Norwegerpullover, legt die Hände unter dem Tisch zusammen:

    Ich möchte eine gute Übersetzerin werden, ich möchte in einer ausländischen Firma arbeiten, ins Ausland reisen, andere Leute kennen lernen, etwas Neues sehen und mein Wissen erweitern.

    Tatevik wirft den Kopf in den Nacken.

    Ich habe einen ganz anderen Traum. Ich wollte von klein auf immer Model werden. Leider gibt es die Chance hier nicht. Deshalb werde ich Lehrerin, für russisch. Ich werde hier studieren.

    Die Enklave Berg-Karabach und auch das Mutterland Armenien orientieren sich am großen Russland. Und Russland übt massiven Einfluss auf die Politik Armeniens aus. Selbst wenn sie die Möglichkeit hätten, im Ausland zu studieren, würden sie anschließend nach Stepanakert zurückkommen, versichern die Schüler übereinstimmend. Es sei wichtig, beim Aufbau der Republik mitzuwirken. Berg-Karabach liegt wirtschaftlich total am Boden. Das liegt vor allem an der Blockade Armeniens durch die Türkei und durch Aserbaidschan. In Berg-Karabach führte sie zum totalen Stillstand. Sowohl die Türkei als auch Aserbaidschan bestehen darauf, dass die Armenier erst die besetzten aserbaidschanischen Gebiete räumen müssen. Aber darauf wollen die Armenier nicht eingehen. Sie sehen in den besetzten Gebieten eine "Pufferzone" für Berg-Karabach, und die sei nötig, um die Bevölkerung vor einem Angriff durch die Aserbaidschaner zu schützen. Ein Abzug der Armee Karabachs aus den umliegenden Gebieten ohne gleichzeitige Sicherheitsgarantien und eine Anerkennung Karabachs durch Aserbaidschan komme nicht in Frage. Tigran fährt sich über sein schmales Gesicht.

    Ich glaube, man kann sein Volk auch mit anderen Mitteln verteidigen. Nicht mit Waffen, sondern mit Verstand. Mit Diplomatie. Ich hoffe, dass unsere künftigen Politiker den Konflikt beilegen. Man muss auch Zugeständnisse machen können. Ich meine damit aber nicht unsere Seite. Die Aserbaidschaner müssen akzeptieren, dass wir zu Armenien gehören. Wir wurden von Armenien praktisch getrennt in den Jahren der Sowjetmacht. Man hat uns abgeschnitten von unseren Verwandten, von unserer Nation. Ich möchte, dass die Aserbaidschaner das begreifen und dass wir uns mit Armenien vereinigen können.

    Die anderen nicken. Der derzeitige Präsident Armeniens, Robert Kotscharian, war zuvor Präsident der Republik Berg-Karabach und gibt sich kompromisslos gegenüber Aserbaidschan. Das kommt gut an. Sein Vorgänger hatte zurücktreten müssen, weil er den Aserbaidschanern einen Abzug der armenischen Truppen ohne entsprechende Sicherheitsvereinbarungen angeboten hatte. Der armenischen Bevölkerung ging dieser Schritt viel zu weit. In beiden Staaten, in Armenien wie in Aserbaidschan, aber auch in Berg-Karabach ist die Meinungsfreiheit eingeschränkt, das Fernsehen wie auch die meisten Zeitungen sind in staatlicher Hand, und die Regierungen nutzen sie, um nationalistische Propaganda und aggressive Parolen zu verbreiten. Über dem Regierungsgebäude von Stepanakert prangt in riesigen Lettern die Parole: "Oh armenisches Volk, deine Kraft liegt in der Geschlossenheit." Tigran erzählt, dass er noch nie einen Aserbaidschaner gesehen habe - nur im Fernsehen. Angeliqua richtet sich auf ihrem Stuhl auf.

    Ich habe in Moskau Aserbaidschaner gesehen. Da leben viele. Das sind ehrliche Leute und ich glaube sehr gütige. Ich selbst habe mit ihnen nicht geredet, aber meine Eltern. Sie haben gesagt, die Aserbaidschaner sind gute Menschen, sehr hilfsbereit und sehr herzlich.

    Selbst diese Erlebnisse können die Feindbilder nicht zerstören. Die Verfolgung der Armenier im Jahr 1915 ist Stoff der achten Klasse. Der Krieg mit Aserbaidschan sei eine Fortsetzung dieses Ereignisses, meinen die Schüler. Erik, ein kräftiger Junge mit Gel in den streichholzlangen Haaren, stützt die Ellbogen auf den Tisch. Er will Politiker werden.

    Die Politik der Aserbaidschaner ist sehr schlecht. Sie sagen: "Wenn es keine Armenier gibt, gibt es keine armenische Frage mehr." Das ist ihr Ziel. Das sagen die Türken, und das sagen auch die Aserbaidschaner.

    Tigran lehnt sich auf seinem Stuhl zurück.

    Es verletzt uns, dass uns niemand anerkennt, und dass damals 1,5 Mio. Menschen oder sogar mehr umgebracht wurden, und keinen hat das gekümmert. Das armenische Volk ist doch ein altes Volk, mit einer ganz alten Kultur, ein heiliges Volk, das erste Volk, das das Christentum übernommen hat, und die Türken haben dieses großartige Volk vernichten wollen, und niemand hat das beachtet.

    Wir sind halbtaub,
    vernehmen zwar rasch jeden neuen Laut,
    können ihm aber nicht genau folgen.
    In unseren Ohren dröhnt noch
    Armeniens wirre Geschichte,
    auf der Suche, zum Wort zu werden.

    Wir sind halb gelähmt.
    Wohin wir den Fuß auch setzen,
    ob in die Wüste Syriens,
    auf einen Pariser Boulevard,
    an das Ufer des Nils, steckt unser zweites Bein noch
    im Schnee des Berges Ararat.
    Wir bewegen uns nicht,
    erreichen kein Ziel.

    Wir sind halbblind.
    Unsere Augen schwimmen in Tränen stets.
    Wir sehen nur trübe,
    ungenau.
    Wir bauten nur mit einer Hand,
    mit der anderen hielten wir die Waffe.
    Denn ohne Unterlass
    tobten Kriege in unserem Land.


    Auf der Marschal Baghramian Strasse in Jerewan rauscht der Verkehr über den neuen Asphalt Richtung Innenstadt. Zebrastreifen sind über die Fahrbahn gemalt, doch die Autofahrer ignorieren sie. Fußgänger hasten mit hektischen Blicken über die Strasse, immer in der Gefahr, von einem Links- oder Rechtsabbieger erfasst zu werden.

    In den vergangenen Jahren wurden in ganz Jerewan die Strassen ausgebessert. Ein armenisch-stämmiger US-Bürger, der Multimilliardär Kirk Kirkorian, Inhaber zweier großer Filmfirmen in Hollywood und Grossaktionär bei Daimler-Chrysler, hat 150 Millionen US-Dollar für die Instandsetzung von Strassen, Theatern und Museen in Armenien gespendet. Kirkorian wird nachgesagt, er habe seine Millionenspende von einem Regierungswechsel in Armenien abhängig gemacht. Offenbar war auch ihm der versöhnliche Kurs Ter Petrosians, des ersten Präsidenten Armeniens, nicht genehm. Armenien hängt am Tropf der Diaspora. Etwa vier bis fünf Millionen Armenier leben im Ausland - mehr als in Armenien selbst. Die meisten sind Nachfahren derjenigen, die Anfang des 20. Jahrhunderts vor der Verfolgung durch die Türken flohen. Sie wollen das Land stärken, das ihre Väter und Großväter einst verlassen mussten.

    An der Marschal Baghramian Strasse liegt die Villa des Armenischen Schriftstellerverbandes. Dessen Vorsitzender, David Muradian, sitzt in einem Büro- im zweiten Stock. Muradian bestellt bei seiner Sekretärin Kaffee und Gebäck. Dann stellt er das Telefon ab und holt ein Buch über Franz Werfel und Armenien hervor.

    Werfels Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" war in der Sowjetunion lange Zeit verboten. Weil das Thema verboten war. Man wollte dem Volk sein Gedächtnis nehmen. 1968 erschien die erste Ausgabe des Romans auf armenisch. Ich war damals 17. Das war ein großes Ereignis. Die Auflage betrug, wenn ich mich recht erinnere, 40.000 Exemplare. In Armenien lebten damals 2,5 Mio. Menschen. Nach wenigen Tagen war das Buch vergriffen.

    Die Armeniersöhne standen bis zur Herzhöhe im Graben. Die aufgeworfene Böschung davor, in deren Schatten die Gewehre auflagen, war unsichtbar gemacht, ebenso die ausgehauenen Sichtlinien im Buschwerk und Knieholz (...). In breiter Schwarmlinie strebten die nichts ahnenden Türken die Höhe empor. (...) Die Türken kamen in dem Gestrüpp nur langsam vorwärts. Der Hauptmann hatte sich eine neue Zigarette angezündet. Plötzlich stutzte er und blieb stehen. Was bedeutete dieser Erdaufwurf dort? Erst nach einige Sekunden durchblitzte es ihn, das ist ein Schuetzengraben. Diese Tatsache aber schien ihm so unglaubwürdig zu sein, dass er noch einmal Zeit verstreichen ließ, eher er aufbrüllte: "Nieder! Deckung suchen!" Zu spät. (...) Die Armenier schossen bedächtig und sicher, einer nach dem anderen, ohne jede Erregung. Sie hatten Zeit zum Zielen. Jeder wusste, dass keine einzige Patrone verschwendet werden dürfe. Da ihre Opfer nur wenige Schritte von ihnen entfernt in völliger Betäubung erstarrt waren, ging auch keine einziger Schuss verloren. Der dicke Hauptmann mit dem gutmütigen Gesicht brüllte noch einige Mal: "Nieder! Decken!" Dann schaute er unendlich erstaunt zum Himmel auf und setzte sich hin. Die Brille fiel ihm von der Nase, ehe er zur Seite sank. Jäh löste sich der Bann von den türkischen Soldaten. Sie flüchteten, wild schreiend, in den Sattel hinab, viele Tote und Verwundete zurücklassend, darunter den Hauptmann, einen Zugsoffizier und drei Onbaschis.

    Werfels Roman war deshalb wichtig, weil er den Widerstand des Volkes gegen das Böse zeigte. Das meiste, was bis dahin über den Genozid geschrieben worden war, schilderte die Tragödie. Werfel dagegen beschrieb den Widerstand. Das war sehr wichtig für unsere Würde.

    Mit der Würde der Türken nahm es Werfel dagegen nicht so genau. Dabei hatte er sich bei der Durchsicht seines ersten Manuskripts 1933 an den Rand geschrieben: "Nicht gegen Türken polemisieren." Muradian kramt in der Schreibtischschublade. Im Sommer 2000 reiste er mit dem "Literaturexpress" durch Europa. Schriftsteller aus 43 Ländern lasen gemeinsam in verschiedenen Städten, diskutierten. Muradian hat seine Eindrücke anschließend in einem Reisetagebuch festgehalten, ein schmales Bändchen, "Europa auf Schienen" heißt es. Er fährt sich über die Knie, beugt sich vor, versenkt sich in den Text.

    Der Berg Ararat ist mein Alltag. Ich sehe ihn so häufig, dass ich ihn manchmal unverschämterweise nicht wahrnehme. Aber meist zieht er mich in seinen Bann. Wo ich auch gehetzt unterwegs bin, beherrsche ich für einige Minuten meinen Gang und schaue ihn wie verzaubert an. Seine Gestalt verursacht ein leichtes Schwindelgefühl oder man wird augenblicklich sehr ernst, besonders, wenn er sich in voller Größe zeigt.

    An Wintermorgen kann sein Blick streng sein und trüb, erinnert so an das Strafgericht Gottes, eben die Sintflut, vor der sich nur sein geheimnisvoller Gipfel retten konnte. Im Herbst, beim Sonnenuntergang, im halb geschmolzenen Gold des Himmels, kann er dir Größe einflössen, im Frühling maßlos werden, kaum den Boden berührend deine Seele packen und sie mitnehmen nach oben. Genau zur Mitte der Sommerzeit gebiert er unter der schweren Sonne die Illusion der Kühle, und in allen Jahreszeiten tröstet er uns und gibt uns Kraft, indem er sagt: "Hier bin ich, euer Fluchtpunkt, die Arche lehnte sich an meine Schulter an, Noah ist zusammen mit seinen Söhnen über meine Hänge hinuntergegangen, das Leben kehrte durch sie in die Welt zurück und breitete sich aus."

    An den Felsen Portugals, die den Schlussstrich Europas bilden, dachte ich an den Ararat und fühlte mich irgendwie durch meine armenische Selbstbezogenheit unwohl, aber ich fragte mich auch:

    Bin ich dadurch, dass ich an den Ararat denke, ausschließlich ein Armenier? Ist er nicht der Ausgangspunkt von uns allen? Vereinen die Lehren der allgemeinen Katastrophe, eben die Erinnerung an die Arche, nicht uns alle, auch wenn dieser Berg seit Anbeginn anbetungswürdiger Teil des armenischen Bewusstseins ist?


    Muradian legt das Büchlein zur Seite. Es sei keineswegs so, dass die Verfolgung der Armenier durch die Türken die armenische Literatur beherrsche. Aber die Folgen davon, die ständige Suche nach der eigenen nationalen Identität, gepaart mit dem Bestreben, Weltbürger zu sein, prägten die Armenier und ihre Literatur bis heute. Muradian lehnt sich zurück.

    Die Geschichte hat dazu geführt, dass wir über die ganze Welt verteilt leben. Wir finden uns relativ leicht in anderen Kulturen zurecht. Aber gleichzeitig halten wir mit aller Kraft an etwas fest, das... wie soll ich sagen, das ist wie bei einem Briefumschlag, auf dem die Rückaddresse drauf steht. Kommunikation mit der Welt ist nicht möglich ohne Absender.

    Jeder Mensch muss zuerst sein Ich erkennen. Genauso ein Volk. Wenn der Mensch seinen Namen begreift, den Namen seiner Eltern, seiner Grosseltern, des Ortes, an dem er lebt, dann entsteht in ihm vielleicht der Wunsch, in sein Ich alles Gute aufzunehmen, was in der Welt existiert. Das ist ein wechselseitiger Prozess. Aber es ist nun mal so, dass ich 24 Stunden am Tag Armenier bin. Ich kann da nichts für, ich wurde so geboren.


    Wir sind halbstumm.
    Wie oft schnitt man uns
    die Zunge ab,
    damit wir unsere Gedanken nicht aussprechen?
    Uns nicht freuen,
    nicht selbstbewusst sind
    und unsere zahllosen Opfer nicht beklagen?

    Nur mit halbem Hirn
    begreifen wir die Welt.
    Die andere Hälfte ist getrübt
    von Verdammnis,
    von Schmerzen.
    Wir sind Hälften,
    halb sind wir nur.


    Studenten stehen auf dem Bürgersteig vor dem Konservatorium in Jerewan. Einer hat seinen Kontrabass geschultert, ein anderer trägt einen Geigenkasten unterm Arm. Männer mit dunklen Sonnenbrillen sitzen in einem Park und trinken Kaffee. Auf ein Reklameschild ist ein Hakenkreuz gesprüht, "no turks", "keine Türken", steht daneben und in Runen "SS".

    Eine Frau kommt mit kleinen Schritten die Strasse herunter. Ihr volles schwarz-graues Haar weht im Wind. Sie trägt Halbschuhe und einen langen dunklen Rock.

    Anahit Bayandour ist Übersetzerin für russische Literatur, und sie ist Vorsitzende der armenischen Gruppe der Helsinki Citizens Assambly, einer europaweiten Bürger- und Menschenrechtsorganisation. Seit Jahren bemüht sie sich um Verständigung zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Dafür erhielt sie 1992 gemeinsam mit ihrer aserbaidschanischen Kollegin den Olof-Palme-Friedenspreis. Sie wartet eine Lücke im Verkehr ab und eilt über die Strasse zum Opernplatz. Auch die Oper wurde mit Geldern des Multimilliardärs Kirkorian restauriert. Die Rückwand ist noch immer eingerüstet, der Platz aufgerissen.

    Ich habe nicht den Eindruck, dass sich unser Leben in den letzten Jahren gebessert hat. Gut, überall wurden die Strassen neu gemacht, aber das sind nur Äußerlichkeiten.

    Anahit Bayandour biegt in eine Seitenstrasse ein. Sie will die Bilder ihres kürzlich verstorbenen Bruders zeigen. Er war Maler. Die Werke lagern in einer Galerie. Vor der Tür döst ein Hund in der Sonne.

    Die Galeristin heißt auch Anahit. Die beiden umarmen sich zur Begrüßung. Beide Frauen waren von 1990 bis 1992 Abgeordnete im ersten Parlament des unabhängigen Armenien. Viele armenische Künstler und Intellektuelle waren nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion in die Politik gegangen. Dann begann der Krieg mit Aserbaidschan.

    Als ich das erste mal in Baku, in Aserbaidschan, war, da war der Krieg gerade auf dem Höhepunkt. Ich habe gesehen, dass sie im aserbaidschanischen Fernsehen genau das gleiche sagen wie hier: Der Feind hat sehr hohe Verluste, wir haben keine... Das ist abstoßende, pseudo-patriotische Propaganda. Und da habe ich begriffen, dass ich alles liegen lassen und mich nur noch damit beschäftigen muss.

    Anahit Bayandour streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Für den damaligen Präsidenten, Ter Petrosian, schwärmt sie noch heute. Anders als der jetzige Präsident habe er den Mut zum Dialog aufgebracht. Ein Friedensvertrag mit Aserbaidschan sei überfällig. Und das armenische Militär hätte sich längst aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten zurückziehen müssen. Dass Ter Petrosian damit scheiterte, ist in Bayandours Augen eine Katastrophe.

    In Regalen lagern handbemalte Keramikvasen, Tonfiguren, Kerzenständer, Schatullen - Kunsthandwerk. Anahit Bayandour rückt einen Stapel Leinwände von der Wand ab, Werke ihres Bruders. Eins reicht fast bis zur Decke. Verse ihrer Mutter sind darauf gemalt, der Dichterin Maro Markarian. Steile armenische Buchstaben auf grünem Grund.

    Diese Verse hat sie kurz vor ihrem Tod geschrieben.

    Es geht darum, dass wir immer auf das Gute hoffen, aber überall auf Schlechtes stoßen.

    Mir tut es sehr leid um unser Volk, denn wir haben keine anderen Reichtümer, als unseren Intellekt. Aber dieser geistige Reichtum muss sich irgendwo ernähren. Kunst darf nicht eingeschlossen sein, Wissenschaft erst recht nicht. Kunst muss sich austauschen mit anderer Kunst. Und ein Künstler muss sich entwickeln. Er muss sehen, wie Künstler in anderen Städten oder Ländern arbeiten. Künstler müssen kommunizieren, das ist unabdingbar. Musiker müssen andere Musiker hören. Aber die Menschen, die hier leben, sind eingeschlossen in dieser Stadt, in diesem Land.

    Auch deshalb setzt sich Anahit Bayandour für eine Aussöhnung mit der Türkei ein, versucht, Vorurteile und Feindbilder abzubauen. Im Sommer 2002 reiste Bayandour zum ersten Mal mit einer armenischen Delegation nach Istanbul. Türken und Armenier diskutierten dort über die Vorteile einer Grenzöffnung, über Perspektiven für den Handel, über Unterschiede in der Mentalität der Völker, über die Rolle der Presse in dem Dauerkonflikt. Ein türkischer Chor sang Lieder auf armenisch.

    Das Thema Genozid wird oft zu eigenen Zwecken benutzt. Und man kann viel damit kaputtmachen. Deshalb habe ich die Teilnehmer der Reise damals sehr sorgfältig ausgesucht. Es sollte nichts Unvorhergesehenes passieren, keine Exzesse, keiner sollte sich taktlos verhalten. Wir hatten beschlossen, überhaupt nicht über den Genozid zu sprechen, und wenn, dann ganz zum Schluss. Wir wollten uns zunächst mal kennen lernen. Und wir haben dann geredet, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen.

    Bayandour plant ein Folgetreffen. Auch türkische und armenische Unternehmer setzen sich mittlerweile dafür ein, dass die Grenze geöffnet wird. Wenn auch aus rein wirtschaftlichem Kalkül. Denn nach Ansicht des armenischen Unternehmerverbandes entgehen der armenischen Wirtschaft jedes Jahr mehr als 500 Millionen Euro, weil Armenien seine Waren nicht direkt in die Türkei exportieren kann. Die Unternehmer weisen jedoch, wie fast alle Armenier, den schwarzen Peter allein den Türken zu und verlangen, dass die Türkei sich zuerst für die Massaker von 1915 entschuldige. Ihre eigenen Fehler - die im Karabachkrieg - wollen sie nicht wahrhaben. Nicht so Anahit Bayandour. Natürlich wünsche auch sie sich, dass die Türkei den Genozid anerkenne. Aber mit Druck, so sagt sie, erreiche man gar nichts.

    Wenn die Türken den Genozid anerkennen, befreien sie sich von einem sehr großen Komplex. Und das müssen auch wir tun. Wir sind alle wie hypnotisiert, konzentriert nur auf dieses eine Thema. Das geht aber nicht, dass dieses Thema uns alle Zeit trennt und uns negativ beeinflusst. Es gibt heute zu viele Leute, die sich als Patrioten ausgeben. Ich glaube, die wirklichen Patrioten sind die, die einen Ausweg aus diesem veralteten Konflikt und aus dieser schweren Geschichte suchen. Man kann nicht leben, wenn man immer zurückblickt. Man kann nicht in die Zukunft blicken, wenn man sich immer auf die Vergangenheit stützt, das schadet, das ist ein kranker Zustand. Es ist gefährlich, sich da reinzuversenken, das ist nicht rational und der falsche Weg. Wir versäumen dadurch Dinge, die für uns wichtig sind, wir verhalten uns nicht zeitgemäß.

    Armenien müsse sich zu Gesten entschließen, zu großen Gesten, dann werde auch die andere Seite gezwungen sein, mit großen Gesten zu antworten. Die Chance dazu sei jetzt da.

    Die Türkei hat ein großes Interesse, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Das ist, denke ich, auch in unserem Interesse. Denn natürlich ist es für Armenien besser, wenn die Türkei ein weltlicher Staat ist und nicht in die Richtung islamistischer Fundamentalisten treibt. Vor einem Jahr ist der geistige Führer der Armenier in der Türkei, nach Brüssel und Straßburg gefahren und hat dort völlig unerwartet Lobby für die Türkei gemacht, damit die Türkei in die EU aufgenommen wird. Das war ein starker Schritt, ein mutiger Schritt.

    Und davon müsse es mehr geben, so Bayandour. Bisher aber dominierten in Armenien populistische, nationalistische und antitürkische Parolen nach dem Motto: Wenn etwas gut für die Türkei ist, sind wir dagegen.

    Anahit Bayandour schiebt die Leinwand wieder in die Ecke und lächelt. Ihre Eltern stammen aus Georgien, dort wurden die Armenier damals nicht verfolgt. Doch häufig kamen Besucher aus dem Ausland in das Haus der Dichterin, Armenier, die die Gräueltaten des Jahres 1915 wie durch ein Wunder überlebt hatten. Bayandour hörte als Kind ihre Erzählungen, auch die eines alten Mannes, der nur deshalb überlebte, weil er sich unter toten Körpern verbarg.

    Wir kennen unsere Geschichte sehr gut. Aber für mich persönlich macht sie die jetzt dort lebenden Türken nicht zu meinen Feinden, auf gar keinen Fall. Ich war auch niemals im Genozidmuseum. Ich weiß alles, was ich wissen muss. Ich mag diese Museen nicht, ich mag es nicht, Trauer und Leid vergegenständlicht anzuschauen. Das Leid ist viel stärker und höher, wenn es im Bewusstsein angelegt ist. Vielleicht muss man neue Formen finden, um Tragödien in Erinnerung zu rufen. Und man muss einen verallgemeinernden Ausweg zeigen, irgendeine positive Perspektive.

    Die Genozid-Gedenkstätte liegt auf dem "Schwalbenhügel" in Jerewan. Astrik Jedigarian und Jeranui Markarian steigen die Betontreppen hinauf. Ein paar Stufen noch, dann eröffnet sich eine weite Betonfläche vor den beiden Frauen. Ein 44 Meter hoher Dorn aus Granit sticht in den blauen Himmel. Mächtige Steinplatten bilden einen Kreis, neigen sich nach innen. Der Kreis symbolisiert das an die Türkei verlorene Westarmenien, die Spitze hingegen den zum Leben strebenden, kleineren östlichen Teil, die heutige Republik Armenien, erläutert die ältere der beiden Frauen, Astrik Jedigarian. Ein kalter Wind bläst über das Plateau. Jedigarian schlägt den Kragen ihrer Jacke hoch.

    Wir müssen gedenken, damit sich das nicht wiederholt, hier nicht und nirgendwo anders.

    Die beiden Frauen führen Besucher durch die Gedenkstätte. Die jüngere zeigt in Richtung Süden. Die Häuser von Jerewan verschwimmen in der Ferne zu einem matten Grau. Die Sonne scheint genau über dem weißen Gipfel des Ararat in der Türkei.

    Jeder Armenier, der aus anderen Ländern hier herkommt und die Gedenkstätte besichtigt, soll von hier aus den Ararat sehen. Als armenische Patriotin, werde ich immer dafür eintreten, dass der Ararat Armenien zurückgegeben wird.

    Markarian ist dreißig Jahre alt. Sie stammt aus Jerewan, wie ihre ganze Familie. Vorfahren im heute türkischen Westarmenien hatte sie nicht.

    Ein paar Stufen führen zwischen den Steinplatten in das Innere des Kreises. Gas zischt. Eine ewige Flamme brennt.

    Die Musik spielt den ganzen Tag. Das Genozid-Mahnmal in Jerewan stammt aus Sowjetzeiten. 1965, zum 50. Jahrestag der Massakers, hatten tausende Armenier für das Recht auf Gedenken demonstriert. Bis dahin war es verboten gewesen, diesen Teil der armenischen Geschichte zu thematisieren. Es galt unter Stalin als Nationalismus, und der wurde verfolgt. Zwei Jahre nach den Demonstrationen, 1967, wurde die Gedenkstätte errichtet. 1995 kam noch ein Museum hinzu.

    Im Hauptsaal zeigen große Schwarz-Weiß-Fotos Szenen aus dem Jahr 1915: Abgeschnittene gestapelte Männerköpfe, nackte Körper, die an den Füssen von einer Brücke hängen, die Arme weit ausgebreitet, eine nackte ausgemergelte Frau mit Kind. Sie sitzt auf dem Boden, hat die Beine von sich gestreckt, hält die Hand ausgestreckt dem Fotografen entgegen. Das Kind lächelt aus hohlen Augen in die Kamera. Astrik Jedigarian presst die schmalen Lippen aufeinander.

    Der Genozid war in allen Einzelheiten durchdacht und wurde absolut wissentlich umgesetzt. Die Armenier waren das aktivste und progressivste Volk im osmanischen Reich. Aber zugleich hatten sie nicht alle bürgerlichen Rechte, und immer drohten blutige Pogrome. Der einzige Ausweg aus dieser Situation war eine gewisse Autonomie. Das ging in die Geschichte ein als "armenische Frage". Und 1915 beschloss die türkische Regierung, diese "armenische Frage" abschließend zu lösen, nach der Devise: Wenn es keine Armenier mehr gibt, gibt es auch keine armenische Frage mehr.

    Hier liegt der Schlüssel in der Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Armenien. Die Türkei ist der Ansicht, die Massaker seien nicht zentral angeordnet worden; allenfalls habe es sich um Einzelaktionen gehandelt. Die damalige Regierung habe davon nichts gewusst. Außerdem sei Krieg gewesen, und die Armenier hätten sich auf die Seite der Russen gestellt, die im Ersten Weltkrieg gegen die Türken kämpften.

    Das sind alles Geschichtsfälschungen und Lügen. Die Türken sagen, es gab keinen Genozid. Gleichzeitig sagen sie, der Genozid war begründet. Das ist nicht logisch.

    Jedigarian verzieht das Gesicht zu einem verbitterten Lächeln.

    Eine Gruppe Rentner betritt das Museum. Ein kleiner Mann mit einer viel zu großen Anzughose, eine Frau in dicker Wollstrickjacke, eine andere in einem bunten langen Rock. Sie tragen Handtaschen, die Männer abgegriffene Stoffbeutel. Es ist eine organisierte Führung für Bedürftige und Alleinstehende.

    Der Genozid ist irgendwo im Bewusstsein jedes Armeniers, womit auch immer er sich beschäftigt. Zumindest im Unterbewusstsein. So was nennt man wohl genetische Erinnerung. Das heißt nicht, dass wir alle geisteskrank sind. Aber es geht um ein riesiges Verbrechen, das begangen wurde, und für dieses Verbrechen gibt es keine Vergeltung. Wir Armenier sind ganz normal, wir lernen, wir arbeiten, wir können uns mit ganz anderen Bereichen beschäftigen, auch erfolgreich - aber eine gewissen Besonderheit bleibt.